Jürgen Klopp begeistert uns nicht nur mit der Art, wie er seine Teams Fußball spielen lässt, er begeistert uns vor allem als Typ. Denn wer von uns hätte nicht gerne mal einen wie ihn als Trainer erlebt?
Vor einigen Tagen ist in England ein Artikel erschienen, auf der Plattform „joe.co.uk“, geschrieben von Melissa Reddy. Reddy berichtet für verschiedene Medien über den FC Liverpool, sie begleitet den Klub so eng wie kaum jemand sonst. Regelmäßig spricht sie mit Spielern, mit Mitarbeitern, mit Fans, mit Jürgen Klopp. Und um Jürgen Klopp ging es auch in ihrem Artikel, der auf der Insel hohe Wellen schlug. Weil Reddy ein Bild von Klopp zeichnete, welches sich nicht so richtig mit dem decken wollte, was viele von uns bisher vom deutschen Trainer hatten.
Das gängige Bild, auch hier bei uns, sieht ungefähr so aus: Klopp kann Spaß. Besonders gut auf Pressekonferenzen. Klopp kann motivieren. Besonders vor Spielen gegen große Gegner. Klopp kann auch das Umfeld begeistern. Vor allem an emotionalen Standorten wie Dortmund oder Liverpool. Außerdem kann Klopp Understatement. Besonders, wenn es für ihn selber grade gut läuft. Und, Klopp kann Lächeln wie ein Gewinner. Besonders breit, wenn er sein Lächeln in Werbungen auf Knopfdruck anknipsen soll.
Ruhe, Empathie, Zutrauen
Wenn man dieses Bild fies interpretiert – so wie es einige deutsche Fans gerne tun, die der öffentlichen Figur Jürgen Klopp überdrüssig geworden sind – entsteht ein wenig schmeichelhaftes Urteil: Klopp liebt es, im Mittelpunkt zu stehen. Klopp hat seine Emotionen nicht im Griff. Klopp ist nicht demütig genug. Doch dieses Urteil stellt man zwangsläufig in Frage, wenn man ließt, was Reddy schreibt.
Denn diejenigen, die jeden Tag von Klopp angeleitet werden, zeichnen ein wesentlich facettenreicheres Klopp-Bild. Was vor allem an drei Punkten liegt, um die sie seinen Charakter ergänzen: seine Ruhe, seine Empathie und sein tiefes Zutrauen in die Fähigkeiten der anderen.
So wird aus dem wilden Kerl, der zähnefletschend auf Schiedsrichter zustürmt (der Klopp ja nachweislich sein kann), der Ruhepol im Klub, der Rettungsring, an dem sich andere zur Not festklammern können. „Das beste an ihm ist sein beruhigender Einfluss“, sagt beispielsweise Andy Robertson. Der Linksverteidiger also, der vor wenigen Jahren noch in der vierten schottischen Liga spielte und für seinen damaligen Klub auf der Geschäftsstelle Tickets verkaufte – und der wohl mit am meisten Gründe hätte, vor Champions-League-Spielen gegen Manchester City aufgeregt zu sein.
„Leute: Das ist ein Fußballtransfer“
Wie Klopp seine Spieler beruhigt? In dem er im besten Fall erst gar kein Fass aufmacht. Als Sadio Mané Anfang der Saison nach einer Sperre und einer Verletzung eher durchschnittlich und überhastet statt wie sonst überzeugend und effektiv spielte, machte Klopp: nichts. Kein Einzelgespräch, keine Videoanalyse, kein Denkzettel in Form einer Auszeit auf der Bank. Dafür hier mal ein Lächeln im Training, da mal ein Klaps auf die Schulter nach dem Mittagessen, dort mal ein „mach dir keinen Kopf, ich bin zufrieden“. In dem Klopp selbst Ruhe ausstrahlte, fand Mané Ruhe auf dem Platz. Seine Aktionen wurden wieder schnörkellos, er traf wieder ins Tor. Im allgemeinen Salah-Trubel ging es zwar etwas unter, aber: In den entscheidenen Spielen zum Ende der Saison spielte auch Mané wie ein Außerirdischer.
Doch nicht nur die Spieler beruhigt Klopp, auch seine engsten Mitarbeiter rettet er vor schlaflosen Nächten. Als viele im Verein, unter anderem Mit-Eigentümer Mike Gordon, die Angst umtrieb, das Transfer-Hick-Hack um Philipe Coutinho könnte die so gut laufende Saison versauen, sagte Klopp nur: „Leute: Das ist ein Fußballtransfer. Nicht mehr, nicht weniger.“ Am Ende ging Coutinho fast geräuschlos für 120 Millionen Euro nach Barcelona, die Liverpooler Mannschaft wurde dafür mit Virgil van Dijk defensiv verstärkt und spielte fortan noch besser.
Im Wirbel um Coutinho, der ja bereits im Sommer begonnen hatte (als Barcelona die so unverhofft eingenommenen Neymar-Millionen unbedingt sofort wieder verpulvern wollte, Liverpool Coutinho aber noch nicht ziehen ließ), zeigte Klopp außerdem sein enormes Einfühlungsvermögen. Denn, auch wenn das bei einem 25-jährigen Multimillionär, der für einen der größten Klubs der Welt spielt, für viele von uns unvorstellbar wirkt: Coutinho litt (anscheinend) wirklich.
Der FC Barcelona war sein großer Traum, darüber hinaus wünschte sich auch seine Familie nach all den Jahren in England etwas weniger Regen und etwas mehr Sonne. Kurzum: Coutinho wollte weg. Und Klopp konnte nur schwer mit ansehen, wie der Spieler, der innerhalb der Truppe nicht nur respektiert, sondern tatsächlich geliebt wurde, jeden Tag mit den Mundwinkeln nach unten übers Trainingsgelände lief.
„Du willst für ihn dein Bestes geben“
Also verteidigte Klopp seinen Schützling öffentlich, selbst als der Brasilianer auf die falschen Berater hörte und sich von seinem Umfeld Respektlosigkeiten einreden ließ. So plagten ihn plötzlich Rückenbeschwerden, wegen denen er nicht spielen „konnte“, als er dann bei der brasilianischen Nationalelf weilte, erklärte deren Doc, es handele sich lediglich um Rückenschmerzen „emotionaler“ Natur. Klopp ließ die Öffentlichkeit über diesen etwas lächerlichen Zug lachen, doch nach außen hielt er schützend die Hand über seinen Spielmacher. Weil er, so absurd Coutinhos Gehabe auch gewesen sein mag, dessen Gründe nachvollziehen konnte. Und so auch seinen anderen Spielern vermittelte, dass er immer versuchen würde, ihre Entscheidungen zu verstehen. Weshalb sich die Spieler tatsächlich für Klopp zerreißen.
„Seine Persönlichkeit ist so großartig, wenn du ihn an der Seitenlinie stehen siehst, willst du für ihn rennen. Du willst für ihn in Zweikämpfe gehen, du willst für ihn dein Bestes geben.“ Auch das sagte Andy Robertson. Marco Reus erklärte die Hingabe der Mannschaft zum Coach dem „Guardian“ gegenüber noch etwas simpler: „Klopp macht die Spieler glücklich.“ Joel Matip, unter Klopp zu einem wirklich guten Innenverteidiger gereift, sagt, Klopp habe eine besondere Aura.
Immer der erste auf der Tanzfläche
Eine Aura, die dafür sorgt, dass Fernsehteams oft versuchen, sie einzufangen. So dass die Kameras oft auf ihn gerichtet sind. Auf ihn alleine. Und, auch das ist sicher wahr: Unwohl fühlt sich Klopp in dieser Rolle nicht. Trotzdem erzählen Liverpool-Mitarbeiter immer wieder, nicht nur in dem Artikel von Reddy, diese Geschichte: Auf Klubfeiern sei Klopp zwar stets der erste auf der Tanzfläche, es sei ihm nicht unangenehm, wenn ihn alle anstarrten. Aber, wenn sich die Tanzfläche erstmal gefüllt habe, wenn alle anderen ausgelassen feierten, dann zöge sich der Chef lieber zurück. Dann würde er sich an einen Tisch setzen und vor Freude strahlend dabei zusehen, wie die anderen tanzten.
Was zu der Erzählung passt, dass Klopp vor allem daraus Genugtuung zieht, anderen Menschen zum Erfolg zu verhelfen. Als der deutsche Trainer frisch in Liverpool ankam und das Team hinter dem Team kennenlernen sollte, waren alle auf der Geschäftsstelle darauf vorbereitet, von Klopp jetzt ein paar Ansagen zu hören. Dass er ihnen erklären würde, was ihm wichtig sei, worauf er achten wolle und wie genau der Wind jetzt wehen würde in Melwood.
Doch Klopp redete nicht, er hörte zu. Er ließ sich genau erklären, wie die Dinge im Klub laufen würden, wer für was zuständig sei und wer was gut könne. Und dann schenkte er den Leuten sein Vertrauen. So, wie er seinen Spielern auf dem Platz das Vertrauen schenkt. Sei es dem No-Name-Außenverteidiger Robertson, den er aus Hull holte und den er auch auch gegen Manchester City spielen lässt, sei es Roberto Firmino, den er innerhalb von zwei Jahren zu einem der spektakulärsten Halbstürmer der Welt formte.
Klopps Liebe zu seinem Team ist echt
Kürzlich veröffentlichte der FC Liverpool ein Video, in dem der Trainer über jeden seiner Spieler ein paar Sätze sagen sollte. Logischerweise kein Anlass, bei dem Klopp die Schwächen der Jungs ausschlachtete. Trotzdem hatten seine Antworten nur wenig mit den Plattitüden gemein, die man etwa aus den „Super-super-Spieler“-Aussagen von Pep Guardiola stets herauszuhören meint.
Denn wenn einer unserer Trainer nur ein einziges Mal so über uns gesprochen hätte, wie Klopp über seine Spieler spricht, mit diesem Mix aus väterlichem Stolz, Dankbarkeit für das Geleistete und tiefem Zutrauen in zukünftige Taten, vielleicht wäre ja doch mehr drin gewesen als ein dritter Platz beim Torwandschießen der Kleingartenkolonie Britz-Süd. Und genau dieses Gefühl ist es, das selbst in den entlegensten Winkeln der Welt ankommt: Klopps Liebe zu seinem Team ist echt.
Es fühlt sich richtig an
Was der ganzen, ohnehin schon mit Folklore aufgeladenen Klopp-in-Liverpool-Story eine ganz neue Dimension gibt. Nicht nur, dass da ein neuer Trainer (zum zweiten Mal) bei einem gigantischen Traditionsklub einreitet, diesen wach küsst, nebenbei die Medien unterhält, mit perfekt getimten Pointen das komplette Umfeld elektrisiert und darüber hinaus (zumindest in diesem Jahr und zumindest international) den wohl aufregendsten Fußball Europas spielen lässt, nein: Das Märchen wirkt noch nicht mal kitschig. Es fühlt sich schlicht richtig an.
Was der Grund dafür ist, warum so viele Menschen Klopp – dessen Finalbilanz der vergangenen Jahre katastrophal schlecht ist – endlich den ganz großen Triumph gönnen. Schließlich hätten sich die allermeisten auf der Welt gerne mal selber auf dem Platz für einen Trainer wie ihn zerrissen.