Nur noch zweieinhalb Jahre bis zur WM 2022. Höchste Zeit, den großen Geheim-Favoriten auf den Titel vorzustellen: Norwegen. Echt jetzt!
Es geht alles so gnadenlos schnell im heutigen Fußball. Während Traditionalisten und Menschenrechtsorganisationen noch immer hitzig über die Vergabe der WM 2022 nach Katar debattieren und das Teilnehmerfeld nicht einmal ansatzweise feststeht, werden im Internet bereits Wetten auf den möglichen Titelträger angeboten. Die vorderen Plätze in der Hitliste der Favoriten gehören den üblichen Verdächtigen: Brasilien, Frankreich, Deutschland, Spanien, England. Doch wer auf Platzhirsche setzt, kann quotentechnisch keine große Beute machen. Warum nicht mal was riskieren und auf eine Nation wetten, die bislang erst dreimal bei einer Weltmeisterschaft antrat und nie über das Achtelfinale hinauskam? Wer heute einen Hunderter auf Norwegen setzt, kann sich Ende 2022 vielleicht einen nagelneuen VW-Polo kaufen – oder einen Opel-Corsa. Egal.
Norwegen, na klar. Könnte man sarkastisch anmerken und sich wieder der Realität zuwenden. Oder man wirft mal einen genaueren Blick ins Land der Fjorde, der Strickpullis und der asthmakranken Skilangläufer. Neben Dortmunds „Jahrtausend-Stürmer“ Erling Haaland (19) entdeckt man dort noch andere hochspannende Namen mit teils gewaltigem Entwicklungspotenzial: den eleganten Mittelfeldorganisator Martin Ödegaard (21, Real Sociedad/ausgeliehen von Real Madrid), den unerbittlichen „Sechser“ Sander Berge (22, Sheffield United), den brandgefährlichen Mittelstürmer Alexander Sörloth (24, Trabzonspor), den baumlangen Verteidiger Kristoffer Ajer (22, Celtic Glasgow) oder den Offensiv-Allrounder Joshua King (28, AFC Bournemouth).
Was sich in Norwegen gerade zusammenfügt, ist nicht etwa eine „goldene Generation“ von Gottes Gnaden, wie sie alle 30 Jahre mal vorkommt, sondern das Resultat einer groß angelegten Nachwuchs-Offensive, die weltweit ihresgleichen sucht: Überall im Land schossen zuletzt beheizte Kunstrasenplätze und Fußballhallen mit Freiluft-Spielfeldmaßen aus dem Boden. Mit dieser Infrastruktur-Initiative will man trotz der widrigen Witterungsverhältnisse eine gewisse Spielkultur fördern.
Überhaupt ist dem reichen Öl- und Gasland kein Aufwand zu groß, wenn es um Fußball geht: Zwischen Kristiansand im Süden und Hammerfest im Norden werden selbst U14-Teams bis zu 2.000 Kilometer weit in Privatjets durch die Lande geflogen, damit sie Jugendspiele auf nationalem (und möglichst hohem) Niveau bestreiten können. Herausragende Talente dürfen während der Wintermonate schon mal in einer spanischen Privat-Akademie trainieren – die Teilnahmegebühr von bis zu 30.000 Euro trägt der nationale Verband NFF. Mögen die Kosten für derlei Maßnahmen auch gigantisch sein und die CO2-Bilanz eher fragwürdig, so kann sich der Erfolg doch sehen lassen.
Zuletzt qualifizierten sich die Norweger beispielsweise für die U20-Weltmeisterschaft 2019 in Polen – ganz im Gegensatz zur deutschen Auswahl. Auch Norwegens A‑Nationalelf, die nur eines ihrer letzten zehn Spiele verlor (1:2 in Spanien), schnuppert an einem großen Ziel: Nach dem dritten Platz in der EM-Qualifikationsgruppe F (u.a. mit Spanien, Schweden und Rumänien) stehen die Schützlinge von Lars Lagerbäck (71) im EM-Playoff-Halbfinale gegen Serbien (Hinspiel am 8. Oktober).