Mit dem FC Ingolstadt hat Tomas Oral heute in der Relegation gute Chancen, in die 2. Bundesliga zurückzukehren. Noch vor einem Jahr scheiterte er dort auf dramatischste Art und Weise. Über einen, der ein Trauma bekämpft.
Dieser Text erschien erstmals im November 2020 in 11FREUNDE #228. Das Heft ist hier bei uns im Shop erhältlich.
Mit dem Abpfiff fingen sie an zu saufen. Anders war es nicht zu ertragen: 96. Minute im Relegationsrückspiel zwischen dem FC Ingolstadt und dem 1. FC Nürnberg. Der Drittligist hatte ein kleines Wunder vollbracht, drei Tore in der zweiten Halbzeit geschossen. Und durfte jetzt keines mehr fangen. Der Aufstieg war zum Greifen nah nach einer turbulenten Saison. Jetzt musste Schiedsrichter Christian Dingert nur noch abpfeifen. Pfeif doch, Mann. Pfeif ab! Abstoß. Einwurf. Noch ein Einwurf.
Drei Monate später, der Herbst hat gerade begonnen, sitzt Tomas Oral, der Trainer, im schwarzen Rollkragenpullover inmitten des Vereinsbistros und hat keine Kopfschmerzen mehr. „Die ersten drei Nächte habe ich mir die Birne weggeblasen“, sagt er und gesteht: „Ich hab mit Alkohol sonst nichts zu tun, aber ich hab’s nicht anders ausgehalten.“ Es war der letzte, der wirklich allerletzte Angriff der Saison, in dieser 96. Minute des Relegationsrückspiels. Und natürlich traf Nürnberg. Im Fallen hatte Fabian Schleusener den Ball am herauseilenden Torwart vorbeigespitzelt – 3:1. War das ein Foul vorher? Schiedsrichter Dingert überprüfte es nicht, sondern pfiff ab. Ingolstadt blieb in der Dritten Liga. Nun will der Verein erneut angreifen, mit demselben Trainer und nahezu dem gleichen Kader.
Tomas Oral, der Sohn aramäischer Flüchtlinge, hat sich hochgearbeitet. „Meine Eltern kamen Ende der Sechziger aus dem Gebiet der Türkei, wo Christen unterdrückt wurden.“ Die ersten Jahre in Deutschland verbringen er und sein Bruder bei einer Gastfamilie, seine Eltern müssen arbeiten, eine Zukunft aufbauen. „Es hat uns an nichts gemangelt.“ Oral ist ein durchschnittlich guter Fußballer, Oberliga Hessen. Als Trainer führt er den FSV Frankfurt bis in die zweite Liga. Er darf zur Fußballlehrerausbildung. Bernd Reisig, Frankfurts starker Mann, lässt Oral mit dem Helikopter von der Hennes-Weisweiler-Akademie abholen, damit er am Spieltag bei seiner Mannschaft sein kann. Ist er Reisig dankbar? „Ich habe ihm sportlich alles zurückgezahlt.“
Der 1,68 Meter große Oral erwirbt sich den Ruf, als Feuerwehrmann zu funktionieren. „Das hat sich dann zwangsläufig so ergeben.“ Spätestens als er vor dem letzten Spieltag 2014/15 wieder beim FSV Frankfurt anheuert und die Mannschaft zum Duschen in eine Autowaschanlage schickt. Andere Trainer hätten über die Idee wahrscheinlich gelacht. Oral hat den Mumm, sie umzusetzen. „Ich habe mich dann informiert, ob das gefährlich ist.“ Als Oral bei der ersten Einheit zur nahegelegenen Tankstelle marschiert, werden dort seit einer Stunde alle Chemikalien aus den Düsen gespült. Führungsspieler wie Hanno Balitsch oder Björn Schlicke bittet er, ihm zu folgen. „Die dachten, wir gehen zur Laufstrecke. Und ich renne in die Waschstraße rein.“ Die Spieler sollen sich reinwaschen. Die Aktion wirkt. Frankfurt bleibt in der Klasse.
„Haselnussschnaps kann ich nicht mehr sehen“
Einen solchen Effekt erhoffen sich auch die Verantwortlichen in Ingolstadt, als sie Oral vor der Corona-Krise einstellen. Zum dritten Mal ist er hier. Beim zweiten Mal, im Frühjahr 2019, war er als Retter eingestellt worden. Damals steigen er und Ingolstadt in die Dritte Liga ab. Oral geht, nur ein Jahr später springt er wieder ein. Ziel: der Wiederaufstieg. Am letzten Spieltag kann Ingolstadt aufsteigen, doch im Fernduell bekommt Würzburg in der letzten Minute noch einen Elfmeter und schiebt sich vorbei. „Da haben mir Leute geschrieben: Skandal! Beschiss!“ Der FCI muss in die Relegation.
Wenn Oral mit hoher, schneller Stimme darüber spricht, reibt er die Hände aneinander und öffnet sie schlagartig, als wolle er etwas von sich wegschieben. „Der sauknapp verpasste Aufstieg gehört seit letztem Sommer zu unserer Geschichte“, sagt er. Um seinen Spielern zu verdeutlichen, wie gut es ihnen geht, hat er mit ihnen über die Flüchtlingskrise in Moria gesprochen. „Mich hat das bewegt. Viele Leute hier in Ingolstadt haben in den Wochen nach dem verpassten Aufstieg geredet, als gäbe es nichts Schlimmeres. An Europas Außengrenzen sieht das anders aus. Wir wissen, wo unser Zuhause ist.“ Es liegt am Rande der Stadt. Ein am Reißbrett entworfenes Domizil für einen Verein, der 2004 durch eine Fusion gegründet wurde, von der Bayern- bis in die Bundesliga gelangte und von dort zurück in die Dritte Liga stürzte. Kubisches Funktionsgebäude, viel Beton und Kies. Geldsorgen plagen sie dank des geduldigen Sponsors Audi eher nicht. Die Angestellten wirken engagiert, manchmal gemächlich. Man müsse, heißt es, an der Kaffeemaschine aufpassen, bei den zufälligen Gesprächen nicht die Arbeit zu vergessen. Oral hat sich einen doppelten Espresso gemacht. Dabei gibt es keinen Verdacht, er leide unter Energielosigkeit. Er sagt: „Wir müssen nicht aufsteigen. Aber wir wollen unbedingt.“ Irrwischartig, so wurde er einmal von der „Süddeutschen Zeitung“ beschrieben. Beliebt ist Oral bei anderen Vereinen eher nicht, dafür bekannt, sich mit Vierten Offiziellen anzulegen. Wagenburgen bauen, ein Gefühl von Wir gegen Alle erzeugen, das kann der Feuerwehrmann, der nun 38 Spieltage im Einsatz ist. Hat sich trotzdem was verändert? „Haselnussschnaps“, sagt Oral. „Den kann ich nicht mehr sehen.“