Nach dem 3:3 im Heimspiel gegen den SC Paderborn präsentiert sich Hans-Joachim Watzke auf der Jahreshauptversammlung des BVB als mahnender Klubpatriarch und interpretiert seine Rolle erstaunlich facettenreich. Eine Theaterkritik.
Ebene 4: Die Coolness des Sanierers.
An dieser Stelle machte Watzke viel mehr Eindruck als das scheidende Klubboss-Role-Model von der Säbener Straße. Wie der Rächer in einem Italowestern täuscht er zunächst Barmherzigkeit und Nachsicht mit seinem Gegenüber vor, um schlussendlich doch durchzuladen. Die BVB-Spitze soll nach dem Paderborn-Spiel nachts noch lange mit Lucien Favre über die Fortführung der Zusammenarbeit diskutiert und der Coach am Ende eine Bewährungsfrist von zwei weiteren Spielen bekommen haben.
Auf der Jahreshauptversammlung ließ Watzke nun keinerlei Missverständnisse aufkommen, dass seine Geduld arg strapaziert ist: „Wenn wir uns auf dem Platz befinden, machen wir aktuell nicht den Eindruck einer stabilen Einheit. Das ist in allererster Line die Aufgabe von der Mannschaft, Dir und Deinem Team, lieber Lucien. Und es ist auch unser gutes Recht, das einzufordern. Du hast weiter unser Vertrauen. Aber eines ist klar: Am Ende wird Fußball immer über Ergebnisse definiert. Wir alle bei Borussia Dortmund wünschen uns, dass es Dir und der Mannschaft gelingt, eine Wende zum Positiven herbeizuführen. Dafür hast Du alle Unterstützung, die wir Dir geben können.“ Brrrr. Da gefriert einem schon beim Lesen das Blut in den Adern. Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser. Ob Favre in diesem Moment wohl überlegt hat, warum er Watzke jemals das „Du“ angeboten hat? Wie unendlich groß die Distanz zu einem Wort wie „Lieber“ bei entsprechender Rhetorik doch werden kann.
Ebene 5: Die Beschwingtheit des Poeten.
Uli Hoeneß gab zu, wenn er den FC Bayern der Gegenwart betrachte, fiele ihm stets das Zitat von Friedrich Schiller ein: „Er stand auf seines Daches Zinnen und schaute mit vergnügten Sinnen.“ Nie hätte er sich bei seinem Amtsantritt vorstellen können, was aus dem FCB für ein tolles Unternehmen werden könne. So abrupt wie der Bayern-Patriarch Schnappatmung bekam, wenn’s nicht lief, so überzeugend konnte er auch stets seine Begeisterung und Freude zum Ausdruck bringen. Hier muss Watzke noch an seiner Haltung feilen: Um den Saal am Ende der Rede nicht in Agonie zurückzulassen, wählte er ein Zitat von Martin Luther. Er klang dabei nicht beschwörend oder gar aufrüttelnd, er ließ es eher beiläufig fallen. Als überlege er noch, es wirklich zu sagen.
Es war sein Appell, die Scheißstimmung nicht Überhand nehmen zu lassen. Die nächsten Spiele, sprich: die Galgenfrist für Favre, sollten unter dem Motto des spätmittelalterlichen Reformators angegangen werden: „Aus einem verzagten Arsch kommt kein fröhlicher Furz.“ Ob sich auf Knopfdruck die schiefsitzende Blähung bei Borussia Dortmund lockern lässt, muss sich nun zeigen. Jedenfalls war es eine sehr westfälische Art, Aufbruchsstimmung zu schüren. Ein Schlussakkord der ganz besonderen Art. Als die Mannschaft kurz darauf den Saal verließ, applaudierten einige Fans wieder. Was mag den Spielern wohl durch den Kopf gegangen sein? Wir stehen selbst enttäuscht und sehn betroffen. Den Vorhang zu und alle Fragen offen.