Stefan Kießling musste sich den Erfolg in seiner Karriere hart erarbeiten, selten flog ihm etwas zu. Doch grade die Makel in seiner Laufbahn ließen ihn in Leverkusen zur Legende werden. Heute wird er 40 Jahre alt. Eine Würdigung.
Sie nannten es Tragik, Drama oder gar Diebstahl. Nach dem Elfmeter, vor dem Stefan Kießling in seinem letzten Fußballspiel eingewechselt worden war und den er dann doch nicht hatte schießen dürfen, weil Schiedsrichter Guido Winkmann das Viereck des Grauens in die Luft gemalt und seine Elfer-Entscheidung zurückgenommen hatte, war für Fußballdeutschland klar: Stefan Kießling war beraubt worden. Seinen so wohlverdienten, abschließenden großen sportlichen Moment – ein letztes Mal treffen, ein letztes Mal jubeln, ein letztes Mal fühlen was es heißt, 25.000 Menschen gleichzeitig zum Höhepunkt zu bringen – das alles hatte ihm der Schiedsrichter heimtückisch genommen.
Denn natürlich wäre es schöner gewesen, Kießling hätte zum Abschluss den Ball für Leverkusen ins Tor gedroschen. Aber was einige womöglich nicht wissen oder zumindest an diesem Samstagabend im Frühsommer 2018 nicht wahrhaben wollten: Die Karriere von Stefan Kießling hatte mit Schönheit nicht viel zu tun.
Mehr Wert als jedes Tempodribbling dieser Welt
Im Gegenteil. Stefan Kießlings Karriere war das hässliche Entlein unter den großen Karrieren der vergangenen 20 Jahre. Wo andere Topstürmer den Ball in den Winkel schlenzten, musste Kießling seine Treffer mit harter Arbeit erzwingen. Wo andere Angreifer leichtfüßig ins Dribbling gingen, stieg Kießling mit kaputter Hüfte hoch zum Kopfballduell. Wo andere Spieler seiner Qualität zum Saisonende Pokale in den Himmel reckten, schwor sich Kießling darauf ein, es im nächsten Jahr eben wieder zu probieren.
Doch für genau diese Hingabe, die mit seinen großen Füßen und langen Beinen nie elegant, aber stets echt wirkte, und die sich ja erst im Scheitern richtig zeigte, wurde Kießling geliebt. Weshalb der zurückgenommene Elfmeter vielleicht der passendere Abschied für den damals 34-jährigen Stürmer war.
Kießling, dieser Neandertaler der Bundesliga, dieser analoge Stürmer, wurde vom Videobeweis, der Ausgeburt des optimierten Full-HD-Fußballs, ausgebremst. Und stand am Ende doch mit Tränen der Rührung vor der Kurve. Weil alle im Stadion genau spürten, dass einer wie er etwas Besonderes war. Mehr Wert als jedes Tempodribbling dieser Welt.
Der Chefkoch machte große Augen
Am Ende waren es 16 Jahre Profifußball für Kießling, alleine zwölf davon in Leverkusen. Und zehn Minuten in einem Bamberger Hotel, die all die Jahre überhaupt erst möglich machten. Damals, Kießling war 15 Jahre alt und klärte in einem Fünf-Sterne-Hotel letzte Details für seine Koch-Ausbildung, wurde er gefragt, was er denn so für Hobbys habe. „Fußball“, sagte der junge Kießling.
„Montags habe ich Training, dienstags, mittwochs und donnerstags auch. Und, nun ja, am Freitag gehe ich immer mit Kumpels kicken.“ Der Chefkoch machte große Augen. „Samstag spiele ich dann in der B‑Jugend. Und Sonntag helfe ich in der A‑Jugend aus.“ Der Koch wurde stutzig. Ob ihm, Stefan, denn eigentlich klar sei, dass er als Azubi in der Küche oft abends oder am Wochenende würde ackern müssen? Und dementsprechend oft das Training oder Spiele verpassen könnte? Kießling schaute seine Mutter an, die neben ihm saß, und sagte nur einen Satz. „Das machen wir nicht.“ Er bedankte sich höflich und verließ das Hotel.