Wieder einmal prägten Unterbrechungen durch den VAR den vergangenen Spieltag. Doch selbst wenn ein Großteil der Entscheidungen korrekt war, wird der Fußball dadurch nur noch weiter zerstört. Und verliert so endgültig seinen Zauber.
Ich kann sie nicht mehr hören. Die immer gleichen Beschwichtigungen in den immer gleichen Diskussionen, die „letztendlich wird es ja doch gerechter“-Reflexe in den „naja, inzwischen geht es um so viel Geld, da braucht man halt ’nen VAR“-Argumentationen. Schon klar, verstanden, der Fußball sollte möglichst gerecht sein. Und wenn Raheem Sterling im Champions-League-Viertelfinale gegen Tottenham aus einer Abseitsposition getroffen hätte, wären dem gegnerischen Team dadurch X‑Millionen Euro flöten gegangen (Sterling hatte in einer dramatischen Nachspielzeit beinahe das entscheidende 5:3 erzielt, der Treffer wurde aber mit Verzögerung nach minutenlangem Jubel zurückgepfiffen). Wenn es einen Videobeweis gäbe, der solch knifflige Situationen sekundenschnell richtig beurteilte – von mir aus, es wäre vielleicht gerade noch erträglich.
Solch einen Videobeweis wird es aber nie geben, genauer gesagt, es kann ihn gar nicht geben. Denn die Regelauslegung im Fußball ist von Grund auf subjektiv. Wenn im Tennis geprüft wird, ob ein Ball auf der Linie oder knapp dahinter aufgeprallt ist, mag eine fehlerfreie Beurteilung durch technische Hilfsmittel möglich sein. Bei der Frage, ob ein Spieler eine Tätlichkeit bewusst ausgeführt oder „nur“ eine Verletzung durch sein gefährliches, aber nicht bewusstes Einsteigen in Kauf genommen hat, funktioniert diese Handhabung nicht. Die Linie eines Schiris, viele kleine Fouls erst mal laufen zu lassen oder rigoros alles zu unterbinden, passt in kein richtig/falsch-Muster. Und selbst vermeintlich objektive Beurteilungen, wie die von Abseitspositionen durch kalibrierte Linien, können nicht ganz klar auflösen, in welcher Zehntelsekunde der Ball denn nun wirklich den Fuß seines Passgebers verlassen hat.
Ver(w)irrung des Fußballs
Der Videobeweis in seiner momentanen Fassung behauptet nun aber trotzdem, genau das zu bewerkstelligen – und wird damit Woche für Woche zum spielentscheidenden Protagonisten. Zum Beispiel beim Duell zwischen Hertha und dem BVB am Samstag. In einer Drangphase der Berliner erzielte Davie Selke den Ausgleich zum 2:2, beim Moment des Abspiels von Marko Grujić soll sich der Stürmer jedoch minimal im Abseits befunden haben. Unabhängig davon, ob sich Selke nun wirklich einen Nanometer vor oder hinter der kalibrierten Linie befunden hatte, bleibt die Frage: Gibt es bei dermaßen hauchdünnen Übertretungen überhaupt eine hundertprozentig richtige oder falsche Entscheidung? Hätte man nicht einfach beide möglichen Ergebnisse ohne Intervention des VAR akzeptieren müssen? Wenn jede noch so kleine Haarspitze für eine Position vor oder hinter einer elektronisch erzeugten Linie verantwortlich ist, gibt es dann überhaupt noch so etwas wie gleiche Höhe? Und was ist eigentlich aus dem guten alten „im Zweifel für den Angreifer“ geworden?
Vermutlich wissen es die Beteiligten selber nicht, blickt ja eh keiner mehr durch. Denn warum sonst fehlen dem VAR die Befugnisse, bei weit eindeutigeren Szenen einzugreifen? Wie beispielsweise am Sonntag beim Aufeinandertreffen von Atlético Madrid und dem FC Barcelona. In der 72. Minute rauschte der bereits verwarnte Gerard Piqué dort dermaßen in Richtung Álvaro Moratas, dass dieser aus eigenem Gesundheitsschutz über dessen Grätsche springen musste und trotzdem nicht gerade sanft zu Fall kam. Ein klar unterbundener Angriff, auch kein überhartes Foul, aber eben eines, das im Normalfall den gelben Karton nach sich zieht.
Der Schiedsrichter übersah jedoch das Einsteigen des Innenverteidigers, und weil der VAR nur bei einer klaren Fehlentscheidung – in diesem Fall einer potentiell glatt Roten Karte – hätte eingreifen dürfen, konnte der Referee nicht für eine nachträgliche Beurteilung an den Monitor geordert werden. Und das, obwohl das Resultat der zweiten Verwarnung ebenso einen Platzverweis für Piqué dargestellt hätte.
Erstmal laufen lassen
Die Konsequenz solcher Handhabungen ist, dass immer mehr Szenen prophylaktisch laufen gelassen werden. Nach dem Motto „wenn es falsch ist, meldet sich schon jemand“ werden teils klare Abseitsentscheidungen vorerst nicht abgepfiffen, um mögliche Torchancen nicht zu Unrecht im Keim zu unterbinden.
Diese in der Theorie durchaus nachvollziehbare Gangart nimmt in der Praxis derart absurde Züge an, dass allein beim Zweitligaduell zwischen Stuttgart und Sandhausen Mario Gomez drei(!) Mal aus Abseitsposition ein Tor erzielte, das danach durch den VAR revidiert wurde. In allen drei Fällen wurde zwar korrekt nach Regelwerk abgepfiffen – Gomez befand sich tatsächlich in der verbotenen Zone – jedoch auch jedes Mal, nachdem der Stürmer bereits zum Jubel angesetzt hatte. In solchen Szenarien kommt der VAR zwar seiner Aufgabe nach und eliminiert Fehlentscheidungen, aufgrund der durch ihn hervorgerufenen Änderung im Regelwerk kreiert er aber einen Großteil seiner Einsätze erst selbst – und sorgt damit für unnötigen wie nachvollziehbaren Frust.