Von Gladbachs Spiel in Mailand wird weder ein spektakulärer Schuss, noch ein verschossener Elfmeter oder eine Rote Karte in Erinnerung bleiben. Sondern ein Traumpass von Florian Neuhaus.
Als der Pass an allen sechs Inter-Spielern vorbeigerauscht war, überfallartig und schnurstracks, geriet Jonas Hofmann unter Druck. Hätte jemand ihm und uns eineinhalb Sekunden zuvor gesagt, dass er gleich ganz alleine vor dem gegnerischen Torwart auftauchen würde, hätten er und wir das nicht für möglich gehalten, wie sollte der Ball denn Bitteschön so schnell bei ihm landen, mit all den Verteidigern im Zentrum und dem Ballführenden so tief in der eigenen Hälfte? Doch der Ball war bei ihm gelandet (um das Wie kümmern wir uns gleich), und nun lief er mutterseelenallein auf Samir Handanovic zu. Kein Abwehrspieler weit und breit, nur er und dieses Geschenk von Florian Neuhaus, das er nur noch auszupacken brauchte. Das er jetzt auspacken musste. Unbedingt. Er geriet unter Druck.
Ob er diesen wirklich gespürt hat, wissen wir natürlich nicht, vielleicht spürte er auch eher Vorfreude, schließlich konnte er jetzt den Siegtreffer in Mailand erzielen. Und was hatte er denn zu verlieren? Es stand 1:1, mit dem Ergebnis konnte Gladbach gut leben, wenn er nun nicht träfe, die Welt würde auch nicht schneller untergehen als ohnehin schon. Aber doch, da war Druck. Ganz sicher. Nicht so sehr wegen des Spiels oder der Torchance als solche, Hofmann ist in seinem Leben sicher schon des Öfteren auf einen Torwart zugelaufen. Aber er lief eben nicht nur auf Inters Schlussmann zu, sondern auch Gefahr, alles zu versauen. Und mit alles ist natürlich der Pass von Florian Neuhaus gemeint, der ja eigentlich gar kein Pass war, sondern ein Ding der Unmöglichkeit, mehr noch, Zauberei. Dieser Zauber durfte nun nicht einfach enden. Zumindest wir hätten es Hofmann nur schwer verzeihen können, wenn er uns zurück in die Realität geholt hätte. Mit einer schlampigen Ballannahme, mit einem überhasteten Abschluss, mit einem missratenen Schuss. Doch Hofmann zauberte mit, er nahm das Geschenk nicht nur an, er packte es direkt aus, er schob Handanovic den Ball durch die Beine und ins Tor. 2:1 Gladbach. Ein schönes Tor. Eine traumhafte Torvorlage. Ein Pass, der bleibt.
Denn wer das Zuspiel von Neuhaus gesehen hat, wird es so schnell nicht vergessen. Was zum einen daran liegt, dass Pässe dieser Art so selten gespielt werden. Sie sind besonders, quasi nie zerschneiden Spieler gegnerische Mannschaften mit flachen Vollspann-Pässen, kaum ein Profi hat gleichzeitig die Technik, das Selbstvertrauen, die Übersicht und die Risikobereitschaft, um einen solchen Pass zu spielen, Mesut Özil, Kevin de Bruyne, David Silva, vielleicht noch Neymar oder Thiago und nun eben Neuhaus, viel mehr Namen kommen einem aktuell nicht in den Sinn, wenn es um raffinierte Zuspiele dieser Art geht. Doch nicht nur deshalb wird der Pass von Neuhaus im Gedächtnis bleiben.
Fußball ist immer dann am tollsten, wenn man als Zuschauer vom Zuschauen Lust aufs Selbstspielen bekommt. Wenn einen die innere Unruhe packt, wenn man von der Couch aufspringen und zum nächsten Bolzplatz rennen oder zumindest genau jetzt und keine Sekunde später diesen kleinen Stoffball, der in irgendeiner dunklen Ecke der Wohnung liegt und verstaubt, per Vollspann-Flachpass quer durchs Wohnzimmer ballern möchte, auch auf die Gefahr hin, etwas kaputt zu machen oder sich furchtbar wehzutun, etwa weil man beim Ausholen mit der Ferse gegen den Couchtisch donnert. Und nein, das ist dem Autor dieses Textes gestern nicht passiert! Ganz bestimmt nicht! Obwohl das gestern genau so ein Moment war. Oder haben Sie nach Ansicht des Neuhaus-Passes etwa keinen Bock, einen Lederball mit Spann und ordentlich Krawall über einen nassen Rasen ditschen zu lassen? Eben.
Neuhaus hatte auf jeden Fall Bock. Er zögerte nicht, er zog ab, blitzgescheit und mit Risiko, sein Ball schnellte an sechs Inter-Spielern vorbei und durch diverse Schnittstellen durch (genau genommen waren es drei), perfekt dosiert in den Lauf von Jonas Hofmann. Vom Mittelkreis zum Tor in nicht mal drei Sekunden. Wie sangen schon Madness? Neuhaus, in the middle of the pitch!
Oder war der Ball etwa gar nicht für Hofmann gedacht, sondern für Alassane Pléa? Und am Ende kam er nur zufällig eine Station tiefer an? Mal überlegen. Nein. Quatsch. Unsinn. Allein die Kraft, die Neuhaus in den Pass legt, spricht dagegen. Außerdem ist anhand seiner Armbewegung einigermaßen deutlich zu erkennen, dass er den Ball diagonal und nicht steil spielen möchte. Und überhaupt: Im Zweifel für den Angreifer! Sollte trotzdem jemals jemand das Gegenteil behaupten, dann beißen wir uns zunächst auf die Zunge, um gegenüber dieses Jemands nicht ausfällig zu werden, und fragen dann, so freundlich wie nötig und unfreundlich wie möglich, wie genau man so ein missgünstiger und spaßbefreiter Jemand wird und ob das nicht furchtbar anstrengend ist. Anders ausgedrückt: Niemand wird uns diesen Pass versauen, dieses Geschenk, diese Zauberei. Weder Jonas Hofmann noch irgendjemand sonst.