Nach einer intensiven Analyse der sportlichen Krise entscheidet die Führung des SV Werder, an Chefcoach Florian Kohfeldt festzuhalten – zumindest bis zum Saisonende. Danach werden sich die Wege des Klubs und des Trainers wohl trennen.
Im Februar 2019 sprach 11FREUNDE mit Florian Kohfeldt über seine Funktion als Werder-Cheftrainer. Zwei Jahrzehnte wirkte er bereits beim Klub an der Weser, er hatte sich vom Spieler über alle Jugendbereiche als Coach nach oben gearbeitet. Vor seiner Berufung waren mit Viktor Skripnik und Alexander Nouri jedoch zwei ehemalige Nachwuchstrainer zu den Profis hochgelobt und dort nach kurzen Hochphasen wieder geschasst worden.
Als Assistent von Victor Skripnik hatte Kohfeldt hautnah mitbekommen, wie die sportliche Krise den stoischen Ukrainer ausgezerrt hatte und wie SVW-Verantwortliche sich langsam aber sicher von ihm abwandten. Kohfeldt gab zu, dass ihn diese Gesetzmäßigkeiten des Profigeschäfts ins Grübeln gebracht hatten. Auf die Frage, ob er sich dafür fürchte, in eine ähnliche Abwärtsspirale zu geraten, antwortete er: „Wovor ich Respekt habe, ist, dass ich mein Verhältnis zu dieser Stadt, in der ich seit fast zwanzig Jahren lebe, verändern könnte, weil es sportlich nicht mehr läuft. Sprich: Dass ich durch den Job ein Stück Heimat verlieren könnte.“
Dass die Werder-Bosse auch vor diesem Hintergrund stets einen ehrlichen Umgang mit dem Trainer Kohlfeldt pflegen, erwies sich schon in der vergangenen Saison. Obwohl der Nordklub fast die gesamte Rückrunde auf einem Abstiegsplatz verbrachte und teilweise katastrophale Auftritte ablieferte, ließen Sportgeschäftsführer Frank Baumann und auch Aufsichtsratchef Marco Bode nie Zweifel aufkommen, dass sie absolutes Vertrauen in die Arbeit des Coachs hatten.
Ihr Glaube an die Kontinuität im Innern des Klubs zahlte sich aus. Werder rettete sich in der Relegation. Und die Mannschaft präsentierte sich nach dieser nervenaufreibenden Prüfung zu Beginn der neuen Saison selbstbewusster und homogener. Dabei waren gerade die Bremer von der Coronakrise besonders gebeutelt, weil Werder anders als viele arrivierte Bundesligisten durch seine regionale Anbindung nicht über ein engmaschiges Netz an potenten Sponsoren verfügt. Die wegbrechenden Zuschauereinnahmen hatten den Klub derart wirtschaftlich zugesetzt, dass Frank Baumann im Sommer sogar Wunschspielern eine Absage erteilen musste, obwohl diese ablösefrei nach Bremen gekommen wären.
Werder war schlichtweg nicht in der Lage, das Gehalt potentieller Verstärkungen zu stemmen. Zudem gab der Klub im Sommer mit Fin Bartels, Kevin Vogt, Nuri Sahin, Sebastian Langkamp, Philipp Bargfrede und Claudio Pizarro ein halbes Dutzend in die Jahre gekommener Spieler ab, die gemeinsam auf die Erfahrung von mehr als tausend Bundesliga-Einsätzen zurückblickten. Doch anfangs schien es keine Rolle zu spielen, dass die Neuverpflichtungen in Summe nicht mal auf zwanzig Erstligaspiele kamen.
Bis zum 24. Spieltag deutete nichts daraufhin, dass sich die Misere des Vorjahres wiederholen könnte. Trotz des Kaders, der allenfalls in Teilen über bundesligataugliche Angestellte verfügte, kam Werder überraschend gut über die Runden. Anfang März hatte der SVW bereits dreißig Punkte gesammelt. Über den Abstieg – so schien es – brauchten sie sich an der Weser kein Gedanken mehr zu machen.
„Es geht um Werder, um nichts anderes”
Doch seitdem funktioniert nichts mehr. Waren die Niederlagen gegen den FC Bayern, den VfL Wolfsburg, den BVB und RB Leipzig noch rein sportlich entschuldbar, geriet Werder zuletzt auch gegen direkte Tabellennachbarn ins Taumeln. Mal spielte das Schicksal mit (VAR gegen Mainz), dann sorgte Verletzungspech für einen Mangel an Stabilität (Toprak) in der chronisch anfälligen Defensive, inzwischen aber scheint jegliches Selbstbewusstsein flöten gegangen zu sein. Jetzt rächt sich zweifellos der Mangel an Erfahrung und an Spielern, die in Krisenzeiten trotz eisigen Winds zum Gegenangriff übergehen können.
Die Leistung beim Auswärtsspiel gegen den 1. FC Union am Samstag glich einem Offenbarungseid, der auch den stets optimistischen Trainer in seiner Haltung tief getroffen hatte: „Uns hat der unbändige Wille und das komplette Aufopfern gefehlt“, sagte Kohfeldt nach der 1:3‑Niederlage in Berlin und warf erstmals in seiner Ära als Bremer Cheftrainer auch existenziellere Fragen auf: „Ich werde garantiert nicht weglaufen. Allerdings sage ich auch, dass, wenn jemand das Gefühl hat, dass es mit einer anderen Person besser geht und es einen neuen Impuls braucht, man mir das sagen und mit mir besprechen soll. Denn es geht am Ende nur um Werder Bremen, um nichts anderes.“
Seine Worte erinnerten ein wenig an die Rücktrittsankündigung von Jürgen Klopp beim BVB im April 2015. Auch er war als Persönlichkeit eng mit dem Klub und seinen Verantwortlichen verwoben. Niemand auf der Südtribüne hegte ernsthaft einen Groll gegenüber dem Coach. Und dennoch war im Laufe der Saison allen klar geworden, dass der Trainer mit seinem Latein an sein Ende gelangt war und es Zeit wurde, die Mannschaft mit neuen Reizen, einer veränderten Ansprache und damit einer neuen sportlichen Leitung zu konfrontieren. „Der Name Klopp war in diesem Verein relativ groß und wurde nie der eigentlichen Bedeutung des BVB gerecht. Das konnte man nicht mehr ändern“, so Klopp damals selbstkritisch, „Der Verein muss aber die Möglichkeit haben, großartiges Potenzial zu nutzen, ohne von der eigenen Vergangenheit in der Entwicklung blockiert zu werden. Dazu muss ein großer Kopf weg – und das in diesem Fall meiner.“
Ähnliches scheinen sich am Wochenende auch die Verantwortlichen bei Werder gedacht haben – inklusive Florian Kohfeldt. Der Bremer Trainer ragt aus einem Team von soliden Profis heraus und ist, wenn man so will, aktuell der größte Star an der Weser. Nicht von ungefähr wurde auch Kohfeldts Name gehandelt, als Marco Rose vorzeitig seinen Abgang bei Borussia Mönchengladbach verkündete. Experten sind sich einig, dass der „Trainer des Jahres 2018“ ob in Bremen oder anderswo, auch längerfristig im deutschen Erstligafußball eine Rolle spielen wird.
Dass dieser Ruhm nach sieben Niederlagen in Folge nun gegen ihn verwendet wird, ist im schnelllebigen Fußball ein Naturgesetz. Doch die Spieler müssen es richten, sie können sich in dieser vertrackten Situation nicht in hinter der prominenten Personalie verschanzen. Es ist davon auszugehen, dass die grundlegende Analyse, die seit vergangenem Samstag auf Führungsebene beim SVW im Gange ist, auch viel um diese Frage kreiste – und inwieweit ein Trainerwechsel zu diesem fortgeschrittenen Zeitpunkt noch Sinn ergibt.
Was den Tabellenstand anbetrifft, ist die Situation weniger prekär als im vergangenen Jahr. Werder kann sich noch immer aus eigener Kraft vor dem Abstieg retten. Schon drei, vier Punkte aus den verbleibenden drei Spielen gegen Leverkusen, die ebenfalls schlingernden Augsburger und Gladbach würden wohl zum Klassenerhalt reichen. Doch der stringente Abwärtstrend versetzt die handelnden Personen in große Sorge. Nach dem unglücklichen 0:1 gegen Mainz 05 Mitte der vergangenen Wochen sprach Frank Baumann seinem Coach noch das volle Vertrauen aus, am Samstag in Berlin hingegen musste er die Lage erst einmal sacken lassen und vermied im Nachgang in allen öffentlichen Auftritten das Bekenntnis zu Kohfeldt.
Und dennoch machte es Werder auch diesmal anders als alle Bundesligisten, die sich zuletzt von ihren Übungsleitern trennten. Der Klub kam der Bitte des Trainer nach Transparenz nach, zog sich gemeinsam mit Kohfeldt zu intensiven Analysegesprächen zurück und kam schlussendlich überein, kein blinden Aktivismus walten zu lassen. Obwohl selbst am gestrigen Abend noch renommierte Regionalmedien die unmittelbar bevorstehenden Demission des Trainers tickerten, will man die Saison offenbar aufrecht und solidarisch zu Ende bringen. Was danach sein wird, kann zu diesem Zeitpunkt niemand prophezeien.
Sollte sich der SV Werder im DFB-Pokalhalbfinale gegen Leipzig erneut willenlos ergeben, ist womöglich auch eine frühere Trennung denkbar. Allerdings stellte Frank Baumann in einer virtuellen Pressekonferenz am gestrigen Abend klar, dass Kohfeldt allen Entscheidern in Bremen in den Analysegesprächen erneut „einen sehr kämpferischen Eindruck“ vermittelt habe und dass die Art und Weise, wie der Trainer den Abstiegskampf angehen will, alle Beteiligten überzeugt habe, „dass wir den Weg so weitergehen“.
Ob sich das Vertrauen auszahlt, wird sich zeigen. Nachdem Jürgen Klopp im April 2015 seinen Rücktritt angekündigt hatte, holte er mit Borussia Dortmund aus den verbleidenden sechs Saisonspielen noch 13 von möglichen 18 Punkten – und qualifizierte sich mit dem BVB auf den letzten Drücker für die Europa League. Heute wären sie in Dortmund froh, wenn sie einen wie ihn hätten. Der Klub und die Stadt werden immer ein Stück Heimat für ihn bleiben.