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Am 26. April 2000 zer­brach das Schien­bein von Roberto Di Matteo in meh­rere Teile. Ein Wim­pern­schlag des Zufalls, es war ein unglück­li­cher Zusam­men­stoß mit Gegen­spieler Daniel Imhof, ver­än­derte sein Leben und machte die Frage nach Sieg oder Nie­der­lage plötz­lich bedeu­tungslos. An jenem Abend in Zürich schied der FC Chelsea nach einem 0:2 gegen den FC St. Gallen aus dem UEFA-Cup aus, doch was in Erin­ne­rung blieb, waren die trau­rigen Bilder eines Mannes, der schon oft nach Zwei­kämpfen am Boden gelegen hatte – der diesmal aller­dings nicht wieder auf­stand. Mit einer Sau­er­stoff­maske auf dem Gesicht wurde er vom Platz getragen.

Was dort am Spiel­feld­rand in Trüm­mern lag, war nicht nur ein Kno­chen; es war auch die Kar­riere eines 30-jäh­rigen Fuß­bal­lers: Di Matteo sollte sich von der Ver­let­zung nie wieder erholen. 18 Monate lang quälte er sich für ein Come­back, doch der Split­ter­bruch hatte irrever­sible Schäden an Gewebe und Nerven hin­ter­lassen, zwi­schen­zeit­lich stand sogar eine Ampu­ta­tion des linken Beins im Raum. Im Februar 2002 war sein Kampf­geist auf­ge­braucht, er been­dete offi­ziell seine Kar­riere. Und mit ihm ging ein Stück Ver­eins­ge­schichte.

Sechs Jahre zuvor war Di Matteo für die dama­lige Rekord­ab­löse von fünf Mil­lionen Pfund von Lazio Rom an die Stam­ford Bridge gewech­selt. Zusammen mit seinen Lands­män­nern Gian­luca Vialli und Gian­franco Zola begrün­dete er dort nicht nur das neue, kos­mo­po­li­ti­sche Flair, son­dern holte nach einem Vier­tel­jahr­hun­dert auch erst­mals wieder Titel.

Der ele­gante und schuss­ge­wal­tige Mit­tel­feld­spieler hatte maß­geb­li­chen Anteil am Erfolg, denn er ent­wi­ckelte sich zu einem aus­ge­machten Experten für End­spiele. Das Duell um die Cham­pions League am 19. Mai in Mün­chen ist bereits das siebte Finale eines Pokal­wett­be­werbs, das Di Matteo als Spieler und Trainer erreicht hat. Ver­loren hat er bis­lang keines. In dreien erzielte er spiel­ent­schei­dende Tore, mit seinem Treffer nach 42 Sekunden im Finale 1997 ging er in die Geschichts­bü­cher des FA-Cups ein.

Emo­tio­naler Abschied und schwie­riger Neu­an­fang

In London war Di Matteo ein Pokal­held – und so durfte er auch als Pokal­held abtreten. Als Chelsea 2002 erneut das FA Cup-Finale gegen Arsenal erreichte, führte er die Mann­schaft ein letztes Mal sym­bo­lisch aufs Feld. Danach schlug er das Kapitel zu und wid­mete sich seinen Narben.

Die Ver­let­zung tut nach wie vor weh“, erzählte er noch Jahre später. Es ist kein rich­tiger Schmerz, aber es ist unan­ge­nehm. Und es erin­nert mich jeden Tag an diesen Abend in Zürich. Ich glaube nicht, dass ich das jemals ver­gessen werde.“

Noch tie­fere Narben als am Unter­schenkel hatte der Unfall zwei­fellos in seiner Psyche hin­ter­lassen: Ich fiel in eine Depres­sion, auf so etwas war ich nicht vor­be­reitet. An einem Tag bist du ein aus­trai­nierter Pro­fi­sportler. Am nächsten Tag erwachst du im Kran­ken­haus, hast eine Ope­ra­tion nach der anderen und musst dir Sorgen machen, ob du je mit deinen Kin­dern durch den Park laufen kannst. Damit musste ich nun umgehen, dafür brauchte ich vier oder fünf Jahre.“

Di Matteo suchte Abstand vom pro­fes­sio­nellen Fuß­ball, machte in der Schweiz, wo er geboren und auf­ge­wachsen war, ein Wirt­schafts­di­plom, stu­dierte an der Euro­pean School of Eco­no­mics in London, nahm an Trai­ner­lehr­gängen teil und arbei­tete fürs Fern­sehen. Ich musste weg vom Spiel, um einen Schluss­strich zu ziehen. Erst als mir das end­gültig gelungen war, kehrte mein Hunger zurück: Dieses Krib­beln im Bauch, das Ver­langen nach Adre­nalin am Wochen­ende. Erst da hatte ich das Gefühl, dass ich wieder bereit war.“

Ein unmo­ra­li­sches Angebot?

Die Gele­gen­heit zur Rück­kehr in den Pro­fi­fuß­ball kam schnell und über­ra­schend. Er arbei­tete als Co-Kom­men­tator des Schweizer Fern­se­hens für die EURO 2008, als ein gewisser Pete Win­kelman sich bei ihm mel­dete.

Der ehe­ma­lige Musik­pro­du­zent ist Vor­stands­vor­sit­zender der Milton Keynes Dons, eines höchst umstrit­tenen Dritt­li­gisten, der erst wenige Jahre zuvor aus der Kon­kurs­masse des FC Wim­bledon ent­standen war. Unter Win­kel­mans Füh­rung hatte ein finanz­starkes Kon­sor­tium den Tra­di­ti­ons­verein umge­sie­delt und 90 Kilo­meter nörd­lich von London in der Retor­ten­stadt Milton Keynes neu auf­ge­setzt. Unter dem Namen MK Dons nahm der Klub 2004 den Spiel­be­trieb auf – und jeder echte“ Fuß­ballfan hasste ihn.

Hinter dem Angebot an Di Matteo ver­mu­teten nun viele eine PR-Maß­nahme: Win­kelman wolle seinem häss­li­chen Ent­lein nur einen attrak­tiven Namen vor­spannen. Di Matteo aber erkannte seine Chance als Trai­ner­no­vize – und nutzte sie. Nach nur einer Saison wurde er von West Brom­wich Albion in die zweite eng­li­sche Liga abge­worben.

Seine zweite Kar­riere nahm Fahrt auf: Auf Anhieb gelang der Auf­stieg, ein starker Sai­son­start in der Pre­mier League brachte ihm im Sep­tember 2010 den Titel als Eng­lands Trainer des Monats. Die Hin­runde lief gut! Wir waren Achter in der Tabelle, und die Leute fragten, ob ich mich schon bei einem großen Klub sehe“, erin­nert sich Di Matteo. Doch die Geschichte nahm eine uner­war­tete Wen­dung: Im Februar saß ich dann irgendwo am Strand und war arbeitslos. Damit hatte ich nicht gerechnet. Absolut nicht.“

Ein schlechter Lauf zu Jah­res­be­ginn und die Ent­las­sung von Roy Hodgson in Liver­pool besie­gelten das über­ra­schende Ende. Di Matteo rech­nete mit einem Sta­tus­be­richt an den Vor­stand, als er zu einem tur­nus­mä­ßigen Mee­ting erschien. Am Ende hielt er seine Kün­di­gung in der Hand, Hodgson über­nahm bei West Brom.

Der Ruf aus der Heimat

Wieder war es ein rechter Haken des Schick­sals, der Di Matteo unvor­be­reitet traf. Doch diesmal fiel er nicht ins Boden­lose, son­dern gera­de­wegs durch eine offene Tür. Denn nur drei Monate später klin­gelte erneut das Telefon. In der Lei­tung war Andre Villas-Boas. Das Wun­der­kind der Trai­ner­gilde war gerade für 15 Mil­lionen Euro vom FC Chelsea ver­pflichtet worden und suchte nun einen Assis­tenten mit Stall­ge­ruch. Wir waren schnell auf einer Wel­len­länge, hatten die gleiche Phi­lo­so­phie von Fuß­ball“, erkannte Di Matteo und sagte noch am selben Tag zu. Er war wieder daheim, zurück beim FC Chelsea. 

Natür­lich arbei­teten die zyni­schen Mecha­nismen des Geschäfts zwar auch dort weiter, doch diesmal trieben sie seine eigene Kar­riere voran. Denn das per­ma­nente Auto­ri­täts­pro­blem von Villas-Boas an der Stam­ford Bridge dau­erte nur ganze 256 Tage, dann hatte Klub­be­sitzer Roman Abra­mo­witsch genug gesehen. AVB wurde gefeuert, Di Matteo zum Inte­rims-Coach ernannt.

Von seinen ersten 15 Spielen als Chef verlor er nur eins, holte zwölf Siege und nebenbei, natür­lich, den FA Cup. Sein größter Coup aber gelang ihm in der Cham­pions League, gut eine Woche nach der Beför­de­rung: Das 4:1 nach Ver­län­ge­rung gegen den SSC Neapel. Das Hin­spiel hatte Villas-Boas mit 1:3 ver­loren.

Dabei hatte Di Matteo auf den ersten Blick nicht spek­ta­kulär viel ver­än­dert. Die Umstel­lung von 4−3−3 auf 4−2−3−1 betrifft die offen­sive Grund­ord­nung nur in Nuancen, auch das Per­sonal blieb im Wesent­li­chen das­selbe. Ent­schei­dend war vor allem eine tak­ti­sche Neu­aus­rich­tung: Chelsea zieht die Flü­gel­spieler nun 30 bis 40 Meter weiter zurück, ver­zichtet auf frühes Pres­sing, steht ins­ge­samt tiefer und spielt nach Bal­ler­obe­rung viel schneller in die Spitze.

Cesc Fab­regas geriet fast ins Schwärmen, nachdem er sich mit dem FC Bar­ce­lona im Halb­fi­nale die Zähne am Lon­doner Boll­werk aus­ge­bissen hatte: Chelsea ist wieder zu seinem erfolg­rei­chen Stil zurück­ge­kehrt und ist damit extrem gefähr­lich. Die Mann­schaft über­rollt dich wie ein Motorrad: Schnell und direkt im Spiel nach vorne, mit Didier Drogba als Anspiel­sta­tion im Zen­trum. Sie können wahn­sinnig schnelle Konter fahren!“

Respekt für den neuen Trainer

Die wich­tigste Ver­än­de­rung aber betrifft wohl das Ver­hältnis zu den Fans, zur Mann­schaft und spe­ziell zum Klüngel der alten Garde um John Terry, Ashley Cole, Frank Lam­pard und Petr Cech. Wäh­rend der erst 34-jäh­rige Villas-Boas selbst nie Pro­fi­fuß­ball gespielt hat und nicht zuletzt an der Show-me-your-medals-Men­ta­lität der män­ner­bün­di­schen eng­li­schen Kabi­nen­kultur geschei­tert war, kann Di Matteo nicht nur seine Narben vom Kampf vor­zeigen – son­dern immerhin auch sechs eigene Titel mit dem FC Chelsea.

Tat­säch­lich dau­erte es nicht lange, bis sich der eher distan­zierte und angeb­lich ver­snobte Di Matteo mit den Spie­lern in den Armen lag. Und wäh­rend Abra­mo­witsch immer noch zögert, spricht sich die Mann­schaft öffent­lich für den Trainer aus. Selbst Terry macht inzwi­schen Wer­bung: Di Matteo hat ganz offen­sicht­lich einen tollen Job gemacht, ohne ihn stünden wir nicht da, wo wir jetzt sind. Er ist sehr lei­den­schaft­lich, er ist Chelsea durch und durch. Und das über­trägt er auch auf die Spieler.“

Die alten Hau­degen akzep­tieren den neuen Coach als einen der ihren. Ein Schul­ter­schluss zur rechten Zeit, schließ­lich hat die einst gol­dene Gene­ra­tion am Samstag wohl die letzte Chance, ihre noch unvoll­endete Ära mit dem Sieg in der Cham­pions League zu krönen. Auch des­halb teilen sie den Traum ihrer Fans: Die einst so trau­rige Geschichte soll ihr Happy End bekommen. Mit Roberto Di Matteo als Pokal­held.