Gegen alle Gesetze der Branche hat sich bei Borussia Mönchengladbach ein etwas anderes Fanmagazin etabliert. 15 Jahre nach der Gründung ist „Torfabrik“ einflussreicher als je zuvor.
Gerade waren Marc Basten und Jan van Leeuwen noch im Trainingslager am Tegernsee. Jetzt stehen sie schon wieder im Nordpark, der Heimat ihres Herzensklubs. Vor dem Vormittagstraining kommt Uwe Kamps zu ihnen. „Darüber, was ihr am Wochenende geschrieben habt, müssen wir noch mal sprechen“, sagt der Torwarttrainer von Borussia Mönchengladbach. Er selbst hat den Text nicht gelesen, aber der Inhalt ist ihm natürlich zugetragen worden. Was „Torfabrik“ schreibt, so heißt die Online-Plattform der beiden Fans, ist immer ein Thema rund um den Nordpark. Sie verabreden sich für nach dem Training.
Als „Torfabrik“ vor 15 Jahren anfing, im Internet über Borussia zu berichten, war Kamps selbst noch Torwart, und sie schrieben, dass ihnen das Herz in die Hose rutsche, wenn er den Fünfmeterraum verlasse. Ihre Texte vereinigen seither das Unmögliche: Leidenschaft und Sachkenntnis, Vereinsbrille und objektiven Blick. Damit ist „Torfabrik“ das populärste unabhängige Vereinsmagazin in Deutschland, im Januar etwa hatte ihre Website 1,4 Millionen Besucher.
Eigentlich waren die beiden nach dem Training nicht mit Kamps, sondern mit Tony Jantschke verabredet. Der Abwehrspieler ist bekennender „Torfabrik“-Leser. Wenn ihm ein Text besonders gut gefällt, verlinkt er ihn auf seiner Facebook-Seite. Die Fan-Journalisten sagen über den Spieler, er sei ein reflektierter Typ, der sich nicht über Tattoos und Autos definiere. Man könnte auch sagen: Er ist ein „Torfabrik“-Traumspieler. Das ist keine Selbstverständlichkeit, denn in den letzten 15 Jahren haben die Macher viele Illusionen verloren. „Ich habe viele Luftpumpen kennengelernt“, sagt Basten.
„Wir hauen keinen in die Pfanne“
Keine Luftpumpe war Thomas Broich. Das Interview 2006 im Trainingslager an der Costa Blanca sollte 15 Minuten dauern, doch Broich redete sich über Stunden sein ganzes Leid von der Seele. Sie haben das Gespräch nicht in kompletter Länge veröffentlicht, „denn wir hauen keinen in die Pfanne“, sagt Basten. Auch deshalb sind sie immer bestens informiert.
Was die heute fünf Mitarbeiter recherchieren und publizieren, entsteht nach wie vor in der Freizeit. Anfangs waren sie nur zweieinhalb Leute, und die erste Homepage blinkte wie ein Flipper beim Freispiel. Statt Google Analytics nutzten sie einen Counter. Als der zum ersten Mal anzeigte, dass 50 User einen Text gelesen hatten, sind sie vor Freude durchgedreht. Während sich andere Fan-Magazine den Blick aus der Kurve auf die Fahnen schrieben, wollten sie schon damals anders sein: Weg von den biergeschwängerten Auswärtsfahrt-Storys, hin zu ernstzunehmenden Spielberichten. Die „Torfabrik“-Macher schrieben über ihren Klub wie Journalisten.
Gastautoren im Osten
Jan van Leeuwen, ein freundlicher Mann mit Glatze, ist jetzt auch schon 13 Jahre dabei. Der Niederländer, eigentlich Bahnangestellter, lebt gleich hinter der Grenze in Tilburg und war zu Zweitligazeiten der „Allesfahrer“, den die Gründer dringend gesucht hatten. Damals gab es noch kein Pay-TV, das jedes Zweitligaspiel ins Wohnzimmer übertrug. So mussten die Spiele im Osten, in Chemnitz oder Cottbus, häufiger mit Gastautoren besetzt werden. Improvisation war an der Tagesordnung, auch bei Van Leeuwen: „Ich hatte damals selbst gar keinen PC.“ Dass er seine Texte schreiben und verschicken konnte, verdankte er der Bibliothek von Tilburg, die kostenloses Internet anbot.
2001 wurden sie in den internen Pressespiegel von Borussia Mönchengladbach aufgenommen, und Hans Meyer nahm erstmals Notiz von ihnen. Der damalige Trainer, der Journalisten ziemlich hart angehen konnte, nahm gerade die Hobbyjournalisten ernst, weil sie seiner Meinung nach ihren Job gut machten. Einmal zeigte er einem Spieler, Marcel Witeczek, als erzieherische Maßnahme eine Einzelkritik von „Torfabrik“. Basten sagt: „Meyer hat uns Tür und Tor geöffnet.“ Der Trainer empfing sie in seiner Kabine, in die sonst kein anderer Journalist durfte. Als er in Mönchengladbach nicht mehr im Amt war, lud er sie sogar zu sich nach Hause ein und zeigte ihnen stolz seinen neuen Computer. Meyer konnte die „Torfabrik“-Texte jetzt auch ohne fremde Hilfe aufrufen.
Basten, intellektueller Kopf von „Torfabrik“, ist eigentlich Sachbearbeiter und lebt in Olpe, 75 Autominuten vom Borussia-Park entfernt. Sein erstes Spiel hat er 1976 auf dem Bökelberg gesehen. Heute hat er neben dem 40-Stunden-Job und der Arbeit für „Torfabrik“ keine Freizeit mehr. Seit 2000 hat er kein Pflichtspiel mehr ohne Laptop gesehen und nur drei Heimspiele verpasst.
Im Laufe der Jahre profitierte „Torfabrik“ von den Entwicklungen im Fußballjournalismus. Dazu gehört einerseits das vielfältige Verlinkungswesen, denn der tägliche Pressespiegel auf der Website wird regelmäßig am meisten gelesen – durchaus zur Freude der professionellen Konkurrenz. Der Kollege eines großen NRW-Nachrichten-Portals steckte ihnen neulich: „80 bis 90 Prozent unserer Leser kommen über euch.“ Auf der anderen Seite gibt es in Zeiten von Twitter und Facebook kaum noch Exklusivität. Und sollte jemand irgendetwas zuerst vermelden können, ist es zehn Minuten später sowieso überall zu lesen. Trotzdem landet „Torfabrik“ dank eines verlässlichen Netzwerks von Zuträgern gelegentlich einen kleinen Scoop. Dass Luuk de Jong und Raffael nach Gladbach wechseln würden, konnten die Fans zuerst bei ihnen lesen.
Aber für die Leser ist noch etwas anderes wichtig. Zwar wächst die Seite am schnellsten während der Transferperiode, wenn alle wissen wollen, wer kommt und geht. Aber mindestens genauso groß ist das Interesse in Zeiten sportlichen Misserfolgs. Dann sind die Fans auf der Suche nach seriösen Erklärungen und fühlen sich auf „Torfabrik“ gut aufgehoben. So begreift Marc Basten die Unabhängigkeit als ihr größtes Gut. Und weil „Torfabrik“ nicht bedingungslos auf steigende Klickzahlen angewiesen ist, müssen die Macher auch keine Boulevardthemen mitnehmen. Dass Max Kruse einen Maserati fährt, ist für sie nebensächlich. „Und wenn nichts passiert, schreiben wir auch nichts. Wenn drei Zeitschriften eine Christoph-Kramer-Geschichte machen, brauchen wir das nicht auch noch zu tun“, sagt Basten.
Jantschke: „Die Jungs blicken einfach durch“
Einmal gab es sogar ein Übernahmeangebot der „Rheinischen Post“. Sie fuhren gemeinsam nach Düsseldorf, wo der zugehörige Verlag seinen Hauptsitz hat. Mit dabei war auch Mitgründer Olaf Kozany, ihr Webmaster und Fotograf. Sie wollten einfach wissen, wie sich das anfühlt, wenn man plötzlich solche Wertschätzung erfährt. „Wir haben es aber nie ernsthaft in Betracht gezogen, unsere Plattform zu verkaufen“, sagt Basten. Seit 2005 arbeiten sie dank einiger Werbebanner zumindest kostendeckend.
Als das Vormittagstraining vorbei ist, sitzen sie in der Stadionbar „Gladbach“ mit Tony Jantschke zusammen. Erstmals interviewt haben sie ihren Musterprofi, da war er gerade aus der zweiten Mannschaft hochgekommen. Er wiederum schätzt ihre Einzelbewertungen, empfindet sie als fair, jedenfalls meistens. „Die Jungs blicken einfach durch“, sagt Jantschke. In den fünf Jahren bei Borussia hat er sich angewöhnt, ihnen eine SMS zu schicken, wenn er doch mal über etwas stolpert. Einmal, als sie auf Schalke spielten, hatten seine liebsten Kritiker etwas falsch interpretiert. „Wir haben kurz darüber gesimst, und schon war alles wieder in Ordnung“, sagt Jantschke.
Diskussion mit Uwe Kamps
Dann kommt Uwe Kamps dazu, denn Basten hatte am Wochenende geschrieben, dass Gladbach ein Torwartproblem habe, wenn die Nummer eins, Yann Sommer, ausfällt. Kamps ist wild entschlossen, seine anderen Schützlinge zu verteidigen, denn er fürchtet, dass der Text von vornherein für eine negative Grundstimmung beim Publikum sorgt. So einflussreich ist „Torfabrik“ inzwischen. Kamps fragt Basten ab: Wie oft hat welcher Torwart vor der Saison gespielt? Er diskutiert über vermeintliche Fehler, und während seine Gesichtsfarbe zeitweise ins Rötliche wechselt, erklärt er dem schreibenden Fan die detailliertesten Feinheiten des Torwartspiels. Kamps weiß um die Fachkenntnis der „Torfabrik“-Macher und dass er sie inhaltlich überzeugen muss.
Erstaunlich an ihrem Erfolg ist, dass er einer gegen den Zeitgeist ist. Woanders ziehen die Vereine immer mehr die Berichterstattung an sich, vergrößern die Medienabteilungen und schotten die Profis ab. Auch in Mönchengladbach hat sich die Zahl der Mitarbeiter in diesem Bereich massiv erhöht, aber trotzdem geht morgens jeder Gladbach-Fan zuerst auf den Pressespiegel der unabhängigen Plattform, um sich auf den neuesten Stand der Dinge zu bringen.
Gladbachs Pressesprecher Markus Aretz hat die Fanseite 2001 nicht nur in den internen Pressespiegel aufgenommen, sondern auch gegen anfängliche Widerstände tatkräftig unterstützt. „Für mich waren das immer richtige Journalisten“, sagt er. Was „Torfabrik“ mache, sei seriös und fundiert, der einzige Unterschied zu anderen Medien sei, dass sie eine geschlossene Zielgruppe hätten. Aber gerade weil sie für die Fans schreiben, sind sie auch für den Klub besonders wichtig.
Die Borussia pflegt jedoch sowieso einen besonderen Umgang mit ihren Fan-Journalisten. Einen redaktionellen Mitarbeiter von „Seitenwahl“, einem anderen ambitionierten Fan-Portal, haben sie vor ein paar Jahren in der Scoutingabteilung angestellt. Heute erstellt er für Manager Max Eberl die Dossiers über potentielle neue Spieler, hauptberuflich.
„Endlich kann ich mal über Fußball sprechen“
Nach 15 Jahren wissen Basten und van Leeuwen fast alles über die Borussia. Nur Trainer Lucien Favre hat sie neulich doch noch überraschen können. Er sprach sie eines Tages auf eine drei Jahre alte Einzelkritik an. Sie seien die Einzigen gewesen, die im Mai 2011 bemerkt hätten, mit welcher taktischen Maßgabe er Havard Nordtveit auf den Platz geschickt hatte. „Wir waren vollkommen perplex, konnten uns überhaupt nicht mehr daran erinnern“, sagt Basten.
Möglicherweise haben sie in Favre wie einst in Meyer wieder einen Trainer als Freund gefunden. Kürzlich, nach dem Trainingslager am Tegernsee, flogen sie am selben Tag nach Hause wie die Mannschaft. Favre entdeckte sie am Flughafen München zwischen Duty-free-Shop und Boarding, stellte sich zu ihnen und sagte: „Endlich kann ich mal über Fußball sprechen.“ Dann redeten sie ziemlich lange, bis ein gewisser „Lucien Favre“ als letzter fehlender Passagier ausgerufen wurde. Der Gladbach-Trainer war davon ausgegangen, dass die „Torfabrik“-Leute mit der Mannschaft fliegen würden, und rettete sich mit einem bemerkenswerten Sprint in die Maschine. Das Gespräch, da sind Basten und van Leeuwen zuversichtlich, wird sicherlich bald fortgesetzt.