Vor zehn Jahren wurden im Stadion von Port Said 72 Fußballfans ermordet. Hier erzählen die Ultras von Al-Ahly von der schwarzen Nacht und ihren Folgen.
Die größte Todesfalle jedoch wurde das Treppenhaus, Hunderte flohen voller Panik hierhin. Dort prallten sie auf das verriegelte Tor, wurden gegen das Gitter gepresst, stürzten übereinander. Auf der anderen Seite stand immer noch der Polizist Muhamed. „Ohne ihn wären wahrscheinlich doppelt so viele Menschen gestorben“, sagt Shawkat. Verzweifelt versuchte er, das Tor zu öffnen, obwohl ihm klar gewesen sein muss, dass er erdrückt würde, wenn es ihm gelänge. Dann öffnete es sich. Mit 27 Jahren war Yussuf Muhamed das älteste Todesopfer, seine Frau erwartete ein Kind.
Nach 15 Minuten Gemetzel ging das Stadionlicht an, und die Angreifer verschwanden, ganz so, als ob sie ein Zeichen bekommen hätten. Warum sie plötzlich abließen, weiß Shawkat bis heute nicht. „Sie hätten uns auch alle töten können.“
Das Spiel des Klubs mit den 60 Millionen Anhängern war im Fernsehen übertragen worden, und alle hatten sehen können, dass es Ausschreitungen gab. Über die sozialen Medien sickerten erste Informationen über das Ausmaß des Horrors durch. „Zunächst war die Rede von zwei Toten, aber ein paar Minuten später schon von 20“, sagt Mustafa Mekki, der zur gleichen Zeit in Kairo beim Spiel von Zamalek gegen Ismailia war, das später angefangen hatte. Zur Pause zündeten die Ultras White Knights hinter dem Stadion ein riesiges Feuer an, als Fanal, mit dem sie für einen Spielabbruch sorgten.
Al-Ahly-Fan Amr Ali hatte eigentlich selber nach Port Said fahren wollen, dann aber arbeiten müssen. Jetzt versuchte er, wie so viele andere, einen guten Freund zu erreichen, der dort war. Am Tag zuvor hatte er ihn, anders als sonst, mit einer Umarmung verabschiedet. „Bist du schwul, oder was?“, hatte der lachend gefragt. Jetzt ging er nicht ans Telefon, aber in der Panik von Port Said hatten viele ihr Handy verloren, andere waren beraubt worden. Den größten Horror erlebte eine junge Frau aus Alexandria, wie sie später dem Sender Al Jazeera erzählte. Als sie ihren kleinen Bruder zu erreichen versuchte, der nach Port Said gefahren war, ging jemand an sein Telefon und sagte: „Wir haben ihn getötet.“ Als sie fassungslos fragte, wer da mit ihr spreche, sagte er: „Mit dem Mörder deines Sohns.“
Als das Telefon von Ahmed Shawkat klingelte, war die Mutter des Nachbarsjungen Muhamed Khaled dran, den er nach Port Said mitgenommen hatte. Sie konnte ihren Sohn nicht erreichen. Doch Shawkat, selbst noch unter Schock, hatte ihn aus den Augen verloren, als der Angriff auf die Kurve begann. Jetzt lagen überall Verletzte und Tote. Einige Fans waren sogar in die Umkleidekabine von Al-Ahly geflohen, einer starb in den Armen von Starspieler Mohamed Aboutrika. Aber vielleicht war Muhamed Khaled auch in einem Krankenwagen weggebracht worden.
Drei Stunden wurden sie am Stadion hinter einem Kordon aus Soldaten festgehalten. Menschen aus der Nachbarschaft, die helfen wollten, wurden nicht durchgelassen. Dann brachte das Militär die traumatisierten Fans zum Bahnhof. In einem unbeleuchteten Zug fuhren sie durch die Nacht und nur das Wimmern der auf dem Boden liegenden Verletzten war zu hören. Hunderte hatten Wunden, aber die meisten wollten in Port Said nicht ins Krankenhaus, aus Angst, dort getötet zu werden.
„Die aus dem Zug stiegen, sahen aus, als kämen sie aus dem Krieg“
Als sie am frühen Morgen in Kairo ankamen, waren die Bahnsteige überfüllt. „Die aus dem Zug stiegen, sahen aus, als kämen sie aus dem Krieg“, sagt Ali, der mit Tausenden gekommen war, um Kinder, Brüder oder Freunde zu suchen. Seinen Freund fand er nicht. Auch Muhamed Khaled blieb verschwunden, und so fuhr Shawkat mit dessen Mutter am nächsten Tag nach Port Said, um die Krankenhäuser und die Leichenschauhäuser abzusuchen. Dort erfuhren sie, dass die Leichen und die Schwerverletzten von einer Militärmaschine nach Kairo gebracht worden waren.
In Kairo gingen sie dorthin, wo die Toten von Port Said in Reihen aufgebahrt waren. Es war fürchterlich. „Wir haben uns Toten für Toten angeschaut. Einigen war „Port Said“ oder „UGE“ in die Stirn geritzt worden – Ultras Green Eagles.“ Die Mörder demütigten ihre Opfer noch im Tod. Ihren Sohn konnte Muhameds Mutter nur anhand der Schuhe identifizieren. Sein Gesicht war zu entstellt, er war im Gedränge vor dem verschlossenen Tor erdrückt worden. Auch der Freund von Amr Ali lag im Leichenschauhaus. Der Trommler von Al-Ahly war tot.