Vor zehn Jahren wurden im Stadion von Port Said 72 Fußballfans ermordet. Hier erzählen die Ultras von Al-Ahly von der schwarzen Nacht und ihren Folgen.
Was wisst ihr eigentlich über Al-Ahly? Etwas unvermittelt steht die Frage im Raum, aber Ahmed Shawkat muss unbedingt klar machen, wie groß sein Klub ist. In diesem Restaurant in Istanbul, mehr als tausend Kilometer von Kairo entfernt, ist das natürlich schwer nachzuvollziehen. Doch seinem Freund Amr Ali und ihm ist das wichtig. Also: Al-Ahly wurde 38 Mal ägyptischer Meister, häufiger als alle anderen im Land. Al-Ahly gewann 19 afrikanische Pokale, mehr als alle anderen des Kontinents. Einen größeren Klub findet man nicht in Afrika, und auch nicht viele in der Welt. Einhundert Millionen Anhänger zähle Al-Ahly, in Ägypten allein seien es sechzig Millionen, schwärmen die beiden Ultras der ersten Stunde. Keine Partei, keine Gewerkschaft, keine andere Organisation bringt dort so viele Menschen zusammen. „Wenn es den Klub nicht gäbe, würde ich das ganze Land nicht wollen“, sagt Shawkat.
Früher hätte Mustafa Mekki, der neben ihnen sitzt, in diesem Moment wahrscheinlich zumindest abschätzig mit den Augen gerollt. Auch er ist Ultra, aber von Zamalek, Al-Ahlys großen Rivalen, der ebenfalls Millionen Anhänger hat. Doch in der Fremde ist das Verbindende wichtiger als das Trennende. Mekki ist 26 Jahre alt, die beiden anderen sind ein Jahr jünger. Alle drei haben in ihrer Heimat Jura studiert und mal gehofft, aus Ägypten ein gerechteres Land zu machen. Sie haben dafür auf den Straßen von Kairo gekämpft, als dort 2011 der Arabische Frühling begann. Und sie haben irgendwann aufgegeben, verließen ihr Land, kamen nach Istanbul, als Auswanderer und auch als Exilanten.
Sie sind in dieses Restaurant gekommen, um ihre Geschichte zu erzählen und die Geschichte eines Fußballspiels, das sich in diesen Tagen jährt. Vor fünf Jahren, am 1. Februar 2012 in Port Said, spielte der heimische Klub Al-Masry gegen Al-Ahly, danach starben bei Ausschreitungen 72 Menschen. Wobei „Ausschreitungen“ nicht einmal ansatzweise das beschreibt, was in jener Nacht geschah. Denn die Menschen in der Fankurve von Al-Ahly wurden in den Tod getrieben oder schlichtweg massakriert.
Was an jenem Abend geschah, hatte Auswirkungen auf die Lebenswege einer ganzen Generation junger Ägypter. Ohne dieses Spiel wären auch die drei jungen Männer nicht in Istanbul; in die Türkei können Ägypter problemlos gelangen. Ahmed Shawkat, den eine Aura großer Ernsthaftigkeit umgibt, kam vor zweieinhalb Jahren und arbeitet heute als Stadtführer für arabische Touristen. Der betont lässige und flippige Amr Ali ist erst seit gut einem halben Jahr da und schlägt sich mit Übersetzungsjobs durch, nebenbei betreut er ehrenamtlich Kinder von Flüchtlingen. Mustafa Mekki kam schon 2013, ist inzwischen mit einer Türkin verlobt und jobbt als Aufseher in einer kleinen Textilfabrik. Ihr Leben in der Türkei ist nicht einfach, oft ist das Geld knapp, aber hier können sie ihre Geschichte offen erzählen, ohne Angst vor den Spitzeln der Geheimpolizei, die in Kairo an jeder Ecke lauern. Denn aus dem Arabischen Frühling ist in ihrer Heimat längst ein eisiger Winter der Repression geworden.
Ahmed Shawkat war damals in Port Said. An jenem Mittwoch holte er zunächst Muhamed Khaled, einen 16-jährigen Nachbarsjungen, von zu Hause ab. Eigentlich wollte der die Auswärtsfahrt nicht mitmachen, um sich auf Prüfungen in der Schule vorzubereiten. Doch Shawkat hatte ihm erklärt, dass ein echter Ultra immer dabei sein müsse. Also gingen sie gemeinsam zum Treffpunkt in ihrem Stadtviertel und zogen von dort aus mit den anderen Ultras zum Bahnhof, wo die 200 Kilometer lange Reise von Kairo in die Stadt am Mittelmeer begann.
Shawkat selbst ist seit seiner Kindheit ins Stadion gegangen, an der Hand seines Vaters, sogar die Mutter kam gelegentlich mit. Die Familie war Al-Ahly durch und durch. 2007 gehörte er zu den 25 Gründern der Ultras Ahlawy. Es war die Zeit, in der sich die Ultra-Idee in ganz Nordafrika fast gleichzeitig und mit beeindruckender Rasanz verbreitete, in Marokko, Algerien, Tunesien und in Ägypten, wo die Ultras von Al-Ahly die ersten im Land waren. Im Stadion sangen sie, dass sie dem Verein bis zum Tod treu bleiben würden.
Auf seinem Smartphone zeigt Shawkat einige Videos aus jener Zeit. Zehntausende Fans in roten Trikots stehen in der weit geschwungenen Kurve des Internationalen Stadions von Kairo, klatschen zusammen und singen gemeinsam, wie aus einem Mund. Es ist ein gewaltiger Anblick, aus den erst nur 25 Ultras Ahlawy waren längst 40 000 geworden. In jedem Stadtviertel von Kairo gab es Untergruppen, die darum wetteiferten, besonders gute, besonders treue Supporter zu sein. Beim Rivalen Zamalek formierten sich etwas später die Ultras White Knights und kamen in Windeseile ebenfalls auf zehntausende Mitglieder. Mustafa Mekki gründete in seinem Stadtteil eine Sektion.
Die Videos vermitteln ein beeindruckendes Gefühl davon, welches Gefühl von Freiheit und Gemeinschaft die Fans damals verbunden haben muss. Es gab nichts Attraktiveres, als Ultra zu sein in dieser Diktatur des ewigen Potentaten Hosni Mubarak, der sein Volk seit 30 Jahren per Notfallverordnung und krasser Repression beherrschte, ohne der Jugend eine Zukunft aufzeigen zu können. Und nun erlebten diese jungen Männer im Stadion erstmals ein Gefühl von Macht. Irgendwann hängten sie in ihrer Kurve ein Transparent auf: „We are Egypt“. Sie meinten ihren Klub, aber wohl auch sich selbst.
Ende der Nullerjahre reiste Shawkat erstmals nach Tunis, die Ultras Ahlawy hatten sich mit den Supras Sud von Esperance Tunis angefreundet. So gab es direkte Verbindungen in das Land, in dem der Arabische Frühling mit den Protesten gegen das Staatsoberhaupt Ben Ali begann. „Die Revolution dort hatte Einfluss auf uns“, sagt er und erzählt, wie sie tunesische Fahnen ins Stadion schmuggelten, um ihre Solidarität mit den Freunden in Tunis zu zeigen. Drei Tage vor Beginn des Aufstands gegen das Mubarak-Regime im eigenen Land war das. „Dann wurden wir eine der wichtigsten Kräfte unserer Revolution.“
Auch Amr Ali war bei den Ultras Ahlawy von Anfang an dabei, schon als sie ihre erste Choreografie vorbereiteten. In seinem Stadtteil übten sie auf dem Platz neben der Moschee und der Kirche der Jungfrau Maria dafür. Begeisterungsfähig waren sie von Anfang an – und unglaublich jung. Mitglied bei den Ultras konnte man bereits im Alter von zehn Jahren werden, 90 Prozent der Fans waren zwischen 13 und 20 Jahre alt. Die meisten kamen aus Mittelschichtsfamilien, sagt Ali. Sein Vater war Bankangestellter, der von Shawkat arbeitete als Lagerverwalter.
„Für die Polizei waren wir vor allem verrückte Kids, die nicht wissen, was sie mit ihrem Leben anfangen sollen“
Ultras wurden zur Jugendbewegung schlechthin und irritierten die Autoritäten. „Die Polizei wusste lange nicht, was sie mit uns machen sollte. Für sie waren wir vor allem verrückte Kids, die nicht wissen, was sie mit ihrem Leben anfangen sollen“, sagt Ali. Doch als die Ägypter im Januar 2011 erstmals gegen Mubarak auf die Straße gingen, wussten diese Kids sehr wohl, was sie wollten. Außerdem brachten sie eine Erfahrung mit, die den meisten Demonstranten fehlte: Beim Fußball waren sie oft mit der Polizei aneinandergeraten. Manchmal holten die Beamten willkürlich ein paar Leute aus dem Block, verprügelten sie oder steckten sie hinter Gitter. Ahmed Shawkat etwa hatte mal 16 Tage lang im Gefängnis gesessen, war dann aber freigesprochen worden. Immer wieder hatten sie bei Spielen offen gegen die Polizei gekämpft, Angst vor ihr hatten sie keine mehr.
Am ersten Tag der Revolution, dem 25. Januar 2011, kämpften die Ultras von Al-Ahly und von Zamalek gemeinsam die Brücken über den Nil frei und durchbrachen Polizeiketten, damit die Demonstranten zum zentralen Tahrir-Platz ziehen konnten. Dorthin, wo traditionell auch große Fußballsiege gefeiert wurden. In den Tagen darauf machten sie anderen Demonstranten Mut und beschützten sie. Zum ersten Mal wurden Fußballfans so zu Heroen einer Revolution. Doch dieses Heldentum gab es nicht geschenkt, das zeigt die Stirn von Amr Ali. An einigen Stellen ist die Haut uneben, darunter sind Schrotkugeln. Außerdem hat er auf der Stirn eine runde Narbe, wo ihn während einer Demonstration eine Polizeikugel traf.
So cool, wie Ali das erzählt, wird daraus ein verrücktes Abenteuer. Aber sein Leben war oft in Gefahr, zum ersten Mal am legendären „Freitag der Wut“, drei Tage nach Beginn der Aufstände. Damals lernte er im Getümmel einen gleichaltrigen Jungen kennen, der ihn bat, näher an die Mauer herankommen zu dürfen, an der beide standen. Es wurde nämlich gerade geschossen. „Einen Moment danach krallte er sich an meiner Schulter fest. Als ich mich umdrehte, war sein Bauch voller Löcher, aus denen Blut lief.“ Er war nicht der Letzte, den Ali sterben sah. Als er das erzählt, steigen ihm Tränen in die Augen.
Viele Menschen kamen in den achtzehn Tagen, bis Mubarak schließlich kapitulierte, ums Leben, auch einer der Ultras Ahlawy war unter den Toten. Nach dem Sturz des Despoten demonstrierten die Ägypter weiter, veranstalteten Protestlager und Sit-ins, denn das Militär wollte nicht von der Macht lassen. Im November 2011 kam es in Kairos Mohammed-Mahmoud-Straße, die direkt zum Innenministerium führt, zu besonders heftigen Kämpfen. Auch die drei Ultras aus Istanbul waren dabei, als Molotowcocktails und Steine flogen. Ultras bildeten Stoßtrupps, die Polizeiautos umstürzten und anzündeten, jüngere Fans sicherten den Nachschub an Wurfgeschossen, und auf Mopeds wurden die Verletzten abtransportiert. Einen Monat später wurde ein Ultra Ahlawy vom Militär so schwer misshandelt, dass er an den Verletzungen starb.
„Macht euer Testament, bevor ihr nach Port Said kommt“
Im Stadion hatte sich die Gruppe bis dahin politisch nicht geäußert, aber natürlich wussten Militär und Polizei, dass die sie auf Seiten der Revolution standen. „Auf der Straße haben wir immer als Ägypter demonstriert und nicht als Ultras“, sagt Ali. Doch Ende Januar 2012, vier Tage vor dem Spiel in Port Said, war das anders. Al-Ahly spielte daheim gegen einen der kleineren Klubs aus Kairo, und alle waren aufgebracht wegen des getöteten Ultras. Lauthals sangen sie gegen die Polizei und zum ersten Mal auch gegen den Supreme Council of the Armed Forces, die Militärregierung.
„Vor der Fahrt nach Port Said war uns auch deshalb nicht ganz wohl“, sagt Ahmed Shawkat. Die blutigen Straßenschlachten im November, bei der die Polizei die Kontrolle verloren hatte, und die offen feindseligen Gesänge im Stadion veränderten die Situation. Und Reisen nach Port Said waren schon in friedlichen Zeiten immer heikel gewesen. Die Atmosphäre der Spiele beim in Port Said beheimateten Klub Al-Masry war für Al-Ahly sogar erbitterter und feindseliger als beim großen Kairo-Derby gegen Zamalek. Die Leute in Port Said fühlen sich seit jeher gegenüber der Hauptstadt benachteiligt. So hatte es über die Jahre immer wieder Krawalle gegeben, wenn Al-Ahly kam. Beim letzten Spiel, acht Monate zuvor, waren es die Ultras Ahlawy gewesen, die in Port Said randalierten. Sie hatten Steine geworfen und Autos demoliert. Dieses Mal drohten ihnen die Green Eagles, die Ultras von Al-Masry, per Twitter-Nachricht mit dem Tod: „Macht euer Testament, bevor ihr nach Port Said kommt.“
Shawkat erzählt die Geschichte des Tages nüchtern und sachlich. Er rührt sich dabei kaum, ist hochkonzentriert, als wolle er Zeugnis ablegen, ohne sich von Emotionen mitreißen zu lassen. Ihr Zug aus Kairo sei bereits an einer Station zwanzig Kilometer vor Port Said gestoppt worden, erzählt er. „Wir sollten in Busse umsteigen und wurden dann, von Militär und Polizei bewacht, ins Stadion gefahren. Das war nicht normal“, sagt er. Als die zweitausend Fans in der Gästekurve des Stadions angekommen waren, das nur eine Querstraße vom Mittelmeer entfernt liegt, war noch etwas anderes ungewöhnlich, nur wussten sie es nicht: Die heimischen Fans waren nicht wie sonst üblich nach Waffen durchsucht worden.
Das ganze Spiel verlief chaotisch, schon der Anpfiff verzögerte sich um eine halbe Stunde. Und obwohl Al-Masry zur Pause mit 1:0 führte, stürmten einige heimische Fans den Platz und versuchten, zum gegnerischen Block zu gelangen. Bei Spielende, die Gastgeber hatten 3:1 gewonnen, kamen sie wieder. Erst sah es wie eine wilde, aus der Fassung geratene Siegesfeier aus, bei der die heimischen Fans den Spielern aus Kairo nachjagten, um ihnen Tritte und Schläge zu versetzen. Doch dann wendeten sie sich der Gästekurve zu, dazwischen zwei Reihen behelmter Polizisten. Und Ungeheuerliches geschah: Die Polizisten traten zur Seite und erlaubten den Sturm auf die Gästekurve. Die Fans von Al-Masry schossen zunächst mit Feuerwerkskörpern, holten dann Knüppel hervor, Macheten so lang wie Unterarme, abgebrochene Glasflaschen. Dann erlosch das Flutlicht.
An dieser Stelle, da Fürchterliches bevorsteht, will Ahmed Shawkat noch vom 27-jährigen Yussuf Muhamed erzählen, einem der ältesten und erfahrensten Fans in der Kurve. Noch ungewöhnlicher war, dass er Ultra und zugleich Polizist war, niemand auf seiner Arbeitsstelle durfte das wissen. Muhamed war in der 75. Minute auf die Toilette gegangen, und als er kurz danach in die Kurve zurückkehren wollte, stellte er verblüfft fest, dass das Tor am Ende des Treppenhauses verschlossen worden war. Es ist bis heute nicht klar, ob dieses Tor mit einem Vorhängeschloss abgeschlossen oder sogar zugeschweißt wurde. Eines aber steht unzweifelhaft fest: der einzige Ausgang der Gästekurve war nun blockiert. Niemand würde rauskommen.
Als das Licht im Stadion ausging und die Bewaffneten über die Zäune in ihre Kurve stürmten, war Shawkat sofort klar, dass es sich hier nicht um eine aus den Fugen geratene Fußballschlägerei handelte. Er vermutet, dass sich unter die Fußballfans auch Schläger des Regimes gemischt hatten. „Das Ziel war jedenfalls ganz klar, uns umzubringen“, sagt er. In der allgemeinen Panik schlug er kurz vor dem Treppenhaus zum Ausgang hin und fiel aufs Gesicht – dann stellte er sich tot, während um ihn herum das Sterben begann. Fans wurden erstochen und erschlagen. Sie wurden über die Brüstung am Rand der Tribüne geworfen und schlugen unten auf dem Asphalt auf. „Es kam jemand und wollte mich an den Haaren hochziehen. Aber ein anderer sagte: ‚Komm, lass ihn liegen, der ist doch schon tot.‘“
Die größte Todesfalle jedoch wurde das Treppenhaus, Hunderte flohen voller Panik hierhin. Dort prallten sie auf das verriegelte Tor, wurden gegen das Gitter gepresst, stürzten übereinander. Auf der anderen Seite stand immer noch der Polizist Muhamed. „Ohne ihn wären wahrscheinlich doppelt so viele Menschen gestorben“, sagt Shawkat. Verzweifelt versuchte er, das Tor zu öffnen, obwohl ihm klar gewesen sein muss, dass er erdrückt würde, wenn es ihm gelänge. Dann öffnete es sich. Mit 27 Jahren war Yussuf Muhamed das älteste Todesopfer, seine Frau erwartete ein Kind.
Nach 15 Minuten Gemetzel ging das Stadionlicht an, und die Angreifer verschwanden, ganz so, als ob sie ein Zeichen bekommen hätten. Warum sie plötzlich abließen, weiß Shawkat bis heute nicht. „Sie hätten uns auch alle töten können.“
Das Spiel des Klubs mit den 60 Millionen Anhängern war im Fernsehen übertragen worden, und alle hatten sehen können, dass es Ausschreitungen gab. Über die sozialen Medien sickerten erste Informationen über das Ausmaß des Horrors durch. „Zunächst war die Rede von zwei Toten, aber ein paar Minuten später schon von 20“, sagt Mustafa Mekki, der zur gleichen Zeit in Kairo beim Spiel von Zamalek gegen Ismailia war, das später angefangen hatte. Zur Pause zündeten die Ultras White Knights hinter dem Stadion ein riesiges Feuer an, als Fanal, mit dem sie für einen Spielabbruch sorgten.
Al-Ahly-Fan Amr Ali hatte eigentlich selber nach Port Said fahren wollen, dann aber arbeiten müssen. Jetzt versuchte er, wie so viele andere, einen guten Freund zu erreichen, der dort war. Am Tag zuvor hatte er ihn, anders als sonst, mit einer Umarmung verabschiedet. „Bist du schwul, oder was?“, hatte der lachend gefragt. Jetzt ging er nicht ans Telefon, aber in der Panik von Port Said hatten viele ihr Handy verloren, andere waren beraubt worden. Den größten Horror erlebte eine junge Frau aus Alexandria, wie sie später dem Sender Al Jazeera erzählte. Als sie ihren kleinen Bruder zu erreichen versuchte, der nach Port Said gefahren war, ging jemand an sein Telefon und sagte: „Wir haben ihn getötet.“ Als sie fassungslos fragte, wer da mit ihr spreche, sagte er: „Mit dem Mörder deines Sohns.“
Als das Telefon von Ahmed Shawkat klingelte, war die Mutter des Nachbarsjungen Muhamed Khaled dran, den er nach Port Said mitgenommen hatte. Sie konnte ihren Sohn nicht erreichen. Doch Shawkat, selbst noch unter Schock, hatte ihn aus den Augen verloren, als der Angriff auf die Kurve begann. Jetzt lagen überall Verletzte und Tote. Einige Fans waren sogar in die Umkleidekabine von Al-Ahly geflohen, einer starb in den Armen von Starspieler Mohamed Aboutrika. Aber vielleicht war Muhamed Khaled auch in einem Krankenwagen weggebracht worden.
Drei Stunden wurden sie am Stadion hinter einem Kordon aus Soldaten festgehalten. Menschen aus der Nachbarschaft, die helfen wollten, wurden nicht durchgelassen. Dann brachte das Militär die traumatisierten Fans zum Bahnhof. In einem unbeleuchteten Zug fuhren sie durch die Nacht und nur das Wimmern der auf dem Boden liegenden Verletzten war zu hören. Hunderte hatten Wunden, aber die meisten wollten in Port Said nicht ins Krankenhaus, aus Angst, dort getötet zu werden.
„Die aus dem Zug stiegen, sahen aus, als kämen sie aus dem Krieg“
Als sie am frühen Morgen in Kairo ankamen, waren die Bahnsteige überfüllt. „Die aus dem Zug stiegen, sahen aus, als kämen sie aus dem Krieg“, sagt Ali, der mit Tausenden gekommen war, um Kinder, Brüder oder Freunde zu suchen. Seinen Freund fand er nicht. Auch Muhamed Khaled blieb verschwunden, und so fuhr Shawkat mit dessen Mutter am nächsten Tag nach Port Said, um die Krankenhäuser und die Leichenschauhäuser abzusuchen. Dort erfuhren sie, dass die Leichen und die Schwerverletzten von einer Militärmaschine nach Kairo gebracht worden waren.
In Kairo gingen sie dorthin, wo die Toten von Port Said in Reihen aufgebahrt waren. Es war fürchterlich. „Wir haben uns Toten für Toten angeschaut. Einigen war „Port Said“ oder „UGE“ in die Stirn geritzt worden – Ultras Green Eagles.“ Die Mörder demütigten ihre Opfer noch im Tod. Ihren Sohn konnte Muhameds Mutter nur anhand der Schuhe identifizieren. Sein Gesicht war zu entstellt, er war im Gedränge vor dem verschlossenen Tor erdrückt worden. Auch der Freund von Amr Ali lag im Leichenschauhaus. Der Trommler von Al-Ahly war tot.
Die große Frage war die nach dem Warum. Warum wurden zum ersten Mal überhaupt Fußballfans in einem Stadion ermordet? Wer erlaubte, dass die Fans Waffen mit ins Stadion bringen konnten? Wer schaltete das Licht aus? Wer schloss das Ausgangstor ab? Warum wurde der Fluchtweg blockiert? Vor allem aber: Warum griffen Polizei und Militär bei dem Massaker nicht ein? Ahmed Shawkat meint: „Port Said ergibt einen Sinn, wenn man sich die Geschichte seit Beginn der Revolution anschaut.“ Für die alten Mächte waren die Ultras nicht mehr verrückte Kids, sie waren Feinde in einem blutigen Machtkampf geworden.
Und wie können sie weiterleben, nach solchem Horror, solcher Bösartigkeit? 14 der 72 Toten von Port Said waren Freunde von Ahmed Shawkat. „Sie sind für eine gute Sache gestorben und jetzt an einem besseren Ort“, sagt er. Bis heute erinnern die Ultras Ahlawy an ihre 74 Märtyrer, die 72 Toten von Port Said und die beiden, die schon vorher gestorben waren. Und vielleicht hilft es gegen den Schmerz, die Trauer und den Zorn wirklich, diesem Gemetzel einen Sinn zu geben, indem diese jungen Menschen, die doch teilweise fast noch Kinder waren, zu Märtyrern erklärt werden. Auf der Straße kämpften viele Ultras nach dem Massaker von Port Said noch wilder und radikaler. Auch Shawkat tat das und Ali, der kaum noch zur Ruhe kam. Ehrenamtlich gab er Rechtshilfe, für ein ägyptisch-amerikanisches Forschungsprojekt führte er Interviews, um Augenzeugen der Revolution eine Stimme zu geben. Dann wieder stand er in der ersten Reihe im Kampf gegen die Polizei.
„Es war sinnlos, einfach immer nur mehr Leute sterben zu sehen“
Fünf Monate nach Port Said, im Juni 2012, gewannen die Muslimbrüder die Wahlen in Ägypten und stellten den Präsidenten. Doch bald begannen Demonstrationen gegen die neue Regierung. Auch Ultras waren daran beteiligt oder Leute, die sich als Ultras ausgaben. Längst waren die Linien zwischen Gut und Böse verwischt. Endgültig scheiterte die Revolution im Sommer 2013, als das Militär gegen den Staatspräsident Mohammed Mursi putschte. Erneut gab es Massaker in Kairo, hunderte Menschen kamen zu Tode, vielleicht sogar tausende. „Wir haben damals aufgehört zu demonstrieren. Es war sinnlos geworden, einfach immer nur mehr Leute sterben zu sehen“, sagt Shawkat.
2013 wurden die Morde von Port Said in einem Prozess in der Polizeiakademie in Kairo verhandelt. Das Urteil wurde live im Fernsehen verlesen: Es gab 21 Todesurteile, die meisten gegen Mitglieder der Ultras Green Eagles. Zwei Polizisten bekamen Gefängnisstrafen, sieben wurden freigesprochen. Daraufhin setzten die Ultras Ahlawy in Kairo einen Polizeiclub in Brand und das Gebäude des Fußballverbandes. Auch in Port Said gab es gewalttätige Proteste. 2015 wurde die Zahl der Todesurteile auf elf reduziert, noch sind sie nicht rechtsgültig. Für die drei Ultras in Istanbul ist der Prozess eine Farce, weil er sich nicht um die Hintermänner kümmerte. „Die wahren Schuldigen werden sowieso nicht bestraft“, sagt Ali.
Die ägyptische Meisterschaft wurde nach Port Said abgebrochen. Bis heute finden die Ligaspiele ohne Publikum statt und können nur im Fernsehen verfolgt werden. Nur bei Länderspielen und afrikanischen Pokalwettbewerben darf eine begrenzte Zahl an Zuschauern ins Stadion.
Für den 8. Februar 2015, fast genau drei Jahre nach Port Said, kündigte der Präsident von Zamalek überraschend eine Ausnahme an. Als alter Parteigänger des Regimes hatte er sich stets vehement gegen die Ultras seines Klubs ausgesprochen, nun stellte er zehntausend Karten bereit. Mustafa Mekki, der seit dem Tag von Port Said nicht mehr im Stadion gewesen war, wollte unbedingt kommen. Er lebte bereits in Istanbul, war aber in Kairo zu Besuch. Doch seine Mutter verdonnerte ihn zum Besuch eines Familienfestes. „Vielleicht hat sie mir damit das Leben gerettet“, sagt er. Denn doppelt so viele Fans wie zugelassen kamen an jenem Tag zum Air Defense Stadium. Sie drängten auf einen einzigen Eingang zu, dann verstellte die Polizei den Rückweg und warf Tränengas in die Menge. In der Massenpanik starben 22 Menschen, die meisten Mitglieder der Ultras White Knights. „Ich glaube, dass es geplant war, damit die Fans gar nicht mehr ins Stadion zurückkommen“, sagt Mekki.
Die meisten Beobachter gehen eher davon aus, dass diese Katastrophe kein Komplott war, sondern Ausdruck der Inkompetenz der Polizisten und Militärs. Seither sitzt ein Anführer der Ultras White Knights in Untersuchungshaft und trat letztes Jahr wegen der Haftbedingungen in einen Hungerstreik. Mit dem Ende des Arabischen Frühlings werden Ultras in Ägypten teilweise nicht mehr nur verbal mit Terroristen gleichgesetzt, sondern auch so behandelt. Selbst Meinungsäußerungen in sozialen Medien sind von der Polizei schon verfolgt worden. Die Facebook-Seite der Ultras Ahlawy dient inzwischen vor allem dazu, der Toten zu gedenken.
„Dass man im Stadion sterben kann, hat mich fertiggemacht“, sagt Mustafa Mekki. Dennoch schaut er sich via Internet weiterhin fast jedes Spiel von Zamalek an, und die beiden anderen verpassen keines von Al-Ahly. Fußball ist geblieben, trotz allem. „Manchmal hasse ich den Fußball, manchmal vermisse ich ihn“, sagt Amr Ali. Mitunter hält er es kaum aus, die Spiele anzuschauen. Ahmed Shawkat hat bis heute Albträume von Port Said: „Aber wenn ich ins Stadion gehe, habe ich keine schlechten Gefühle.“ Letztes Jahr ist er sogar nach Kenia geflogen, als Al-Ahly dort spielte. Er wartet auf den Tag, an dem er wieder ganz normal eine Partie besuchen kann. Bis dahin postet er auf Twitter und Facebook unverdrossen über Al-Ahly, den größten Klub Afrikas.