Mit dem Boot floh Musa Juwara über das Mittelmeer nach Europa. Nun ist er auf dem besten Wege, in Italien seinen Traum zu verwirklichen und eine verstaubte Fußball-Floskel mit Leben zu füllen.
Es ist eine alte Reporter-Floskel direkt aus dem Phrasenschwein, eine Stammtisch-Weisheit, die nach dem fünften Bier ausgepackt wird, um eine besonders außergewöhnliche Erzählung einzuleiten: „Solche Geschichten schreibt nur der Fußball“. Meist folgt im Anschluss eine semi-spannende Story, die man so oder so ähnlich schon einmal gehört hat. Oft wird selbst beim erfolgreichen Comeback eines lange verletzten Starspielers der Klassiker aus dem Almanach der Fußballweisheiten herausgeholt.
Es gibt sie aber wirklich noch, diese einzigartigen Geschichten, die so vielleicht tatsächlich nur der Fußball schreiben kann. Die Geschichte von Musa Juwara könnte genau eine solche werden. Am letzten Sonntag hat sie zumindest aus fußballerischer Sicht ihren vorläufigen Höhepunkt erlebt.
Keine zehn Minuten nach seiner Einwechslung im Spiel gegen Inter eröffnet sich für Bolognas Musa Juwara die große Chance. Ein Inter-Verteidiger schlägt über den Ball, Juwara legt alles rein was er hat. Sein Schuss ist so hart, dass selbst ein erfahrender Weltklasse-Keeper wie Samir Handanovič chancenlos ist, Ausgleich Bologna. In Unterzahl. Im altehrwürdigen San Siro. Mit einem ansteckenden Lächeln im Gesicht rutscht Musawa in Richtung Seitenlinie. Wenige Sekunden später überdeckt ihn eine Jubeltraube aus Mitspielern. Am Ende gewinnt der Außenseiter die Partie mit 2:1.
Aufgewachsen ist Musa Juwara in Tujereng, einem kleinen Örtchen mit Palmen, Sandstrand und tropischen Temperaturen direkt am atlantischen Ozean. Ein Sehnsuchtsort für viele Touristen aus westlichen Ländern. Für viele Einheimische ist der kleinste afrikanische Staat Gambia dagegen ein Flecken Erde, den sie lieber heute als morgen verlassen wollen. Politische Verfolgung, Menschenrechtsverletzungen und fehlende Perspektiven sind einige der Gründe, warum in den letzten Jahrzehnten durchschnittlich über zehn Prozent der Gesamtbevölkerung das westafrikanische Land verlassen haben. Musa Juwara, der bei seinem Großvater aufwuchs, da seine leiblichen Eltern früh starben, wollte vor allem eins, als er sich mit nur 14 Jahren entschloss, sein Glück in Europa zu versuchen: Fußball spielen.
Nach einer beschwerlichen Reise, die den Teenager erst durch den Senegal, dann durch die Sahara und am Ende per Boot über das Mittelmeer führte, erreichte er im Juni 2016 die italienische Insel Sizilien. Genau wie tausende Geflüchtete jedes Jahr. Und anders als mindestens genauso viele, die seit Jahren im Mittelmeer ertrinken.
Als minderjähriger Flüchtling kam Juwara in eine Unterkunft in der Region Basilikata. In der kleinen Gemeinde Avigliano konnte er dann auch endlich wieder seiner großen Leidenschaft nachgehen. Beim kleinen Verein Virtus Avigliano fand der Gambier nicht nur schnell sein fußballerisches Glück, sondern auch etwas viel wichtigeres. Er traf auf Vitantonio Summa, den Jugendcoach von Virtus. Beide verstanden sich auf Anhieb so gut, dass Summa und seine Frau den gambischen Jugendlichen bei sich aufnahmen und schließlich adoptierten.
Und auch auf dem Spielfeld harmonierten Trainer und Ziehsohn erfolgreich. Virtus Avigliano eilte von Sieg zu Sieg und gewann eine Jugend-Regional-Meisterschaft. Daraufhin entstand in Basilikata ein kleiner Hype um das gambische Talent, der auch Serie-A-Vereine aufhorchen ließ. Chievo Verona wurde bei Juwara vorstellig und wollte ihn verpflichten.
Jedoch konnte der Transfer nicht direkt über die Bühne gehen. Eine Art Anti-Ausbeutungsregel des italienischen Verbands, die verhindern soll, dass junge Einwanderer von dubiosen Spielerberatern ausgebeutet werden, unterband zunächst den Wechsel. Juwara hatte die Sahara durch- und das Mittelmeer überquert, fand in Italien Anschluss und konnte wieder Fußball spielen. Und nun sollte eine bürokratische Hürde seinen Traum vom professionellem Fußball platzen lassen? „Musa verstand die Bürokratie nicht und fiel in ein psychisches Loch“, berichtete Loredana Bruno, Juwaras Adoptivmutter, Forza Italian Football über die komplizierte Zeit. Mithilfe rechtlichen Beistands erhielt der Gambier im November 2017 schließlich doch noch die Spielerlaubnis für Chievo.
In Verona lief Juwara zunächst für die Jugendmannschaft auf. Und auch hier machte der Linksfuß, der auf beiden Flügeln und hinter den Spitzen eingesetzt werden kann, weiter wie bei Avigliano. Er dribbelte, schoss und traf. Achtmal in 15 Spielen. Als Belohnung wurde er am letzten Spieltag der letzten Saison zum ersten Mal eingewechselt. In der Serie A. Mit gerade einmal 17 Jahren.
Nach der Saison 2018/19 musste Chievo den Gang in die Zweitklassigkeit antreten. Juwara blieb dennoch in der Serie A. Für den Gambier, der 2018 vom Guardian in die vielbeachtete Liste der besten 60 jungen Fußballtalente aufgenommen wurde, legte der FC Bologna über eine halbe Million Euro Ablöse auf den Tisch. In Bologna traf er in Siniša Mihajlović nicht nur auf einen Trainer der auf ihn setzt, sondern auch auf Landsmann Musa Barrow: „Die zwei Musas sind gute Freunde geworden. Auf und neben den Platz. Vor allem der Corona-Lockdown hat beide zusammengeschweißt“, verriet Juwaras Adoptivvater kürzlich, als er mit Tuttomercatoweb.com über die Beziehung von Juwara zu Stürmer Barrow sprach.
Auch in der norditalienischen Studentenstadt überzeugte der Gambier von Beginn an. Mit seinen technischen Qualitäten, seinem niedrigen Körperschwerpunkt und seinem Tempo. Aber auch mit seiner kämpferischen Einstellung, damit, dass er kaum einen Ball verloren gibt. Alles Eigenschaften, die Mihajlović von seinen Spielern sehen will. Für den Serben sei das Talent und nicht das Alter eines Spielers entscheidend, wie er nach dem Sieg bei Inter gegenüber Sky verlauten ließ. Trotzdem warnt Trainer Mihajlović auch: „Musa muss am Boden bleiben.“ Vor allem die Medienberichterstattung erachtet der Bologna-Trainer als kritisch: „Ihr tut alles, um junge Talente zu ruinieren, bevor sie richtig durchstarten.“
Musa Juwara steht erst ganz am Anfang seiner Karriere und hat doch schon so viel erreicht. Er hat sich gegen enorme Widerstände durchgesetzt, eine neue Familie gefunden und lebt seinen Traum. „Er hat es sich mit seiner Demut verdient, seinen Traum in vollen Zügen zu leben. Ohne Grenzen, ohne Erwartungen“, findet Antonio Summa, wenn er über seinen Ziehsohn aus dem kleinen Land mit den Palmen, dem Sandstrand und dem Ozean redet.
Und er hat etwas bewiesen, das ihm selbst wahrscheinlich völlig egal sein wird. Er hat gezeigt, es gibt sie noch: Die Geschichten die so nur der Fußball schreibt.