Djibril Cissé gewann mit Liverpool die Champions League und besaß 15 Autos gleichzeitig. Heute wird er 40 Jahre alt. Einst haben wir ihn in der Schweiz besucht. Als er mit künstlicher Hüfte in der dritten Liga kickte. Warum hat er sich das damals angetan?
„Du hast ja recht, das war niemals ein Elfer“, sagt Djibril Cissé, „aber du musst runterkommen, sonst wirst du gesperrt.“ Er legt seinem Gegenspieler beruhigend eine Hand auf die Schulter. Noch vor wenigen Sekunden hätte dieser der Schiedsrichterin beinahe eine verpasst, jetzt stehen sich die beiden Spieler nach Abpfiff im düsteren Kabinengang von Yverdon-Sport gegenüber. Cissé, der Weltstar mit Transfererlösen von 50 Millionen Euro, und der andere Mann, ausrasierter Nacken, Bauchansatz, namenlos.
Für einen kurzen Moment sind sie großer und kleiner Bruder, verdrahtet durch das gemeinsame Dasein als Drittligafußballer in der Schweizer Provinz. Verschwitzt, abgekämpft, dreckig vom kalten Matsch da draußen. Dann will sich der kleine Bruder rechtfertigen, doch er überlegt es sich anders. Seine Wut entweicht, man sieht das seinem Körper an, die Spannung fällt ab. Er greift nach Cissés Hand, zieht sich an ihn heran und legt ihm sachte die eigene Stirn auf die Brust. Es sieht aus wie: „Schön, dass du jetzt einer von uns bist.“
Er schoss Tore, wo auch immer sie ihn stürmen ließen
Yverdon-les-Bains liegt in der Westschweiz, 30 000 Einwohner, gefühlt nicht viel weniger Porsche-Cayenne, man kann in der Therme baden oder im See, sehr oft über den sehr kleinen Marktplatz spazieren und am Abend im Bowlingcenter einen bunten Cocktail trinken. Oder man kann dabei zugucken, wie Djibril Cissé in der dritten Schweizer Liga für Yverdon-Sport alles kurz und klein schießt. Und sich fragen, warum er das macht. Also Cissé.
Denn eigentlich muss der Mann niemandem etwas beweisen. Er hat sich in seiner Karriere mit Liverpool 2005 den wunderlichsten Champions-League-Triumph von allen erkämpft. Er behielt im Elfmeterschießen gegen den AC Mailand die Nerven. Er durfte für Frankreich auf dem Platz stehen, immerhin 41 Mal, manchmal sogar mit Zinédine Zidane zusammen. Er schoss Tore, wo auch immer sie ihn stürmen ließen, ob in Auxerre, Liverpool, Marseille oder Athen. Warum also Yverdon-les-Bains?
Das schönste am Saisonstart? All die neuen Trikots! Zumindest bei ein paar Mannschaften. Also bei ein paar wenigen. Aber seht selbst. Vorhang auf für das große Trikot-Ranking zur kommenden Spielzeit.
Warum zurückkehren aus dem fußballerischen Ruhestand, den er im Oktober 2015 verkündet hatte? Der sich, so behauptet es Cissé zumindest in Interviews, als DJ von Mariah Carey oder als Tänzer bei „Let’s Dance“ finanziell viel mehr lohnte als das hier. Zumal sein Körper doch eigentlich längst hinüber ist. Gegnerische Verteidiger brachen ihm das Schien- und Wadenbein. Zweimal. Die Knochen wurden geflickt. Die rechte Hüfte nahmen sie ihm ganz, sie wurde durch ein künstliches Gelenk ersetzt.
Und trotzdem schleppt er sich an diesem schmuddeligen März-Tag im Nieselregen von Yverdon vor 335 Zuschauern über einen glitschigen Rasenplatz. Wirft sich hier und da in Kopfballduelle und schirmt mit seinem furchterregend breiten Kreuz Bälle ab, so dass die Innenverteidiger an seinem Rücken zerbröseln wie Kekse. Er schreit schrill, wenn ein Pass ihn nicht erreicht, er hebt verständnislos die Arme, wenn die Flanken zu flach oder zu hoch geraten, was in der dritten Schweizer Liga recht häufig passiert. Warum tut er sich das an?
Weil er, der sich als Knirps in seiner Heimatstadt Arles jedes Trainingstor ins Notizheft eintrug, um am Monatsende auf 150 Buden zu kommen, die Bestätigung noch immer braucht wie der Streber die Eins in Mathe? Weil er, immerhin 36 Jahre alt und Vater von fünf Kindern in drei Ländern, ohne seine Tore bockig wird wie ein kleiner Junge? „Erst wenn ich diese Gier tief in mir drinnen nicht mehr spüre, höre ich wirklich auf“, sagt er später, als man ihn endlich sprechen darf.
Vor dem Spiel hockt er im Kreis seiner Kollegen, die nicht mehr Steven Gerrard heißen oder Thierry Henry, sondern Bruno Caslei oder Aurélien Chappuis und die tagsüber für Versicherungen vorm Rechner sitzen oder einen Bachelor machen. Im Vereinsheim von Yverdon-Sport isst er einen Teller Nudeln. Es ist Samstagmittag, in zwei Stunden steigt das Spitzenspiel gegen Breitenrain Bern. Dritter gegen Vierter, im etwas maroden Stade Municipal, flankiert von Bahnhof, See und den Bergen.
Im Vereinsheim ist es düster, Deckenhöhe 2,20 Meter. Cissé geht hier gebückt. An der Wand kleben verwelkte Din-A4-Blätter mit angetrockneten Kaffeerändern, darauf Getränkeangebote, Pastis für vier Franken. Die Tischplatten kleben vom Fett der vergangenen 40 Jahre, um die Mannschaft herum sitzen wartende Eltern von Kindern, die nach ihrem E‑Jugend-Spiel noch trödeln unter der Dusche.
Und Männer, die aus kleinen Gläsern ihr Vormittagsbier trinken. Vielleicht das erste, vielleicht das vierte. Ein paar Knirpse wuseln herum, was der Grund dafür sein muss, dass sich die Alten das Rauchen verkneifen. Auf einem Kühlschrank steht eine Stereoanlage, die nicht angeschlossen ist, auf der Anlage verstaubt ein Pokal ohne Deckel. Das alles hat nicht viel mit professionellem Fußball zu tun. Und es ist wunderschön.
Cissé ist nicht greifbar
Mittendrin sitzt ein Mann, der von Privatsponsoren bezahlt wird und ein Vielfaches von dem verdient, was seine Mitspieler bekommen. Der zum ersten Training vom Klubpräsidenten per Hubschrauber eingeflogen wurde. Der zu seinen besonders schrillen Zeiten 15 Autos gleichzeitig besaß und in einem knallroten Anzug heiratete.
Und der über die Pressestelle – die in Wirklichkeit Steven Guignard heißt und halb so alt ist wie Cissé – vorab ausrichten ließ, dass er vielleicht 15 Minuten Zeit hätte für ein Gespräch. Nach dem Spiel. Allerhöchstens. Besser wären zehn. Man könnte ihn zwar einfach ansprechen hier und jetzt, er sitzt ja nur sieben Meter entfernt und isst Nudeln, aber nachher bekäme die Pressestelle Ärger, und das wünscht man Steven Guignard nun wirklich nicht.
Cissé ist nicht greifbar. Und wirkt in diesem Vereinsheim trotz seines grau gefärbten Iros und trotz der vielen Tattoos nicht wie ein Popstar. Der Ort nimmt ihm den Mythos. Er zerrt ihn vom Podest. Hier ist er, da kann er machen, was er will, einfach nur der Djibril. „Er ist ein ganz normaler Spieler“, sagt die junge Frau, die in enger Jeans und schulterlosem Top hinter der Theke steht und ein Bier zapft. „Außer, dass er in jedem Spiel ein Tor schießt.“
„Für Yverdon gibt es kein Limit“
Dass Cissé für Yverdon allein bis zur Winterpause schon 15 Mal traf, hat sehr viel mit Mario Di Pietrantonio zu tun. Der ist seit vier Jahren Vereinspräsident, und wenn es nach ihm geht, dann ist die Sache mit Cissé nur der Anfang. Spricht man ihn auf seinen Klub an, sagt er Sätze wie „Für Yverdon gibt es kein Limit“ oder „Machen Sie sich keine Sorgen, ich habe noch zwei, drei gute Ideen.“
Als der 53-Jährige kam, war Yverdon-Sport gerade bis in die vierte Liga durchgereicht worden und stand vor dem finanziellen Ruin. „Wenn ich den Klub damals nicht übernommen hätte, wäre hier alles den Bach runter gegangen.“ Doch Di Pietrantonio, der fünf Minuten vom Stadion entfernt wohnt und sich als Immobilienmakler in der Region ein kleines Imperium geschaffen hat, übernahm. Er krempelte den Klub um, steckte Geld in die Jugendabteilung, verschliss drei Trainer und stritt sich so lange mit der Stadt, bis die dem Umbau des denkmalgeschützten Stadions für das Jahr 2019 zustimmte.
Denn Di Pietrantonio, seit der Kindheit Fan des Vereins, will endlich wieder nach oben. Dorthin, wo Yverdon schon mal war, Ende der Neunziger. Damals führte ein junger Trainer den Klub sensationell in die erste Liga und dort im ersten Jahr sogar auf Platz fünf. Sein Name: Lucien Favre. Seitdem stieg Yverdon ab und wieder auf und wieder ab. Dreimal.
Jetzt sitzt der Präsident auf der Tribüne, wo es bald moderne Sitzschalen statt Holzbänken geben soll, und vergräbt die Hände in der dicken Winterjacke, die seinen schmalen Oberkörper umpolstert wie ein gigantischer Schwimmflügel. Mit versteinerter Miene schaut er Cissé und seinen Kollegen dabei zu, wie sie gegen Breitenrain ihre letzte Chance auf den Aufstieg wahren wollen.
Würde man, statt dem Spiel zu folgen, 90 Minuten auf ihn blicken, man würde nie erfahren, ob Yverdon gewinnt oder verliert. Manchmal bewegt er sich. Minimal. Dann nimmt er die Hände aus den Taschen und verschränkt sie vor der Brust. Um ihn herum hat sich die Tribüne nur spärlich gefüllt, junge Männer mit Caps, alte Männer mit Hüten, mittelalte Frauen mit Stiefeln.
Wenn Cissé, wie kurz nach Anpfiff, einen indirekten Freistoß aus sechs Metern volle Möhre in die Mauer donnert, grummeln sie. Wenn der Linksaußen – Cissés Schwager und auf Empfehlung von Cissé im Winter verpflichtet – Tempo macht, legen sie die Handys kurz beiseite. In der ersten Halbzeit behalten sie die Handys oft in der Hand. Cissé kommt auf neun Ballkontakte, davon drei Abschlüsse. Das Highlight? Cissés persönliche Ultra-Truppe – die knapp 15 angeheiterten Männer der „Section Lac“.
„Seiner Hüfte geht es gut“
Die zu Spielbeginn ihr Banner ausrollen, auf dem der Titel von Cissés Autobiografie steht: Un lion ne meurt jamais, ein Löwe stirbt nie. Die allerdings noch übertroffen werden von dem einen, einsam hinterm Tor stehenden Breitenrain-Auswärtsfahrer. Der in Konkurrenz zu den Cissé-Rufen tapfer und inklusive Dudelteil „The lion sleeps tonight“ in sein Megafon singt. Und damit die Sorgen untermalt, die man sich ohnehin schon um Cissé macht, wann immer der im Zweikampf fällt: So viele schwere Muskeln, so eine künstliche Hüfte.
„Seiner Hüfte geht es gut“, sagt der Präsident in der Halbzeit, „sonst hätte er nicht wieder angefangen.“ Doch er fing wieder an, auch weil Di Pietrantonio zusammen mit drei weiteren Sponsoren aus der Region persönlich für sein Gehalt aufkommt. 21 800 Schweizer Franken sollen es im Monat sein, dazu eine Wohnung in Lausanne, ein Auto und eine Tankkarte. „So was in die Richtung“, sagt Di Pietrantonio und grinst verschlagen.
Aber ums Geld sei es Cissé nie gegangen. Als sich die beiden im Sommer 2017 kennenlernten, habe Di Pietrantonio ihn aus Jux gefragt, ob er nicht wieder einsteigen wolle, bestenfalls bei Yverdon. Cissé antwortete: „Warum nicht?“ Damit war die Sache durch. Auf den Medizincheck verzichtete der Verein. Die Meldung schwappte durch die Medien, erst durch den Kanton, dann durch die Schweiz und später durch ganz Europa. Als die Kamerateams am Spielfeldrand auf das erste Training von Cissé warteten, da sei die Sache mit dem Helikopter passiert.
Um pünktlich zu kommen, nahm er den Hubschrauber
„Wir standen im Stau, und Djibril wollte auf keinen Fall zu spät kommen. Vor allem wegen der neuen Kollegen. Ich kenne zufällig jemanden, der einen Helikopter besitzt. Also haben wir uns kurzfristig für diese Lösung entschieden.“ Um pünktlich zu kommen, und, nun ja, nicht abgehoben zu wirken, nahm Cissé den Hubschrauber. Die Journalisten rieben sich die Hände: 50-Millionen-Mann in Yverdon gelandet.
„Natürlich verdient er mehr als wir. Viel mehr. Aber in der Kabine ist das kein Thema, er ist ein stinknormaler Mitspieler. Außerdem hat es auch seine Vorteile, mit einem wie ihm zu spielen.“ Florian Gudit sitzt nach dem Spiel im Vereinsheim und krempelt seine Trainingshose hoch. Der 24-jährige Mittelfeldspieler ist seit Jahren eine Stütze von Yverdon, bis zum Sommer war er Kapitän. Er hat Probleme, die enge Hose über seine aufgepumpten Waden zu wickeln, er müht sich regelrecht ab, aber das müsse jetzt sein.
Als er es endlich geschafft hat, erscheint oberhalb seines Knöchels eine Tätowierung: das Liverpool-Wappen. „Ich war immer ein großer Fan. Im Sommer, kurz nachdem Djibril bei uns anfing, verletzte ich mich schwer am Knie. Als ich der Mannschaft davon erzählte, hatte ich ein paar Stunden später eine Nachricht bei Whatsapp.“ Es war eine Videobotschaft von Steven Gerrard. Er wünschte ihm gute Besserung, er nannte ihn beim Vornamen. „Steven Gerrard kennt meinen Namen!“ Das habe Djibril organisiert, genau wie er die ganze Mannschaft im August zu seinem Geburtstag einlud. Ins „Mad“, einen Club in Lausanne, wo der Franzose manchmal auflegt und wo der Pastis deutlich teurer ist als im Vereinsheim. Die Rechnung damals sei komplett auf ihn gegangen. Ein feiner Kerl sei er, der Djibril.
Je öfter man hört, was für ein feiner und normaler Kerl Cissé doch sei, ob von seinen Mitspielern, ob vom Pressemann Steven Guignard oder vom Präsidenten Di Pietrantonio, desto stärker wundert man sich, warum es so kompliziert ist, ihn persönlich zu sprechen. Und warum Cissé jetzt, als Yverdon den Sieg im Spitzenspiel kurz vor Schluss eintütet, der einzige seiner Jungs ist, der nicht vor Freude durchdreht.
Beim Stand von 1:1 in der 95. Minute – Cissé sitzt da schon tor- und regungslos auf der Bank – entscheidet die Schiedsrichterin zu Unrecht auf Elfmeter. Yverdon trifft, trifft beim letzten Konter aufs verwaiste Tor gleich noch einmal und gewinnt mit 3:1. Die Gegner pfeffern Schienbeinschoner Richtung Auswechselbank, gehen auf die Schiedsrichterin los, seine Mitspieler stürmen jubelnd über den Platz. Cissé steht langsam auf, schreitet noch langsamer an die Seitenlinie und klatscht sachte, als sei der Akku fast alle, Applaus.
Lieblingsauto? Ein Plymouth Prowler
Als er aus der Dusche kommt, ist auf dem Gang endlich Zeit für ein paar Fragen. Er spricht nicht unhöflich, aber im zackigen und wenig eleganten Französisch des Südens. Und so, wie er seine Tore schießt: direkt, ohne Schnickschnack. Was auf diesem Niveau die größte Umstellung sei? Er habe viel weniger Druck. Wie es der Hüfte gehe? Alles super, kein Problem.
Ob er sich noch wie früher, als Knirps, jedes Trainingstor im Notizblock eintrage? Nein, das nicht, aber aktuell stehe er bei 16 Ligatreffern, da zähle er mit. Sein derzeitiges Lieblingsauto? Er lächelt, zum ersten Mal. „Ein Plymouth Prowler. Den habe ich seit Kurzem. Das ist ein kleiner, amerikanischer Sportwagen. Echt ganz nett.“ Und zum Schluss, nach knapp sieben Minuten, Cissé wird langsam ungeduldig: Warum er überhaupt in Yverdon spiele? „Das ist doch nicht so schwer zu verstehen. Ich habe mein Leben lang Fußball gespielt und liebe diesen Sport. Ob die Menschen es glauben oder nicht: Ich mache das hier zum Vergnügen.“
Er steht vor der angeranzten Kabine, nebenan zerquetscht der plötzlich gelöste Präsident das 19-Jährige Talent aus der eigenen Jugend fast vor Stolz, ein Ersatzspieler mit hängender Hose schlurft am ehemaligen Weltstar vorbei, das geöffnete Bier schon in der Hand. Dann steht er auf und rauscht davon. Er müsse noch nach Paris, eine seiner Familien warte. Wirklich vergnügt wirkt er nicht. Aber er hat ja auch kein Tor geschossen.
Die Reportage erschien im April 2018.