Andrij Schewtschenko ist 35 Jahre alt und noch immer der Star der ukrainischen Nationalelf. Bei seinem letzten großen Turnier vertraut er auf den Ehrgeiz seiner jungen Kollegen und die Weisheiten von Trainerfuchs Waleri Lobanowski
Andrij Schewtschenko, Sie sind 35 Jahre alt und spielen immer noch, wie viel hat das mit der Europameisterschaft im eigenen Land zu tun?
Die Vergabe des Turniers an die Ukraine hat meine Karriere auf jeden Fall verlängert. Ich freue mich seit fünf Jahren darauf und habe mich entsprechend vorbereitet. Immerhin ist es meine erste EM und wohl auch das letzte große Highlight meiner Karriere.
War es auch richtig, dass Sie im September 2009 zu Dynamo Kiew zurückgekehrt sind?
Ich denke, ja. Mir war immer klar, dass ich irgendwann zurückkehren würde, wo für mich alles angefangen hat. Die Zeit, in der ich Balljunge bei den Spielen von Dynamo war und die Tore meines Idols und unseres heutigen Nationaltrainers Oleg Blochin bejubelt habe, werde ich nie vergessen.
Haben Sie als Jugendlicher auch mal mit dem Gedanken gespielt, später zur Armee zu gehen, immerhin war Ihr Vater Offizier in einem Panzerregiment?
Wäre es nach ihm gegangen, hätte ich Karriere in der Armee gemacht. Und nachdem ich die Aufnahmeprüfung der Sportuniversität nicht geschafft hatte…
…wie bitte, Sie sind an der Sportuniversität nicht zugelassen worden, das ist doch wohl ein Witz?
Nein, das ist wirklich wahr. Ich bin in der Aufnahmeprüfung sogar an den Fußballübungen gescheitert. Bei einigen habe ich mich ganz gut geschlagen, bei anderen eher weniger, doch insgesamt hat es nicht gereicht. Trotzdem habe ich zwei Monate später einen Vertrag bei Dynamo bekommen. Und nachdem ich ein Jahr später den Sprung in die erste Mannschaft geschafft hatte, wurde ich sogar ohne Prüfungen zur Universität zugelassen.
Aber zwischendurch stand eine Armeekarriere im Raum?
Ja, nach der verpatzten Prüfung habe ich mich mit meinem Vater über meine Zukunft unterhalten und ihn gebeten, mir Zeit zu geben, mich selber für einen Beruf zu entscheiden. Wäre abzusehen gewesen, dass es für eine Profikarriere nicht reicht, dann würde ich heute wohl Uniform tragen.
Als Sie zehn Jahre alt waren, hatte es so ausgesehen, dass Sie vielleicht nie mehrFußball spielen würden. Denn 1986 mussten Sie nach dem Reaktorunglück von Tschernobyl Ihre Familie verlassen.
Das stimmt, obwohl wir in Kiew davon nicht direkt betroffen waren. Überhaupt wusste niemand so recht, was vorgefallen war, weil sich die Behörden bedeckt hielten. Aber für mich und für Tausende anderer Kinder aus der Region um Kiew bedeutete es, sofort an die Schwarzmeerküste verfrachtet zu werden. Ich war damals erst kurz zuvor in die Jugendakademie von Dynamo aufgenommen worden und musste meine Ausbildung für drei Monate unterbrechen. Aber ehrlich gesagt, zu diesem Zeitpunkt hat sowieso niemand in meiner Familie an Fußball gedacht. Als ich dann nach Kiew zurückkam, hat mich mein erster Trainer bei Dynamo, Olexander Schpakow, ausfindig gemacht und meine Eltern dazu überredet, dass ich meine Ausbildung fortsetze. Für diese Hartnäckigkeit und Fürsorge bin ich ihm heute noch dankbar.
Hatten Sie mal daran gedacht, sich einem anderen Sport zuzuwenden?
Als Kind habe ich alle möglichen Sportarten betrieben, darunter Boxen, Ringen und Eishockey. Aufgrund dessen war ich schon immer sehr athletisch. Ich denke überhaupt, dass es sinnvoll ist, sich als Kind nicht auf einen einzigen Sport zu konzentrieren, sondern sich vielfältig zu betätigen und etwa auch Turnen oder Kraftsport auszuüben. Dadurch wird eine harmonische Entwicklung gefördert.
Als 14-Jähriger waren Sie bester Torschütze bei einem Jugendturnier in Wales und haben dafür ein Paar Fußballschuhe bekommen. Es heißt, Sie bewahren die immer noch auf.
Nein, ich selber nicht. Aber meine Mutter hütet sie zu Hause wie einen Schatz. Das macht sie übrigens mit allen Trophäen, die ich gewonnen habe. Die Dinger sind inzwischen ziemlich abgenutzt. Das Turnier trug übrigens den Namen von Ian Rush, der während seiner Zeit beim FC Liverpool ein beliebter Spieler bei uns in der Ukraine war. Mein Idol war aber ohne jeden Zweifel Oleg Blochin. Außerdem mochte ich Johan Cruyff, Franz Beckenbauer, Diego Maradona und Marco van Basten.
Drei Jahre nach diesem Jugendturnier haben Sie bereits für Dynamos erste Mannschaft gespielt. Wie schwierig war es, schon als 17-Jähriger für den größten Klub des Landes zu spielen?
Am schwierigsten waren für mich die langwierigen Trainingslager. Körperlich war ich zwar wie gesagt bestens entwickelt, aber das harte Training unter Lobanowski hat mir schon einiges abverlangt. Nach und nach habe ich mach aber daran gewöhnt, Lobanowski wusste immer genau, was er tat. Bei Dynamo habe ich so auch acht Kilo Muskelmasse zugelegt.
Mussten Sie für Ihre Karriere viel Verzicht leisten?
Überhaupt nicht. Wie fast jeder Teenager habe ich hin und wieder eine geraucht. Aber als ich in die erste Mannschaft berufen wurde, habe ich umgehend damit aufgehört. Ich wurde bei Dynamo körperlich dermaßen beansprucht, dass an Zigaretten und Alkohol überhaupt nicht zu denken war.
Wie war es, unter Lobanowski zu spielen?
Ich habe ihm unheimlich viel zu verdanken, weil er mich in die erste Mannschaft holte und zu dem Spieler machte, den Mailand schließlich für 25 Millionen Dollar gekauft hat. Lobanowski war ein gebildeter Mann und ein guter Psychologe. Was wir im Training machen mussten, hat er uns vorab in der Theorie erklärt. Im Training ließ er sehr gezielt arbeiten und bestimmte Spielsituationen simulieren. Lobanowski war sehr fokussiert und erläuterte alles in wenigen, klaren Worten. Es war nicht schwer, seinen Ideen zu folgen. Schwierig war es nur, die gestellten Aufgaben auch hundertprozentig zu erfüllen.
Lobanowski hat Sie wegen Ihrer Vielseitigkeit als „universalen Spieler“ bezeichnet. Fällt es Ihnen immer noch leicht, sich an eine neue Position zu gewöhnen?
Auf der Außenposition statt zentral zu spielen, bedeutet schon eine gewisse Umstellung, weil es größeren körperlichen und läuferischen Aufwand erfordert. Grundsätzlich respektiere ich die Entscheidung des Trainers, aber am wohlsten fühle ich mich immer noch im Zentrum.
Gibt es andere Stürmer, die Ihrer Meinung nach dem Ideal eines universalen Angreifers entsprechen?
Wayne Rooney. Auch er ist kein typischer Mittelstürmer, sondern ständig in Bewegung und auf dem ganzen Feld unterwegs, um Räume für sich und seine Mitspieler zu schaffen. Ich würde ihn auf jeden Fall als kompletten Spieler bezeichnen.
Ihr kongenialer Sturmpartner in der Nationalmannschaft war über viele Jahre Serhij Rebrow. Warum haben Sie beide sich so gut verstanden?
Wir sind in etwa gleich alt und wurden praktisch zur gleichen Zeit in die erste Mannschaft geholt. Wir haben uns auf dem Platz hervorragend ergänzt und fast blind verstanden. Das Wichtigste dabei war, dass wir das Spiel mit den gleichen Augen gesehen haben. Wir konnten uns fast telepathisch verständigen, ich konnte sogar vorhersagen, was er zum Abendessen bestellen würde.
Gleich in der ersten Saison bei Milan wurden Sie Torschützenkönig der Serie A. Waren Sie überrascht, sich auf Anhieb so gut zurechtzufinden?
Ich habe mich stets an Lobanowskis Worte erinnert, dass meiner Entwicklung keine Grenzen gesetzt seien, solange ich hart an mir arbeite. Vor meinem Aufbruch nach Mailand hat er mir mit auf den Weg gegeben, dass es schwer sei, es bis ganz nach oben zu schaffen, aber noch hundertmal schwerer, oben zu bleiben. Ich habe deshalb darauf geachtet, mich immer akribisch vorzubereiten.
In der Champions League haben Sie alle Höhen und Tiefen erlebt. 2003 haben Sie im Finale den entscheidenden Elfmeter gegen Juventus verwandelt, zwei Jahre später gegen Liverpool verschossen.
Mein verschossener Elfmeter in Istanbul ist mir bis heute ein Rätsel. Ich habe mir die Szene zigmal auf Video angesehen, und ich begreife nicht, wie der Ball nicht reingehen konnte. Liverpools Torhüter Jerzy Dudek war mit der Hand dran, und dann ging der Ball in einer unglaublichen Flugbahn über das Tor. Ich verstehe auch bis heute nicht, wie wir das Spiel überhaupt verlieren konnten. Die Stimmung im Stadion, unsere 3:0‑Führung zur Halbzeit, dann die schrecklichen sechs Minuten im zweiten Durchgang, das alles ist unbegreiflich und unmöglich zu beschreiben. Es war wohl einfach Schicksal.
Wie beurteilen Sie im Nachhinein die Leistungen der ukrainischen Nationalmannschaft bei der WM 2006 in Deutschland? Das Viertelfinale zu erreichen war ein großer Erfolg, aber hat die Ukraine wirklich das gezeigt, was sie draufhatte?
Stimmt schon, wir haben nicht überragend gespielt, aber wir waren eine Einheit und haben es unseren Gegnern dadurch schwer gemacht. Die WM war jedoch nicht nur für mich, sondern für das ganze Land eine großartige Erfahrung. Wir waren zum ersten Mal bei einem großen Turnier dabei. Leider haben wir es danach nicht mehr geschafft, uns für ein weiteres zu qualifizieren, wodurch 2006 eine noch größere Bedeutung erhält.
Welche Lehren ergeben sich aus den Erfahrungen von damals für die Euro 2012?
In einem solchen Turnier müssen Spieler und Trainer an einem Strang ziehen, dann ist alles möglich. Genau das erwarte ich bei der EM von unserer Mannschaft, denn schon Waleri Lobanowski hat immer gesagt, dass man nur mit Ordnung und Disziplin auch gegen spielstärkere Gegner bestehen kann.
Wie schätzen Sie die Chancen der ukrainischen Mannschaft bei der EM im eigenen Land ein?
Wir haben eine sehr gute Mischung aus ehrgeizigen jungen Spielern und Routiniers. Gemeinsam wollen wir das Finale erreichen und werden alles dafür tun, diesen Traum zu verwirklichen.
Welche Bedeutung wird die Euro für die Entwicklung des ukrainischen Fußballs haben?
Das Turnier wirkt sich schon jetzt auf unsere Premier League aus, die so viele Zuschauer anlockt wie nie zuvor. Der Profifußball in unserem Land hat sich insgesamt sowieso schon enorm verändert. Die Eigentümer der großen Klubs haben in den letzten Jahren viel investiert und zahlen so gute Gehälter, dass die Spieler nicht mehr zu mittelmäßigen Vereinen im europäischen Ausland abwandern. Überhaupt ist das gesamte Umfeld, von den Vereinsstrukturen bis zur Präsentation des Fußballs in den Medien, professioneller geworden. Was die Nationalelf angeht, müssen wir die Vorrunde überstehen und dann versuchen, so weit zu kommen, wie es eben geht.