1995 wusste jeder Rostocker Grundschüler, wer bei Hansa spielt und wie man die „Kogge“ zeichnet. Marieke Reimann erzählt von ihrem ersten Besuch im Ostseestadion, bei dem Männerschultern und die Puhdys eine entscheidende Rolle spielten.
Mit sieben war ich Hansa-Fan durch und durch: Wenn wir am Wochenende am Warnemünder Strand lagen, mussten wir kurz bevor „ran“ kam nach Hause radeln, weil ich wissen wollte, wie Rostock gespielt hatte, mein Taschengeld gab ich hauptsächlich für Autogrammkarten und Panini-Bildchen aus und lief gerade kein Spiel im Fernsehen, ging ich mit meinen Kumpels Tom, Dennis und Olli in unserem Plattenbauviertel bolzen.
Olli war ein besonders fanatischer Hana-Fan: schon im Kindergarten malte er immer nur Bilder mit kleinen blauen Schiffen – der Hansa-Kogge. Von unserer Wohnung aus konnte ich auf Ollis Balkon gucken. Es war ein bisschen so wie bei den Kindern von Bullerbü, denn ständig rief er mich an, ich sollte ans Fenster kommen, damit er mir seine neubemalten Bettlaken mit Hansasprüchen zuwedeln konnte. Jedes Wochenende ging Olli mit seinem Vater ins Stadion. Das wollte ich auch! Deshalb nahm sich meine Muddi ein Herz und mich an die Hand und so fanden wir uns beide an einem warmen Juni-Sonntag in der Ostkurve des Ostseestadions wieder.
Ich sah nichts und roch nach Bier
Es war das letzte Heimspiel der Zweitliga-Saison, Hansa spielte als Tabellenerster gegen Hannover 96 – der Aufstieg war schon am Wochenende zuvor gegen Wattenscheid besiegelt worden, nur gefeiert hatte ihn die Hansestadt noch nicht. Ich war euphorisiert: Fleißig hatte ich vorher die neue Hanse-Hymne der Puhdys auswendig gelernt und grölte sie nun mit all den „Rostocker Pils“-seligen Männern mit: „FC Hansa, du bist so genial, FC Hansa, wir lieben dich total. Auch wenn du mal danebenschießt, wir sind für dich da. FC Hansa, FC Hansa!“.
Unter meinem zur Mütze gerollten Rostock-Schal lugte ich hervor und sah erstmal nichts. Vor, hinter und neben meiner Mutti und mir standen tausende Menschen. Das Ostseestadion war ausverkauft, 25.600 Fans waren gekommen, um Hansa siegen zu sehen. Bevor ich das Spiel allerdings sehen konnte, roch ich etwas – jemand hatte von hinten Bier nach vorne geworfen, das sich nun über meinen Pullover ergoss. Meine Freude war dahin: Ich sah nichts, stank nach Alkohol und alle waren größer als ich. Irgendwie hatte Olli das spaßiger erzählt. Ein Mann, der mit seinen älteren Söhnen ebenfalls da war, bemerkte mein Unglück und nahm mich kurzerhand beide Halbzeiten auf seine Schultern.
Ich war wieder froh und kam so schon mit sieben Jahren zu meiner ersten Fußball-Live-Reportage, als ich meiner Mutter vom Rücken herab aktuelle Spielstände durchgab: 1:0 Rocco Milde in der 40. Minute, 2:0 Steffen Baumgart in der 52. Minute, und schließlich das 3:0 in der 86. Minute durch Stefan Beinlich (hier im Bild nach seinem Treffer). „Paule“ Beinlich war der Liebling aller Fans. Ganz Rostock weiß heute noch, wo er wohnt und wann er mit seinem Hund spazieren geht.
Als der Schlusspfiff ertönte, brach im Ostseestadion – diesem Stadion damals noch mit Laufbahn und riesigen hellblauen Flutlichtmasten mitten in der Hansestadt – tosender Jubel los. Beifall, den noch die Touristen am Warnemünder Strand gehört haben sollen. Es war eine Atmosphäre, wie ich sie in den kommenden Jahren nur noch einmal auf den Fanmeilen bei der WM 2006 in Deutschland wieder erlebt habe. Plötzlich war die ganze Hansestadt stolz auf ihren weißblauen Verein. Rostocker waren stolz Rostocker zu sein. Und ich hockte mittendrin immer noch auf den Schultern des Vaters, der mich trug und war elektrisiert. „Wir sind in der ersten Bundesliga, wir sind erste Liga!“, schrie ich und kletterte zu meiner Mutter hinunter.
Blaue Zäune und rote Bengalos
Auf einmal wurde der Steh- zum Rennblock. Fans eilten über die Wellenbrecher den grauen Stadionbeton hinunter. Die Hansa-blauen Absperrgitter wurden überrannt oder aufgestoßen. Es war ein irres Durcheinander, in dem alle möglichst schnell aufs Spielfeld wollten, um zusammen mit den Spielern, von denen selbst die meisten von der Ostsee kamen, zu feiern. Ich wollte restliche Autogramme einsammeln, rannte einfach mit und verlor dabei meine Mutter. Schnell fand ich mich vor den umgetretenen Zäunen wieder und staunte. Dahinter fackelten rote Bengalos und tausende Schals und Fahnen wippten in der Luft zu den Schlagerreimen der Puhdys. Die Szenerie machte mir Angst und so lief ich statt auf den Rasen zu einem riesenhaften Ordner in schwarzer Uniform.
Ich sagte ihm wie ich heiße und das meine Mutti so ähnlich aussieht wie ich nur älter. Er lächelte und wieder wurde ich auf die Schulter genommen. Während wir uns entgegen der Masse Richtung Ausgang schoben, sangen wir leise zusammen die Hymne, damit ich mich beruhigte: „FC Hansa, du bist so genial, FC Hansa, wir lieben dich total. Auch wenn du mal danebenschießt, wir sind für dich da. FC Hansa, FC Hansa!“ immer und immer wieder. Als ich mit dem Security-Mann am Ausgang ankam, sah ich dort schon meine Mutter stehen. Überglücklich rutschte ich das zweite Mal an diesem Tag von hohen Schultern und ging mit ihr, immer noch die Puhdys summend, nach Hause.