1.
Halbfinale
Auf einmal war alles anders. Die Lichter der Kameras, die Ansprachen der Trainer, meine Motivation und vor allem der Druck von außen. Ich stand in den Spotlights, ich war die Nummer Eins, der Torwart, der für Deutschland den dritten EM-Titel festhalten sollte. Acht Jahre hatte ich auf diesen Moment gewartet, ständig im Standby-Modus, immer dabei, doch nie mittendrin. Aufgemuckt hatte ich nie. Vielleicht, weil ich keine Lobby hinter mir wusste, keine wichtigen Journalisten, die sich getraut hätten der Kölner und Münchner Presse die Stirn zu bieten und die mit mir den Kampf um die Nummer Eins gefochten hätten.
Doch nun hatte Toni Schumacher dieses ominöse Buch „Anpfiff“ geschrieben und sich selbst aus der Nationalmannschaft befördert. So sehr ich mich in jenem Sommer 1988 auf das Turnier freute, so war ich mir auch sicher, dass dies meine einzige Chance sein würde: Wenn wir im eigenen Land nicht den Titel holten, würde sich was verändern, ganz egal wie ich halte. Es würde mein letztes Turnier als Nummer Eins sein, denn hinter mir scharrten bereits Bodo Illgner und die mächtigen Kölner „Bild“-Reporter mit den Füßen.
Die Vorrunde meisterten wir souverän, und nach dem 2:0‑Sieg gegen die starken Spanier waren wir sicher: Wir werden Europameister. Erste Zweifel kamen wenige Stunden vor dem Anpfiff des Halbfinales gegen die Niederlande auf. Auf dem Weg zum Hamburger Volksparkstadion passierten wir eine Brücke, von der wir auf die bereits gut gefüllten Tribünen blicken konnten – sie waren fast vollständig in orange gefärbt. Überall wo man hinsah: orange! Ich weiß bis heute nicht, wie es den niederländischen Fans möglich war, so viele Karten für dieses Spiel zu bekommen. Frank Mill sagte später: „Schön wäre es gewesen, wenn wir heute ein Heimspiel gehabt hätten.“ Dann dieser unfassbar schlechte Schiedsrichter. Sicher, die Holländer haben verdient gewonnen und wurden am Ende zu Recht Europameister, die hatten ja eine Jahrhundertmannschaft – alleine die Namen: van Basten, Gullit, Koeman oder Rijkaard.
Zwar war es in jenem Halbfinale nicht so, dass ein Angriff nach dem nächsten auf unser Tor rollte, doch die Holländer schnürten uns fast 90 Minuten in unserer Hälfte ein – die müssen 70 Prozent Ballbesitz gehabt haben. Dem entgegen standen Entlastungsangriffe von uns. Dennoch: Wir machten das erste Tor und ich bin mir sicher: Es wäre beim 1:0 geblieben, hätte der Schiedsrichter den Holländern nach dem angeblichen Foul von Kohler an van Basten nicht den Elfmeter geschenkt.
Wenn du heute mit der deutschen Mannschaft in das Halbfinale eines großen Turniers kommst, sind alle zufrieden, damals war das Aus der Weltuntergang und die 89. Minute wie ein Schlag ins Gesicht der ganzen Nation. Ich erinnerte mich vor dem Spiel noch an die Worte von Sepp Maier: „Wenn du als Torwart sicher in ein Turnier startest, in den ersten Spielen keine Fehler machst, wirst du immer besser, du wirst unbezwingbar.“ Und dann sah ich den Ball von Marco van Basten an meiner rechten Hand vorbei ins Tor rollen.
2.
Erste Schritte
Meine Karriere verlief von Anfang an in einem so hohen Tempo, dass ich kaum hinterherkam. Schon nach meinem ersten Spiel trugen sie mich auf Händen. Ich wusste damals, im August 1978, gar nicht so richtig, was passiert war. Plötzlich stand Sepp Maier vor mir, der große Sepp Maier, und gratulierte mir. Doch ich nahm nichts mehr wahr, um mich herum nur Blitzlichter und ein ohrenbetäubender Lärm von 50.000 Fans im Dortmunder Westfalenstadion. Von einem solchen Debüt träumt vermutlich jeder Junge: Auf der einen Seite die schier unbezwingbaren Bayern, die im Minutentakt auf das Tor anrennen und auf der anderen Seite der Jungspund, gerade mal 17 Jahre alt, der sie alle abwehrt, als ob er nie was anderes getan hätte.
Es ging rasant weiter. Ich war kaum in der Bundesliga angekommen, da stand ich schon im Tor der Nationalelf. Im Sommer 1980 nahm mich Jupp Derwall als dritten Torwart zur EM nach Italien, und schon ein paar Monate später, im Oktober 1980, debütierte ich bei einem Freundschaftsspiel in den Niederlanden. Die Nationalmannschaft hatte zu dem Zeitpunkt seit 21 Spielen nicht verloren. Natürlich bammeln da die Beine, man will ja nicht derjenige sein, der die Serie vermasselt. Doch es ging alles glatt. Ich wurde in der zweiten Halbzeit eingewechselt und hielt, was zu halten war. Spätestens als ich am nächsten Tag die Zeitungen aufschlug und die durchweg guten Kritiken las, wusste ich: Jetzt hast du den Fuß in der Tür, pass auf, dass er nicht wieder hinausrutscht.
Den Derwall habe ich damals als Trainer gar nicht so richtig wahrgenommen. Schumacher kritisierte ja später seinen laschen Führungsstil. Es kann sein, dass einige gestandene Profis die lauten Ansagen vermissten, aber für mich war Derwall damals eine große Respektperson. Er war ein anderer Typ Trainer als etwa Helmut Schön, der ja nur traurig gucken musste, damit die Spieler spurten. Derwall war sanfter, doch zu der Zeit brauchte die Mannschaft diesen Typ Trainer. Derwall schaffte es mit seiner väterlichen Art aus einem riesigen Kreis an Topspielern eine homogene Einheit zu formen.
Allerdings stimmt es, dass später die so genannten Führungsspieler immer wichtiger wurden. Bemerkenswert fand ich damals ihre Bodenständigkeit: Breitner, Rummenigge oder Kaltz, also Spieler, die sehr viel erreicht hatten, stellten sich nie über die anderen. Ich erinnere mich noch an eine Länderspielreise nach Brasilien im März 1982. Eines Tages fuhren einige Spieler an die Copacabana und lernten ein paar Mädchen kennen, die sie mit aufs Hotel nahmen. Irgendwie kam die Geschichte raus. Jupp Derwall reagierte panisch, er brauchte rasch einen Sündenbock für die Presse. Plötzlich sagte er: „Immel fliegt nach Hause!“ Stellvertretend für die Mannschaft. Auf mich als Ersatztorwart konnte er ja verzichten. Paul Breitner, der mit der ganzen Geschichte überhaupt nichts zu tun hatte, stellte sich vor ihn und antwortete: „Wenn du den Jungen jetzt nach Hause schickst, fliege ich auch.“ Danach war die Sache vom Tisch.
3.
Lagerkoller
Nie wieder standen Trainingslager und WM-Quartier in so einem krassen Gegensatz wie 1982. Der DFB hatte die Nationalmannschaft zur Vorbereitung in ein Hotel am Schluchsee im Schwarzwald einquartiert.
Heute würde man das ganze Hotel mieten, damals belegten wir etwa 40 Zimmer, die restlichen Zimmer des Hotels konnten von jedem Hans und Franz angemietet werden, das war ein ganz normales Urlaubshotel. Dementsprechend waren wir wie Freiwild, überall wo wir hinblickten, waren Menschen, die an uns rumzupften, oder Journalisten, die Fragen stellten, und in den Nebenzimmern mieteten sich die Geliebten der Spieler ein. Zu allem Überfluss tauchte plötzlich dieser Modeheini aus Düsseldorf auf und veranstaltete im Hotel Modenschauen mit seinen Models. Schnell hatte der Schluchsee in der Presse seinen Namen weg: Schlucksee. Klar, dass da auch mal getrunken wurde.
Auch klar, dass das für einen Spieler wie Toni Schumacher, für den eine WM alles bedeutete, ein interner Skandal war. Später schrieb Schumacher, dass Paul Breitner eine Sonderstellung gehabt hätte. Paul soll regelmäßig bis in die Puppen gesoffen haben. Das ist totaler Quatsch! Natürlich hat der Paul auch mal ein Gläschen Wein getrunken, der kannte das ja aus Spanien. Doch Paul wusste immer, wann es drauf ankommt und wann man ein Glas Rotwein trinken darf. Sowieso: Die halbe Mannschaft bestand aus gestandenen Kerlen, mit denen hättest du in den Krieg ziehen können und die hätten sich in die erste Reihe gestellt.
Im WM-Quartier in Gijon erlebten wir eine umgekehrte Welt. Plötzlich kamen wir uns vor wie Gefangene. Wir hatten nichts, nicht mal einen Fernseher auf dem Zimmer, die reinste Kaserne. Zur Ablenkung spielten wir gelegentlich Karten, später konnte man in „Anpfiff“ lesen, ich hätte gepokert wie ein Süchtiger. Vielleicht wollte Schumacher sich durch solche Storys seiner Konkurrenten entledigen. Die Wahrheit ist: Es ging bei den Kartenspielen nur um Peanuts, wir waren tags darauf weder nervös noch unkonzentriert. Dumm war nur, dass dieses Gerücht, wir hätten uns gegenseitig das Geld aus der Tasche gezockt, nach dem WM durch die Presse gejagt wurde. Den Stein ins Rollen brachte Uwe Reinders, der nach seinem Einwurftor irgendwann an der Theke sagte: „Wenn ich dem Paul Breitner 20.000 Mark beim Pokern abnehmen kann, dann kann ich dem Jean-Marie Pfaff auch einen Ball ins Tor werfen.“ Das alarmierte natürlich alle Journalisten, woraufhin unter den Nationalspielern ein Rundruf gemacht wurde, dass bloß niemand etwas sagen soll.
Stillschweigen.
„Immel sagt: Es wurde gezockt“
Ich war zu der Zeit allerdings mit Borussia Dortmund auf einem Turnier bei Atlético Madrid, und da es noch keine Handys gab, war ich der einzige, der nichts von der Abmachung wusste. Als mich dann ein Reporter in Madrid ansprach, habe ich gesagt, dass gespielt worden sei, aber nur zur Unterhaltung. Die Überschrift lautete dann: „Immel sagt: Es wurde gezockt.“ Die „Bild“-Zeitung nahm das gesprochene Wort also mal wieder nicht so genau, und übersah den wesentlichen Unterschied, dass ausschließlich zur Unterhaltung gespielt wurde. Kurze Zeit später bekam ich einen richtigen Einlauf von Paul Breitner, der die ganze Zeit durchs Telefon schrie: „Was hast du da nur gemacht?!“
Damals gab es sicherlich auch mal die Überlegung die Presse zu boykottieren. Doch ich sah nie einen Sinn darin, denn die machen doch eh was sie wollen, gerade die „Bild“-Zeitung. Das beste Beispiel ist eine andere Länderspielreise nach Brasilien im Jahr 1987. Karl-Erich Jäger, „Bild“-Reporter aus Köln und Lobbyist von Bodo Illgner, saß bei einem Trainingsspiel auf der Tribüne. Im einen Tor stand ich, im anderen Illgner, meine Mannschaft gewann mit 7:1.
Als ich am nächsten Tag die Zeitung im Hotel sah, stand auf der Titelseite geschrieben: „Illgner schlägt Immel 7:1.“ Ich bin schnurstracks zum Jäger gegangen und hab ihm gesagt: „Du kannst gerne schreiben, der Illgner ist besser, oder der Aumann, wer auch immer. Aber du kannst doch keine Fakten verdrehen und dann noch ein stinknormales Trainingsspiel zum Kampf der Torhüter stilisieren.“ Jäger lächelte: „Da musst du dich beim Franz beschweren!“ Ich verstand gar nichts mehr, hatte Beckenbauer ihm von der angeblichen 1:7‑Niederlage erzählt? „Nein“, sagt er da, „Franz hat uns so weit weg auf der Tribüne platziert, dass wir gar nicht mehr gesehen haben, wer in welchem Tor stand.“ Wenn du so etwas hörst, weißt du, in welchem Film du bist. Die hätten sich doch kaputt gelacht, wenn wir sie boykottiert hätten.
4.
Der hässliche Deutsche
Nach der WM waren sich alle einig: Das Ansehen der deutschen Mannschaft hatte bei der WM 1982 erheblichen Schaden genommen. Es fing an mit der Niederlage gegen die Algerier, die uns mit ihrer unbekümmerten Art in Grund und Boden spielten. Nach einem Sieg gegen Chile und dem geglaubten Befreiungsschlag kam es zu dem unsäglichen Spiel gegen Österreich. Ich weiß bis heute nicht, ob es eine richtige Absprache in der Kabine gegeben hat, vermutlich gab es nach dem 1:0 von Horst Hrubesch eher ein stilles Abkommen auf dem Platz. Natürlich fühlten sich die Algerier veräppelt. Es war ihre erste WM und sie hatten bis dahin sensationellen Fußball geboten. Nun mussten sie die Heimreise antreten. Die weißen Tücher, die Handtücher der Spanier und die mit Geldscheinen wedelnden Algerier sehe ich heute noch. Auf unser Hotel schmissen sie Wassertüten.
Ich kann das durchaus nachvollziehen, doch wer trägt die Schuld daran? Einzig die Deutschen und die Österreicher? Letztlich war es doch ein grundlegender Planungsfehler der FIFA, die Spiele, in denen es um Leben und Tod geht, zeitversetzt stattfinden zu lassen.
Fortan hatten wir nicht nur elf Spieler gegen uns, sondern stets auch das Publikum. In dieser aufgeheizten Stimmung kam es dann zu dem Halbfinale gegen Frankreich und dem brutalen Foul von Schumacher an Patrick Battiston. In seiner ganzen Karriere ist Schumacher immer gefeiert worden für seine Spielweise, er war stets der brutale Torwart, vor dem alle Angst hatten. Früher haben sie ihm alle auf die Schulter geklopft: „Super, dass du so bist, wie du bist!“, haben sie gesagt. Folglich hatte er in der Situation keinerlei Schuldgefühle. Vermutlich kam er sich sogar ganz toll vor, nachdem er Battiston praktisch gekillt hatte.
Er tat es, um Deutschland zu retten, das war sein Selbstverständnis: ohne Rücksicht auf Verluste Tore zu verhindern. Was das Fass aber zum Überlaufen brachte, war Schumachers Verhalten: Wie kann man nach einem solchen Foul Kaugummi kauend am Pfosten lehnen? Wie kann man, während Battiston, der bei der Aktion zwei Zähne verlor und mit Gehirnerschütterung und Wirbelverletzungen im Krankenhaus lag, sagen: „Ich zahle ihm die Jacketkronen“?! Absolut kontraproduktiv. Es hätte ja schon gereicht, mal hinzugehen und den Battiston zu fragen, ob alles okay ist. Aber das war eben nicht Toni Schumacher. Der hat einfach alles weggeputzt. Und fühlte sich in dieser Rolle ganz toll. So richtig realisierte Toni seine Aktion erst, als wir zusammen auf dem Zimmer saßen und er mit seiner Mutter telefonierte. Die schiss ihn so dermaßen zusammen, wie vermutlich noch nie jemand zuvor. Toni sank immer weiter in sich zusammen und wurde mit einem Mal richtig nachdenklich. Er konnte einem fast leidtun.
5.
Suppenkasper
Schon vor Beckenbauers Amtsantritt glaubten die meisten, sein Name mache die Mannschaft zum Weltmeister. Er überstrahlte alles. Vor Fehlern war man dennoch nicht gefeit. Der DFB hatte zwar aus den schlechten Erfahrungen vom Schluchsee gelernt und brachte uns zur Vorbereitung auf die WM 1986 in der Sportschule Kaiserau unter, doch die hatte den Charme einer Jugendherberge. Gab es 1982 alles im Überfluss, gab es nun nichts. Warum beim DFB nie jemand auf die Idee kam, eine Mischung aus Sportschule und Hotelanlage zu buchen, verstehe ich bis heute nicht. Ein Spieler braucht doch Abwechslung, er muss die Möglichkeit haben, seine Kinder oder seine Frau zu sehen.
Man muss ja nicht so weit gehen wie Toni Schumacher, der Prostituierte für die Spieler forderte. Daran sieht man übrigens auch wie weltfremd der Toni damals war. Kein Spieler wäre mehr zur Nationalmannschaft gekommen, wenn die eigene Frau zu Hause nur ein bisschen was zu sagen gehabt hätte. Was aber stimmt: Ein liberale Einstellung hätte dem DFB gut zu Gesicht gestanden, doch damals gab es nur hopp oder top, entweder es war alles erlaubt oder gar nichts. Wenn man diese Fehler nicht gemacht hätte, wären wir in den Achtzigern zweimal Weltmeister geworden. Da bin ich mir sicher.
Ich bin nach Mexiko wieder als Nummer drei gefahren. Das war okay, ich kam aufgrund der Relegationsspiele, die ich mit Dortmund zu absolvieren hatte, eh viel zu spät nach Mexiko, um Ansprüche zu stellen. Bitter war es nur, die Kader der anderen Mannschaften zu sehen. Eigentlich dachte ich bei jedem Turnier: In fast allen anderen Mannschaften, sogar bei Frankreich oder Spanien, wärst du unangefochten die Nummer Eins. Als ich in Mexiko ankam, brodelte die Stimmung. Beckenbauer hatte vor versammelter Journalistenschar gesagt, in der Bundesliga würde nur noch Schrott spielen und mit der aktuellen Mannschaft würde man nie Weltmeister. Die Reporter in Querétaro schrieben fleißig mit. Dann war zwischen Uli Stein und Toni Schumacher der Streit um den Platz im Tor entfacht. Ich versuchte mich aus der Fehde rauszuhalten, da ich aber bei den Kölnern am Tisch saß und mich mit Toni seit Jahren ein freundschaftliches Verhältnis verband, war das gar nicht so einfach.
Sowieso war die Cliquenbildung extrem. An dem einen Tisch saßen die Kölner, am anderen die Münchner und die Hamburger, dann gab es noch einen Tisch, an dem die ruhigen Typen saßen – Matthias Herget oder Uwe Rahn. Die verschiedenen Tische waren sich nicht per se spinnefeind, aber wenn es drauf ankam, haben sie Politik gemacht. Der Kölner Tisch applaudierte jedenfalls nicht, als sich Uli Stein im ersten Gruppenspiel gegen Uruguay oberkörperfrei an die Seitenlinie legte und sich die Sonne auf den Bauch scheinen ließ. Schumacher beschwerte sich natürlich, er bezweifelte, dass Stein hätte spielen können, wenn er selbst verletzungsbedingt ausgeschieden wäre. Stein hingegen beteuerte später, dass fast alle Ersatzspieler dort gelegen haben und von Journalisten weg retuschiert wurden, um Stein als das schwarze Schaf der Mannschaft darzustellen – das stimmt nicht, Stein lag wirklich als einziger dort.
Stein kapselte sich danach von der Mannschaft ab, später schrieb er, dass er oftmals einheimische Familien besuchte, angeblich verbrachte er ganze Abende mit ihnen. Ich frage mich, wie das möglich gewesen sein soll. Während den vier Wochen in Mexiko war ich ein einziges Mal auf Erkundungstour fern der asphaltierten Straßen: mit Kalle Rummenigge beim Hahnenkampf, aber das war’s. Meine Freundin, die in einem nahegelegenen Hotel wohnte, konnte ich auch ein paar Mal sehen, aber ich fuhr jedes Mal mit einem schlechten Gewissen rüber.
Jahre später habe ich mal mit Uli Stein über die WM in Mexiko gesprochen und konnte seine Argumentation nachvollziehen. Franz hatte ihm wohl während der Vorbereitung gesagt: „Du bist der beste Torwart der Welt, aber du kannst hier nicht spielen.“ Uli stellte daraufhin eine verquere Kausalität her. Er glaubte, dass die Firma Adidas, die sowohl Sponsor der Mannschaft als auch von Schumacher war, dem DFB diktierte, wer spielte. Natürlich lag es im Interesse der Firma, dass der Torwart spielt, der einen Vertrag mit Adidas hatte. Dass aber Adidas mächtiger als der Teamchef war, bezweifle ich. Nein, das ist lächerlich. Es war vielmehr so, dass Franz mit seinen Worten lediglich seine Wertschätzung ausdrücken wollte. Doch er wusste zugleich, dass er den Torwart nicht so kurz vor dem Turnier austauschen konnte, zumal Toni ja auch keine großen Fehler in der Qualifikation gemacht hatte.
6.
Faule Profis
Toni Schumacher hat sich in jenen Jahren in einen regelrechten Wahn reingesteigert, in dem er von seinen Mitspielern Unmenschliches verlangte. Nur weil Toni sich eine Zigarette von seiner Frau auf dem Arm ausdrücken ließ, um zu beweisen, wie man Herr über die Schmerzen werden kann, um zu zeigen, wie hart er ist, heißt das noch lange nicht, dass andere, die das nicht machen, keine echten Profis sind. Der Vorwurf, dass die meisten Spieler sich benahmen wie gelangweilte Beamte, nie Überstunden schoben, war jedenfalls totaler Quatsch. Die Profis, die er nannte, waren alle Vorzeigeprofis. Rummenigge war immer ein Kapitän, der alles im Griff hatte. Natürlich, Rummenigge trat vermittelnder auf als vor ihm Paul Breitner, der direkter war – aber jeder ist nun mal anders.
Dass die Motivation da war, dass die Spieler in Mexiko zeigen wollten, was in ihnen steckt, zeigt auch der WM-Verlauf. Anfangs hatten wir arge Probleme mit den schlechten Platzverhältnissen, wir spielten mitunter auf holprigen Ackerfeldern. Im Halbfinale gegen Frankreich gab es eine Leistungsexplosion, wir siegten gegen ein Starensemble, das im Viertelfinale Brasilien ausgeschaltet hatte. Vorher hatte niemand etwas erwartet, nun standen wir im Finale und jeder wollte spielen. Vor dem Spiel drängte Rummenigge auf seinen Einsatz, obwohl er sich die ganze WM schon mit einer leichten Verletzung herumplagte. Nach dem Spiel moserte Magath, weil er schon nach 60 Minuten ausgewechselt wurde. Doch da war eh alles egal, wir lagen am Boden, dort wo die Argentinier nach dem 2:2‑Ausgleich von Rudi Völler zehn Minuten vor Schluss hätten liegen müssen. Die individuelle Klasse der Argentinier machte bei diesem Turnier den Unterschied. Burruchaga machte ihn im Spiel gegen uns.
7.
Finale
1989 machte ich den wohl größten Fehler meiner Karriere: ich trat aus der Nationalmannschaft zurück. Grund dafür war ein WM-Qualifikationsspiel. Wir spielten gegen Mexiko 1986: Uli Stein provoziert seinen Rauswurf. Während des Gruppenspiels gegen Uruguay sonnt sich der Hamburger Torwart an der Seitenlinie.
Finnland, kein leichter Gegner, kurz zuvor hatten sie Russland geschlagen. Ich war zu dem Zeitpunkt nicht hundertprozentig fit, hatte eine Knieverletzung, und als Franz Beckenbauer am Abend vor dem Spiel zu mir kam, dachte ich zunächst, er wollte mit mir über meinen Gesundheitszustand reden oder mir raten, mich auszuruhen. Doch er sagte: „Die Finnen können gar nichts. Die kommen nicht mal über die Mittellinie. Ich stelle morgen den Bodo ins Tor.“ Er sagte nicht mal, dass ich beim nächsten Spiel wieder dabei wäre. Plötzlich merkte ich, hier läuft etwas gegen mich, eine Wachablösung auf Raten. Ich fühlte mich verarscht. Zwar relativierte sich später alles ein bisschen, Franz sagte mir auch, dass er mich gerne als Torwart behalten würde, aber ich hatte mich bereits viel zu weit aus dem Fenster gelehnt, ich war schon vor der Tür.
Zwar tat mir der Rücktritt für die Bundesliga gut – ich brachte danach sensationelle Leistungen beim VfB –, doch spätestens ein Jahr nach meinem Rücktritt, als Deutschland in Italien Weltmeister wurde, bereute ich den Schritt bitter. Ich wäre Teil dieser Mannschaft gewesen, egal, ob ich gespielt hätte oder nicht.
Jeder Mensch hat das: Situationen, die er gerne noch mal erleben möchte, weil er sie anders machen würde. Für mich zählt dieses Gespräch mit Franz sicherlich dazu. Vor allem aber wünschte ich, die 89. Minute im Halbfinale der EM 1988 noch einmal zu erleben. Ich bin mir so sicher: Neunmal hätte ich diesen Ball gehalten. Der Schuss von Marco van Basten war leider der zehnte.