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1.
Halb­fi­nale


Auf einmal war alles anders. Die Lichter der Kameras, die Anspra­chen der Trainer, meine Moti­va­tion und vor allem der Druck von außen. Ich stand in den Spot­lights, ich war die Nummer Eins, der Tor­wart, der für Deutsch­land den dritten EM-Titel fest­halten sollte. Acht Jahre hatte ich auf diesen Moment gewartet, ständig im Standby-Modus, immer dabei, doch nie mit­ten­drin. Auf­gemuckt hatte ich nie. Viel­leicht, weil ich keine Lobby hinter mir wusste, keine wich­tigen Jour­na­listen, die sich getraut hätten der Kölner und Münchner Presse die Stirn zu bieten und die mit mir den Kampf um die Nummer Eins gefochten hätten.

Doch nun hatte Toni Schu­ma­cher dieses omi­nöse Buch Anpfiff“ geschrieben und sich selbst aus der Natio­nal­mann­schaft beför­dert. So sehr ich mich in jenem Sommer 1988 auf das Tur­nier freute, so war ich mir auch sicher, dass dies meine ein­zige Chance sein würde: Wenn wir im eigenen Land nicht den Titel holten, würde sich was ver­än­dern, ganz egal wie ich halte. Es würde mein letztes Tur­nier als Nummer Eins sein, denn hinter mir scharrten bereits Bodo Ill­gner und die mäch­tigen Kölner Bild“-Reporter mit den Füßen.

Die Vor­runde meis­terten wir sou­verän, und nach dem 2:0‑Sieg gegen die starken Spa­nier waren wir sicher: Wir werden Euro­pa­meister. Erste Zweifel kamen wenige Stunden vor dem Anpfiff des Halb­fi­nales gegen die Nie­der­lande auf. Auf dem Weg zum Ham­burger Volks­park­sta­dion pas­sierten wir eine Brücke, von der wir auf die bereits gut gefüllten Tri­bünen bli­cken konnten – sie waren fast voll­ständig in orange gefärbt. Überall wo man hinsah: orange! Ich weiß bis heute nicht, wie es den nie­der­län­di­schen Fans mög­lich war, so viele Karten für dieses Spiel zu bekommen. Frank Mill sagte später: Schön wäre es gewesen, wenn wir heute ein Heim­spiel gehabt hätten.“ Dann dieser unfassbar schlechte Schieds­richter. Sicher, die Hol­länder haben ver­dient gewonnen und wurden am Ende zu Recht Euro­pa­meister, die hatten ja eine Jahr­hun­dert­mann­schaft – alleine die Namen: van Basten, Gullit, Koeman oder Rij­kaard.

Zwar war es in jenem Halb­fi­nale nicht so, dass ein Angriff nach dem nächsten auf unser Tor rollte, doch die Hol­länder schnürten uns fast 90 Minuten in unserer Hälfte ein – die müssen 70 Pro­zent Ball­be­sitz gehabt haben. Dem ent­gegen standen Ent­las­tungs­an­griffe von uns. Den­noch: Wir machten das erste Tor und ich bin mir sicher: Es wäre beim 1:0 geblieben, hätte der Schieds­richter den Hol­län­dern nach dem angeb­li­chen Foul von Kohler an van Basten nicht den Elf­meter geschenkt.

Wenn du heute mit der deut­schen Mann­schaft in das Halb­fi­nale eines großen Tur­niers kommst, sind alle zufrieden, damals war das Aus der Welt­un­ter­gang und die 89. Minute wie ein Schlag ins Gesicht der ganzen Nation. Ich erin­nerte mich vor dem Spiel noch an die Worte von Sepp Maier: Wenn du als Tor­wart sicher in ein Tur­nier star­test, in den ersten Spielen keine Fehler machst, wirst du immer besser, du wirst unbe­zwingbar.“ Und dann sah ich den Ball von Marco van Basten an meiner rechten Hand vorbei ins Tor rollen.

2.
Erste Schritte


Meine Kar­riere ver­lief von Anfang an in einem so hohen Tempo, dass ich kaum hin­ter­herkam. Schon nach meinem ersten Spiel trugen sie mich auf Händen. Ich wusste damals, im August 1978, gar nicht so richtig, was pas­siert war. Plötz­lich stand Sepp Maier vor mir, der große Sepp Maier, und gra­tu­lierte mir. Doch ich nahm nichts mehr wahr, um mich herum nur Blitz­lichter und ein ohren­be­täu­bender Lärm von 50.000 Fans im Dort­munder West­fa­len­sta­dion. Von einem sol­chen Debüt träumt ver­mut­lich jeder Junge: Auf der einen Seite die schier unbe­zwing­baren Bayern, die im Minu­ten­takt auf das Tor anrennen und auf der anderen Seite der Jung­spund, gerade mal 17 Jahre alt, der sie alle abwehrt, als ob er nie was anderes getan hätte.

Es ging rasant weiter. Ich war kaum in der Bun­des­liga ange­kommen, da stand ich schon im Tor der Natio­nalelf. Im Sommer 1980 nahm mich Jupp Der­wall als dritten Tor­wart zur EM nach Ita­lien, und schon ein paar Monate später, im Oktober 1980, debü­tierte ich bei einem Freund­schafts­spiel in den Nie­der­landen. Die Natio­nal­mann­schaft hatte zu dem Zeit­punkt seit 21 Spielen nicht ver­loren. Natür­lich bam­meln da die Beine, man will ja nicht der­je­nige sein, der die Serie ver­mas­selt. Doch es ging alles glatt. Ich wurde in der zweiten Halb­zeit ein­ge­wech­selt und hielt, was zu halten war. Spä­tes­tens als ich am nächsten Tag die Zei­tungen auf­schlug und die durchweg guten Kri­tiken las, wusste ich: Jetzt hast du den Fuß in der Tür, pass auf, dass er nicht wieder hin­aus­rutscht.

Den Der­wall habe ich damals als Trainer gar nicht so richtig wahr­ge­nommen. Schu­ma­cher kri­ti­sierte ja später seinen laschen Füh­rungs­stil. Es kann sein, dass einige gestan­dene Profis die lauten Ansagen ver­missten, aber für mich war Der­wall damals eine große Respekt­person. Er war ein anderer Typ Trainer als etwa Helmut Schön, der ja nur traurig gucken musste, damit die Spieler spurten. Der­wall war sanfter, doch zu der Zeit brauchte die Mann­schaft diesen Typ Trainer. Der­wall schaffte es mit seiner väter­li­chen Art aus einem rie­sigen Kreis an Top­spie­lern eine homo­gene Ein­heit zu formen.

Aller­dings stimmt es, dass später die so genannten Füh­rungs­spieler immer wich­tiger wurden. Bemer­kens­wert fand ich damals ihre Boden­stän­dig­keit: Breitner, Rum­me­nigge oder Kaltz, also Spieler, die sehr viel erreicht hatten, stellten sich nie über die anderen. Ich erin­nere mich noch an eine Län­der­spiel­reise nach Bra­si­lien im März 1982. Eines Tages fuhren einige Spieler an die Copa­ca­bana und lernten ein paar Mäd­chen kennen, die sie mit aufs Hotel nahmen. Irgendwie kam die Geschichte raus. Jupp Der­wall reagierte panisch, er brauchte rasch einen Sün­den­bock für die Presse. Plötz­lich sagte er: Immel fliegt nach Hause!“ Stell­ver­tre­tend für die Mann­schaft. Auf mich als Ersatz­tor­wart konnte er ja ver­zichten. Paul Breitner, der mit der ganzen Geschichte über­haupt nichts zu tun hatte, stellte sich vor ihn und ant­wor­tete: Wenn du den Jungen jetzt nach Hause schickst, fliege ich auch.“ Danach war die Sache vom Tisch.

3.
Lager­koller


Nie wieder standen Trai­nings­lager und WM-Quar­tier in so einem krassen Gegen­satz wie 1982. Der DFB hatte die Natio­nal­mann­schaft zur Vor­be­rei­tung in ein Hotel am Schluchsee im Schwarz­wald ein­quar­tiert.

Heute würde man das ganze Hotel mieten, damals belegten wir etwa 40 Zimmer, die rest­li­chen Zimmer des Hotels konnten von jedem Hans und Franz ange­mietet werden, das war ein ganz nor­males Urlaubs­hotel. Dem­entspre­chend waren wir wie Frei­wild, überall wo wir hin­blickten, waren Men­schen, die an uns rum­zupften, oder Jour­na­listen, die Fragen stellten, und in den Neben­zim­mern mie­teten sich die Geliebten der Spieler ein. Zu allem Über­fluss tauchte plötz­lich dieser Modeheini aus Düs­sel­dorf auf und ver­an­stal­tete im Hotel Moden­schauen mit seinen Models. Schnell hatte der Schluchsee in der Presse seinen Namen weg: Schlucksee. Klar, dass da auch mal getrunken wurde.

Auch klar, dass das für einen Spieler wie Toni Schu­ma­cher, für den eine WM alles bedeu­tete, ein interner Skandal war. Später schrieb Schu­ma­cher, dass Paul Breitner eine Son­der­stel­lung gehabt hätte. Paul soll regel­mäßig bis in die Puppen gesoffen haben. Das ist totaler Quatsch! Natür­lich hat der Paul auch mal ein Gläs­chen Wein getrunken, der kannte das ja aus Spa­nien. Doch Paul wusste immer, wann es drauf ankommt und wann man ein Glas Rot­wein trinken darf. Sowieso: Die halbe Mann­schaft bestand aus gestan­denen Kerlen, mit denen hät­test du in den Krieg ziehen können und die hätten sich in die erste Reihe gestellt.

Im WM-Quar­tier in Gijon erlebten wir eine umge­kehrte Welt. Plötz­lich kamen wir uns vor wie Gefan­gene. Wir hatten nichts, nicht mal einen Fern­seher auf dem Zimmer, die reinste Kaserne. Zur Ablen­kung spielten wir gele­gent­lich Karten, später konnte man in Anpfiff“ lesen, ich hätte gepo­kert wie ein Süch­tiger. Viel­leicht wollte Schu­ma­cher sich durch solche Storys seiner Kon­kur­renten ent­le­digen. Die Wahr­heit ist: Es ging bei den Kar­ten­spielen nur um Pea­nuts, wir waren tags darauf weder nervös noch unkon­zen­triert. Dumm war nur, dass dieses Gerücht, wir hätten uns gegen­seitig das Geld aus der Tasche gezockt, nach dem WM durch die Presse gejagt wurde. Den Stein ins Rollen brachte Uwe Reinders, der nach seinem Ein­wurftor irgend­wann an der Theke sagte: Wenn ich dem Paul Breitner 20.000 Mark beim Pokern abnehmen kann, dann kann ich dem Jean-Marie Pfaff auch einen Ball ins Tor werfen.“ Das alar­mierte natür­lich alle Jour­na­listen, wor­aufhin unter den Natio­nal­spie­lern ein Rundruf gemacht wurde, dass bloß nie­mand etwas sagen soll.
Still­schweigen.

Immel sagt: Es wurde gezockt“

Ich war zu der Zeit aller­dings mit Borussia Dort­mund auf einem Tur­nier bei Atlé­tico Madrid, und da es noch keine Handys gab, war ich der ein­zige, der nichts von der Abma­chung wusste. Als mich dann ein Reporter in Madrid ansprach, habe ich gesagt, dass gespielt worden sei, aber nur zur Unter­hal­tung. Die Über­schrift lau­tete dann: Immel sagt: Es wurde gezockt.“ Die Bild“-Zeitung nahm das gespro­chene Wort also mal wieder nicht so genau, und übersah den wesent­li­chen Unter­schied, dass aus­schließ­lich zur Unter­hal­tung gespielt wurde. Kurze Zeit später bekam ich einen rich­tigen Ein­lauf von Paul Breitner, der die ganze Zeit durchs Telefon schrie: Was hast du da nur gemacht?!“

Damals gab es sicher­lich auch mal die Über­le­gung die Presse zu boy­kot­tieren. Doch ich sah nie einen Sinn darin, denn die machen doch eh was sie wollen, gerade die Bild“-Zeitung. Das beste Bei­spiel ist eine andere Län­der­spiel­reise nach Bra­si­lien im Jahr 1987. Karl-Erich Jäger, Bild“-Reporter aus Köln und Lob­byist von Bodo Ill­gner, saß bei einem Trai­nings­spiel auf der Tri­büne. Im einen Tor stand ich, im anderen Ill­gner, meine Mann­schaft gewann mit 7:1.

Als ich am nächsten Tag die Zei­tung im Hotel sah, stand auf der Titel­seite geschrieben: Ill­gner schlägt Immel 7:1.“ Ich bin schnur­stracks zum Jäger gegangen und hab ihm gesagt: Du kannst gerne schreiben, der Ill­gner ist besser, oder der Aumann, wer auch immer. Aber du kannst doch keine Fakten ver­drehen und dann noch ein stink­nor­males Trai­nings­spiel zum Kampf der Tor­hüter sti­li­sieren.“ Jäger lächelte: Da musst du dich beim Franz beschweren!“ Ich ver­stand gar nichts mehr, hatte Becken­bauer ihm von der angeb­li­chen 1:7‑Niederlage erzählt? Nein“, sagt er da, Franz hat uns so weit weg auf der Tri­büne plat­ziert, dass wir gar nicht mehr gesehen haben, wer in wel­chem Tor stand.“ Wenn du so etwas hörst, weißt du, in wel­chem Film du bist. Die hätten sich doch kaputt gelacht, wenn wir sie boy­kot­tiert hätten.

4.
Der häss­liche Deut­sche


Nach der WM waren sich alle einig: Das Ansehen der deut­schen Mann­schaft hatte bei der WM 1982 erheb­li­chen Schaden genommen. Es fing an mit der Nie­der­lage gegen die Alge­rier, die uns mit ihrer unbe­küm­merten Art in Grund und Boden spielten. Nach einem Sieg gegen Chile und dem geglaubten Befrei­ungs­schlag kam es zu dem unsäg­li­chen Spiel gegen Öster­reich. Ich weiß bis heute nicht, ob es eine rich­tige Absprache in der Kabine gegeben hat, ver­mut­lich gab es nach dem 1:0 von Horst Hru­besch eher ein stilles Abkommen auf dem Platz. Natür­lich fühlten sich die Alge­rier ver­äp­pelt. Es war ihre erste WM und sie hatten bis dahin sen­sa­tio­nellen Fuß­ball geboten. Nun mussten sie die Heim­reise antreten. Die weißen Tücher, die Hand­tü­cher der Spa­nier und die mit Geld­scheinen wedelnden Alge­rier sehe ich heute noch. Auf unser Hotel schmissen sie Was­ser­tüten.

Ich kann das durchaus nach­voll­ziehen, doch wer trägt die Schuld daran? Einzig die Deut­schen und die Öster­rei­cher? Letzt­lich war es doch ein grund­le­gender Pla­nungs­fehler der FIFA, die Spiele, in denen es um Leben und Tod geht, zeit­ver­setzt statt­finden zu lassen.

Fortan hatten wir nicht nur elf Spieler gegen uns, son­dern stets auch das Publikum. In dieser auf­ge­heizten Stim­mung kam es dann zu dem Halb­fi­nale gegen Frank­reich und dem bru­talen Foul von Schu­ma­cher an Patrick Bat­tiston. In seiner ganzen Kar­riere ist Schu­ma­cher immer gefeiert worden für seine Spiel­weise, er war stets der bru­tale Tor­wart, vor dem alle Angst hatten. Früher haben sie ihm alle auf die Schulter geklopft: Super, dass du so bist, wie du bist!“, haben sie gesagt. Folg­lich hatte er in der Situa­tion kei­nerlei Schuld­ge­fühle. Ver­mut­lich kam er sich sogar ganz toll vor, nachdem er Bat­tiston prak­tisch gekillt hatte.

Er tat es, um Deutsch­land zu retten, das war sein Selbst­ver­ständnis: ohne Rück­sicht auf Ver­luste Tore zu ver­hin­dern. Was das Fass aber zum Über­laufen brachte, war Schu­ma­chers Ver­halten: Wie kann man nach einem sol­chen Foul Kau­gummi kauend am Pfosten lehnen? Wie kann man, wäh­rend Bat­tiston, der bei der Aktion zwei Zähne verlor und mit Gehirn­er­schüt­te­rung und Wir­bel­ver­let­zungen im Kran­ken­haus lag, sagen: Ich zahle ihm die Jacket­kronen“?! Absolut kon­tra­pro­duktiv. Es hätte ja schon gereicht, mal hin­zu­gehen und den Bat­tiston zu fragen, ob alles okay ist. Aber das war eben nicht Toni Schu­ma­cher. Der hat ein­fach alles weg­ge­putzt. Und fühlte sich in dieser Rolle ganz toll. So richtig rea­li­sierte Toni seine Aktion erst, als wir zusammen auf dem Zimmer saßen und er mit seiner Mutter tele­fo­nierte. Die schiss ihn so der­maßen zusammen, wie ver­mut­lich noch nie jemand zuvor. Toni sank immer weiter in sich zusammen und wurde mit einem Mal richtig nach­denk­lich. Er konnte einem fast leidtun.

5.
Sup­pen­kasper


Schon vor Becken­bauers Amts­an­tritt glaubten die meisten, sein Name mache die Mann­schaft zum Welt­meister. Er über­strahlte alles. Vor Feh­lern war man den­noch nicht gefeit. Der DFB hatte zwar aus den schlechten Erfah­rungen vom Schluchsee gelernt und brachte uns zur Vor­be­rei­tung auf die WM 1986 in der Sport­schule Kai­serau unter, doch die hatte den Charme einer Jugend­her­berge. Gab es 1982 alles im Über­fluss, gab es nun nichts. Warum beim DFB nie jemand auf die Idee kam, eine Mischung aus Sport­schule und Hotel­an­lage zu buchen, ver­stehe ich bis heute nicht. Ein Spieler braucht doch Abwechs­lung, er muss die Mög­lich­keit haben, seine Kinder oder seine Frau zu sehen.

Man muss ja nicht so weit gehen wie Toni Schu­ma­cher, der Pro­sti­tu­ierte für die Spieler for­derte. Daran sieht man übri­gens auch wie welt­fremd der Toni damals war. Kein Spieler wäre mehr zur Natio­nal­mann­schaft gekommen, wenn die eigene Frau zu Hause nur ein biss­chen was zu sagen gehabt hätte. Was aber stimmt: Ein libe­rale Ein­stel­lung hätte dem DFB gut zu Gesicht gestanden, doch damals gab es nur hopp oder top, ent­weder es war alles erlaubt oder gar nichts. Wenn man diese Fehler nicht gemacht hätte, wären wir in den Acht­zi­gern zweimal Welt­meister geworden. Da bin ich mir sicher.

Ich bin nach Mexiko wieder als Nummer drei gefahren. Das war okay, ich kam auf­grund der Rele­ga­ti­ons­spiele, die ich mit Dort­mund zu absol­vieren hatte, eh viel zu spät nach Mexiko, um Ansprüche zu stellen. Bitter war es nur, die Kader der anderen Mann­schaften zu sehen. Eigent­lich dachte ich bei jedem Tur­nier: In fast allen anderen Mann­schaften, sogar bei Frank­reich oder Spa­nien, wärst du unan­ge­fochten die Nummer Eins. Als ich in Mexiko ankam, bro­delte die Stim­mung. Becken­bauer hatte vor ver­sam­melter Jour­na­lis­ten­schar gesagt, in der Bun­des­liga würde nur noch Schrott spielen und mit der aktu­ellen Mann­schaft würde man nie Welt­meister. Die Reporter in Que­ré­taro schrieben fleißig mit. Dann war zwi­schen Uli Stein und Toni Schu­ma­cher der Streit um den Platz im Tor ent­facht. Ich ver­suchte mich aus der Fehde raus­zu­halten, da ich aber bei den Köl­nern am Tisch saß und mich mit Toni seit Jahren ein freund­schaft­li­ches Ver­hältnis ver­band, war das gar nicht so ein­fach.

Sowieso war die Cli­quen­bil­dung extrem. An dem einen Tisch saßen die Kölner, am anderen die Münchner und die Ham­burger, dann gab es noch einen Tisch, an dem die ruhigen Typen saßen – Mat­thias Herget oder Uwe Rahn. Die ver­schie­denen Tische waren sich nicht per se spin­ne­feind, aber wenn es drauf ankam, haben sie Politik gemacht. Der Kölner Tisch applau­dierte jeden­falls nicht, als sich Uli Stein im ersten Grup­pen­spiel gegen Uru­guay ober­kör­per­frei an die Sei­ten­linie legte und sich die Sonne auf den Bauch scheinen ließ. Schu­ma­cher beschwerte sich natür­lich, er bezwei­felte, dass Stein hätte spielen können, wenn er selbst ver­let­zungs­be­dingt aus­ge­schieden wäre. Stein hin­gegen beteu­erte später, dass fast alle Ersatz­spieler dort gelegen haben und von Jour­na­listen weg retu­schiert wurden, um Stein als das schwarze Schaf der Mann­schaft dar­zu­stellen – das stimmt nicht, Stein lag wirk­lich als ein­ziger dort.

Stein kap­selte sich danach von der Mann­schaft ab, später schrieb er, dass er oft­mals ein­hei­mi­sche Fami­lien besuchte, angeb­lich ver­brachte er ganze Abende mit ihnen. Ich frage mich, wie das mög­lich gewesen sein soll. Wäh­rend den vier Wochen in Mexiko war ich ein ein­ziges Mal auf Erkun­dungs­tour fern der asphal­tierten Straßen: mit Kalle Rum­me­nigge beim Hah­nen­kampf, aber das war’s. Meine Freundin, die in einem nahe­ge­le­genen Hotel wohnte, konnte ich auch ein paar Mal sehen, aber ich fuhr jedes Mal mit einem schlechten Gewissen rüber.

Jahre später habe ich mal mit Uli Stein über die WM in Mexiko gespro­chen und konnte seine Argu­men­ta­tion nach­voll­ziehen. Franz hatte ihm wohl wäh­rend der Vor­be­rei­tung gesagt: Du bist der beste Tor­wart der Welt, aber du kannst hier nicht spielen.“ Uli stellte dar­aufhin eine ver­quere Kau­sa­lität her. Er glaubte, dass die Firma Adidas, die sowohl Sponsor der Mann­schaft als auch von Schu­ma­cher war, dem DFB dik­tierte, wer spielte. Natür­lich lag es im Inter­esse der Firma, dass der Tor­wart spielt, der einen Ver­trag mit Adidas hatte. Dass aber Adidas mäch­tiger als der Team­chef war, bezweifle ich. Nein, das ist lächer­lich. Es war viel­mehr so, dass Franz mit seinen Worten ledig­lich seine Wert­schät­zung aus­drü­cken wollte. Doch er wusste zugleich, dass er den Tor­wart nicht so kurz vor dem Tur­nier aus­tau­schen konnte, zumal Toni ja auch keine großen Fehler in der Qua­li­fi­ka­tion gemacht hatte.

6.
Faule Profis


Toni Schu­ma­cher hat sich in jenen Jahren in einen regel­rechten Wahn rein­ge­stei­gert, in dem er von seinen Mit­spie­lern Unmensch­li­ches ver­langte. Nur weil Toni sich eine Ziga­rette von seiner Frau auf dem Arm aus­drü­cken ließ, um zu beweisen, wie man Herr über die Schmerzen werden kann, um zu zeigen, wie hart er ist, heißt das noch lange nicht, dass andere, die das nicht machen, keine echten Profis sind. Der Vor­wurf, dass die meisten Spieler sich benahmen wie gelang­weilte Beamte, nie Über­stunden schoben, war jeden­falls totaler Quatsch. Die Profis, die er nannte, waren alle Vor­zei­ge­profis. Rum­me­nigge war immer ein Kapitän, der alles im Griff hatte. Natür­lich, Rum­me­nigge trat ver­mit­telnder auf als vor ihm Paul Breitner, der direkter war – aber jeder ist nun mal anders.

Dass die Moti­va­tion da war, dass die Spieler in Mexiko zeigen wollten, was in ihnen steckt, zeigt auch der WM-Ver­lauf. Anfangs hatten wir arge Pro­bleme mit den schlechten Platz­ver­hält­nissen, wir spielten mit­unter auf holp­rigen Acker­fel­dern. Im Halb­fi­nale gegen Frank­reich gab es eine Leis­tungs­explo­sion, wir siegten gegen ein Star­ensemble, das im Vier­tel­fi­nale Bra­si­lien aus­ge­schaltet hatte. Vorher hatte nie­mand etwas erwartet, nun standen wir im Finale und jeder wollte spielen. Vor dem Spiel drängte Rum­me­nigge auf seinen Ein­satz, obwohl er sich die ganze WM schon mit einer leichten Ver­let­zung her­um­plagte. Nach dem Spiel moserte Magath, weil er schon nach 60 Minuten aus­ge­wech­selt wurde. Doch da war eh alles egal, wir lagen am Boden, dort wo die Argen­ti­nier nach dem 2:2‑Ausgleich von Rudi Völler zehn Minuten vor Schluss hätten liegen müssen. Die indi­vi­du­elle Klasse der Argen­ti­nier machte bei diesem Tur­nier den Unter­schied. Bur­ruchaga machte ihn im Spiel gegen uns.

7.
Finale


1989 machte ich den wohl größten Fehler meiner Kar­riere: ich trat aus der Natio­nal­mann­schaft zurück. Grund dafür war ein WM-Qua­li­fi­ka­ti­ons­spiel. Wir spielten gegen Mexiko 1986: Uli Stein pro­vo­ziert seinen Raus­wurf. Wäh­rend des Grup­pen­spiels gegen Uru­guay sonnt sich der Ham­burger Tor­wart an der Sei­ten­linie.

Finn­land, kein leichter Gegner, kurz zuvor hatten sie Russ­land geschlagen. Ich war zu dem Zeit­punkt nicht hun­dert­pro­zentig fit, hatte eine Knie­ver­let­zung, und als Franz Becken­bauer am Abend vor dem Spiel zu mir kam, dachte ich zunächst, er wollte mit mir über meinen Gesund­heits­zu­stand reden oder mir raten, mich aus­zu­ruhen. Doch er sagte: Die Finnen können gar nichts. Die kommen nicht mal über die Mit­tel­linie. Ich stelle morgen den Bodo ins Tor.“ Er sagte nicht mal, dass ich beim nächsten Spiel wieder dabei wäre. Plötz­lich merkte ich, hier läuft etwas gegen mich, eine Wach­ab­lö­sung auf Raten. Ich fühlte mich ver­arscht. Zwar rela­ti­vierte sich später alles ein biss­chen, Franz sagte mir auch, dass er mich gerne als Tor­wart behalten würde, aber ich hatte mich bereits viel zu weit aus dem Fenster gelehnt, ich war schon vor der Tür.

Zwar tat mir der Rück­tritt für die Bun­des­liga gut – ich brachte danach sen­sa­tio­nelle Leis­tungen beim VfB –, doch spä­tes­tens ein Jahr nach meinem Rück­tritt, als Deutsch­land in Ita­lien Welt­meister wurde, bereute ich den Schritt bitter. Ich wäre Teil dieser Mann­schaft gewesen, egal, ob ich gespielt hätte oder nicht.

Jeder Mensch hat das: Situa­tionen, die er gerne noch mal erleben möchte, weil er sie anders machen würde. Für mich zählt dieses Gespräch mit Franz sicher­lich dazu. Vor allem aber wünschte ich, die 89. Minute im Halb­fi­nale der EM 1988 noch einmal zu erleben. Ich bin mir so sicher: Neunmal hätte ich diesen Ball gehalten. Der Schuss von Marco van Basten war leider der zehnte.