Heute Nacht gab Leverkusens Leon Bailey sein Debüt in der jamaikanischen Nationalmannschaft. Vorangegangen waren ein Streit um seine Person, eine irre Fahrt durch Europa und ein erbitterter Kampf um die Macht im Verband. Mittendrin: Baileys Vater Craig Butler.
Diese Geschichte erschien erstmals im November 2018 in der 11FREUNDE-Ausgabe #205.
Craig Butler wartet. Rote Ampel, kein Weiterkommen auf den rissigen Straßen Kingstons, der Hauptstadt Jamaikas. Und auf der Lederrückbank des Jeeps bettelt seine jüngste Tochter nach Zuckerwatte. „Wo ist das verdammte Geld?“ Butler kramt zwischen den Getränkehaltern des Autos. Dann zückt er braune Scheine und lässt das Fenster herunter. Auf dem Bürgersteig steht ein Straßenhändler, mit Watte in grellen Farben in den Händen und großen Augen, als habe er den Fahrer direkt erkannt. „Einmal“, sagt Craig Butler und zählt das Geld. „Und den Kindern im nächsten Wagen gibst du drei.“
Absage in letzter Sekunde
Auf einem nahen Hügel der Hauptstadt Jamaikas trainieren die hoffnungsvollsten Talente des Landes für ihren Traum, nach Europa zu gehen, in einem Käfig, der so groß wie ein Sechzehnmeterraum ist. Einer von ihnen war einst Leon Bailey. Mittlerweile ist er 21 Jahre alt, Linksaußen von Bayer Leverkusen und etwa 45 Millionen Euro wert. Craig Butler ist der Berater und ehemalige Trainer von Bailey. Um den sich in den vergangenen Wochen ein irrsinniger Streit entsponnen hat, über den im Karibikstaat jeder der rund drei Millionen Einwohner spricht und dessen Details von jedem einzelnen ein bisschen anders überliefert werden. Denn eigentlich sollte der Profi aus Europa im Oktober gegen das Team des Inselstaates Bonaire spielen. Zum ersten Mal im grün-gelben Trikot seines Heimatlandes. Doch in letzter Minute sagte Bailey ab. Offiziell, weil sein Bruder Kyle nicht nominiert wurde und um auf die Missstände im jamaikanischen Fußballverband aufmerksam zu machen.
Dabei erzählt dieser Konflikt viel mehr. Darüber, was geschieht, wenn in einem Land ein Einzelner größer ist als seine Sportart. Und dieser Auserwählte seine Karriere jemandem zu verdanken hat, der von der Elite des Landes verachtet wurde und nun nach der Macht greift: Craig Butler, der Adoptivvater von Leon Bailey.
Butler: Viele Frauen, guter Fußballer
„Adoptivvater?“, brüllt Butler. Es ist an diesem Samstagmittag der einzige Moment, in dem Butler laut wird. „Wer hat euch das erzählt?“ Nun, es steht überall. Jede Quelle, europäisch oder jamaikanisch, bezeichnet ihn so – ist das nicht richtig? „Nur so viel“, sagt Butler mit verschwörerischem Blick, als wolle er ein Geheimnis lüften: „Als ich jünger war, hatte ich viele Frauen. Und ich war ein guter Fußballer.“ In Jamaika gibt es viele Menschen, die behaupten, Sohn von Bob Marley zu sein. Und ein paar, die Vater von Leon Bailey sein wollen. „Leon ist mein Sohn, belasst es dabei.“ Butler schiebt seinen bulligen Oberkörper auf einer Bank nach vorne und blickt mit den auffällig grellgrünen Augen hinunter auf den Käfig. Hinunter auf das Erbe, das ihm Bailey bereits hinterlassen hat: die Phoenix All Stars Academy.
Wie das Wappentier ist auch die Geschichte hinter Butlers Akademie voller Mythen, die kaum zu glauben sind. Denn nicht Butler, der ehemalige Fußballprofi, der für jamaikanische Erstligisten und amerikanische Colleges spielte, hat sie gegründet. Sondern sein Sohn Kyle. Im Alter von fünf Jahren. „Es war der Wunsch der Kinder“, erklärt Butler. Kyle habe gesagt, dass er Fußballprofi werden wolle. Also sagte Butler: „Gut, geh’ in die Schule und trainiere dort.“ In Jamaika spielen die Kinder wie im US-System nicht in Vereinen, sondern in Schulmannschaften. „Aber Kyle sagte: ‚Nein Papa. Wir müssen es richtig angehen.‘“ Und so sei die Akademie entstanden.
Das Produkt dieser Idee ist Leon Bailey. Zugleich das Gütesiegel, weshalb der Trainingsplatz überfüllt ist. Im reichen Viertel Arcadia leben weiße Menschen mit dicken Geländewagen. Ihre Kinder spielen hier ebenso wie Ausgewählte aus ärmeren Gegenden. Sie eifern Bailey nach, über den sie reden wie über einen großen Bruder. Auf einem kleinen Kunstrasenplatz, weil die Akademie vom Verband geschasst werde und man deshalb keinen richtigen Trainingsplatz erhalte, wie Butler sagt. „Aber das wird sich bald lösen.“ Einige Kinder nimmt er abends mit nach Hause, seitdem der erste Junge an den Ärmeln seines weißen Trainingsanzugs gezupft und gebettelt hat. Sein Vater würde ihn zu Hause verprügeln. „Spring in den Jeep“, soll Butler gesagt haben. Der zweite Junge hatte seine Mutter an Krebs verloren. „Spring in den Jeep.“ Am Ende saßen 23 Kinder in seinem Auto. Und wenn sie an roten Ampeln hielten, kaufte Butler Zuckerwatte. Seine Frau verließ ihn daraufhin. „Hör auf den Kindern vorzugaukeln, dass sie Fußballprofis werden können. Lass sie zur Schule gehen und Banker werden!“ Eines dieser Kinder war Leon Bailey. In den Vereinskneipen Kingstons nennen sie den Namen des leiblichen Vaters: Bill. Sie seien mit ihm zur Schule gegangen. Doch was mit ihm geschehen ist, wissen sie nicht.
Butler ist nicht nur Wohltäter, er ist zu dieser Zeit auch Visionär, sagt er. Er investiert Geld in den jamaikanischen Fußball, verkauft sein Auto, um einen Trainingsplatz herzurichten. Später glaubt er, von Offiziellen hintergangen worden zu sein, und zieht deswegen vor Gericht. Dort wird verhandelt: „Mister Butler gegen den jamaikanischen Fußballverband“. Er gewinnt. Der Verband sperrt ihn kurz darauf für sechs Jahre. Bailey dominiert derweil den Jugendfußball, wird 2010 als wichtigster Spieler der U13‑, U15- und U17-Meisterschaften ausgezeichnet.
Die Legende aus der Wüste
Aus dieser Zeit lassen sich Videos im Internet finden, die Bailey und Kyle Butler als kleine Kinder zeigen. Säuberlich geschnitten, mit Popmusik unterlegt. Bailey hält den Ball hoch, Butler trickst, Bailey schießt auf das Tor. Werbevideos für Vereine in Europa. Ob es dort auffällt, dass die Gegenspieler etwas zu theatralisch ins Leere grätschen, während Butler und Bailey an ihnen vorbeiziehen? Egal. Denn es funktioniert. Zusammen mit Vater Craig und einem älteren Jungen, Kevaughn Atkinson, reisen sie 2011 zu viert nach Österreich. Stellen sich bei Red Bull Salzburg vor, spielen in der Jugend des FC Liefering, brechen alle Rekorde. Bailey soll 75 Tore in 16 Spielen geschossen haben. Und Kyle Butler? „99 Vorlagen“, sagt sein Vater. Beeindruckend, zumal die vier Jamaikaner zu dieser Zeit mittellos sind. „Sie lebten von der Hand in den Mund“, sagte Jugendtrainer Mike Rosbaud den „Salzburger Nachrichten“. Der gleiche Account, der ein Jahr zuvor die Videos der Talente hochgeladen hatte, zeigt nun die Gruppe in Videoschnipseln in Limousinen und den VIP-Logen europäischer Topklubs. Dann wird der belgische Erstligist KRC Genk wegen Bailey vorstellig – und Craig Butler verschwindet.
Während die Belgier bemerken, dass dem 16-jährigen Bailey eine Arbeitserlaubnis fehlt, ist sein Adoptivvater wie vom Erdboden verschluckt. Es gibt Gerüchte um eine Entführung. „Keine Gerüchte“, sagt Butler heute. Und erzählt seine Version, die damit beginnt, dass er geschäftlich für ein Elektronikunternehmen in Mexiko war. Ein Zweitjob aus alten Tagen, er war im Anzug gekleidet und mit 10 000 Dollar im Koffer unterwegs. „Es war ein Fehler, man entführte mich.“ Doch die Familie hatte kein Geld, um das Lösegeld zu zahlen. Also sollte Butler in der Wüste Mexikos umgebracht werden. Dann geschieht Unglaubliches: „Ich hatte den Lauf des Gewehres schon im Mund, da fallen die Pässe von Kyle und Leon heraus“, sagt Butler. „Ich erzähle ihnen, dass diese Jungs Fußballprofis werden könnten. Aber sie keine Chance hätten, wenn sie mich jetzt töten würden.“ Er zeigt eine winzige Narbe auf seinem breiten Nasenknochen. „Schau, hier haben sie mich mit dem Gewehrschaft geschlagen. Dann haben sie meine Knie zertrümmert und gesagt: ‚Wenn du deine Augen öffnest, bist du ein toter Mann‘.“ Eine Stunde habe er gewartet, bevor er einen Blick wagte. Mitten in der mexikanischen Wüste, ohne Wasser, krabbelte er tagelang auf gebrochenen Knien, ehe er ein Dorf erreichte, wo sie ihn drei Monate pflegten. „Ich bin fast gestorben“, sagt Butler mit erstickter Stimme.
Per Du mit den Beratern dieser Welt
Das ist seine Version, die er auch in Genk erzählte. In Belgien ist der Fall Bailey zum Arbeitsamt vorgedrungen, Butler flieht mit den Kindern in die Slowakei. Später, nachdem alle Formalitäten geklärt sind, wechselt Bailey 2016 doch noch zu Genk. Ein Jahr später holt ihn Leverkusen. Butlers Investitionen beginnen sich auszuzahlen. Vor seinem Anwesen in Kingston stehen zwei Harleys, drei Geländewagen der Marke Jeep, hinter dem Haus warten zwei Terrier im Zwinger auf ihren Herrn. Im Innern spielen Kinder und essen Zuckerwatte. Stolz präsentiert Craig Butler eine Wand, an der Fotos hängen, auf denen er mit den mächtigen Männern der Fußballwelt zu sehen ist: Jorge Mendes, Pini Zahavi, Rudi Völler, Dieter Hoeneß. Auf ein Foto mit Sting ist er besonders stolz. Die Wände seines Hauses sind sein privates Museum. Die Trikots seiner Söhne, von Antoine Griezmann und Cristiano Ronaldo hängen dort. Alte Zeitungsartikel über den Manning Cup, ein Schulturnier, das Craig Butler selbst gewann. Und in jedem Zimmer irgendein Foto seiner Söhne. „Damit die anderen Kinder sehen, dass sie alles werden können. Ein kleiner Stich für die Motivation“, sagt Butler.
Wie hat Butler einen Star entwickeln können? Was ist sein Konzept? Seine Philosophie? Er überlegt sehr lange. „Ich hatte viele Trainer. Von jedem habe ich das Beste übernommen.“ Aber das sei nicht so wichtig. Wichtig sei die Mentalität. Und die Kinder müssen unter ihm das Schachspielen lernen. Wenn er das erzählt, wirkt Butler wie ein Guru, der seine Lehren am Wühltisch zusammengeklaubt hat.
Was mit den Kindern geschieht, wenn sie älter werden, lässt sich in Pembroke auf Malta beobachten. Dort spielt der Erstligist St. Andrews FC. Dessen Präsident: Mister Craig Butler. Im Kader stehen aktuell neun jamaikanische Fußballer, darunter auch Kevaughn Atkinson, der vor sieben Jahren Teil der Reisegruppe war. Alle Spieler gehören der Phoenix Academy an, keiner hat je für die Nationalmannschaft gespielt. Zuerst liefen sie beim Konkurrenten Mosta FC auf, nun in Pembroke. Vor lauter Dankbarkeit bot ihm der Verein gleich das Amt des Präsidenten an. Es habe keine andere Wahl gegeben, als seine Spieler nach Europa zu bringen. „Die jamaikanischen Vereine ächten uns“, sagt Craig Butler. Dass er und der Verband über Kreuz liegen, ist kein Geheimnis. Butler tritt im Fernsehen auf und brüllt Verschwörungstheorien heraus. Vereinen, die Butlers Spieler verpflichten wollten, sei mit Lizenzentzug gedroht worden. Verbandsvertreter entgegen ebenso lautstark im Radio, dass es einen solchen Bann nie gegeben habe.
Jeder Jamaikaner kennt Butler. In Kingston werde kein Jeep auf der Straße angehalten, behauptet der. „Die Gangs wissen, die fahre nur ich.“ In den Vereinshäusern von Kingston wird erzählt, dass Butler ein Kinderhändler sei. Einen habe er verführt, mit ihm nach Europa zu reisen. Jason Wright, Juniorennationalspieler, habe kurz vor seinem Abschluss gestanden, ehe er die Schule abbrach, um mit den Butlers nach Belgien zu ziehen. Monate später habe er heulend seinen Vater anrufen müssen, weil er ausgesetzt worden sei und ohne Geld den Rückflug nach Kingston nicht antreten konnte. Also spendete das Dorf. Dieser Jason Wright spielt mittlerweile für die Clemson University in South Carolina. Im letzten Jahr nahm er am Auswahlverfahren für die MLS teil. Ein Topathlet, muskulös mit geschmeidigen Bewegungen. Der Mittelfeldspieler gehörte zum All-American-Team des College-Fußballs. Als er die Geschichte hört, muss er lachen: „Was für ein Bullshit.“ Ja, er habe die Schule gegen den Willen seines Vaters abgebrochen. Aber Butler habe sowohl Hin- als auch Rückflug gezahlt. Nichts sei geschehen. „Europa war eine einzigartige Erfahrung“, sagt Wright. Butler sei es gewesen, der ihn unterstützt habe. Er würde alles wieder so machen. „Der Verband muss sich ändern, nicht Craig“, sagt Wright. Doch zur Wahrheit gehört auch, dass sich wenige Minuten nach der ersten Kontaktaufnahme mit Wright ein alter Bekannter meldet. „Was wollt ihr von Jason?“, fragt Craig Butler. Nach dem Interview meldet er sich erneut und empfiehlt, die Äußerungen Wrights unbedingt mit aufzunehmen. „Es zeigt, dass sie Lügen erzählen.“
Ohne Kyle kein Leon
Seit Butler die Phoenix Academy betreibt, hat sich Jamaika verändert. Dort, wo bisher vor allem Leichtathleten ausgebildet wurden und anschließend Medaillen und viel Geld heimbrachten, werden nun auch Fußballer außerhalb der Schulen professionell herangezogen. „Viele Rohdiamanten“, hört man oft, wenn man nach dem Zustand des jamaikanischen Fußballs fragt. Im Hinterland der Insel hat ein Freund von Roman Abramowitsch einen Verein mit Internat gegründet. „Eine Kopie“, meint Craig Butler. Am Mount Pleasant wird gerade ein neues Stadion samt Unterkunft und Schulgebäuden für die vielversprechendsten Talente gebaut. Hier lernen die Kinder mehr als Schachspielen. Und die Netzwerke zum FC Chelsea seien stark, heißt es.
Und so dreht sich alles um Leon Bailey, das eine Versprechen, das Butler in der Hand hält und als Schlüssel ansieht für die Türen des Verbandshauses in der St. Lucia Avenue in Kingston. Als Bailey nach Jamaika reiste, um für die Nationalmannschaft zu spielen, soll Butler auf den Einsatz seines Sohnes Kyle gepocht haben, der nach zahlreichen Stationen aktuell in Österreich bei der zweiten Mannschaft von LASK Linz spielt. Ohne Kyle kein Leon. Er habe 15 Spieler in Übersee, die gut genug für die Nationalmannschaft seien, habe der Vater dem Verbandspräsidenten mitgeteilt. Im gleichen Atemzug soll er den Posten des Technischen Direktors gefordert haben. Was in Malta funktioniert, müsste doch auch in der Karibik klappen. „Ein Posten im Verband?“, überlegt Butler unschuldig, „ich könnte dort aufräumen.“ Er wittert Klüngelei.
Welche Absicht Butler hegt
„Wir kennen seine Absichten nicht“, sagt Roy Simpson, der Teammanager der jamaikanischen Nationalmannschaft. Bailey hätte man gerne gesehen, über die übrigen Jungs wisse man nichts. Ob Kyle Butler gut genug wäre? Simpson wägt ab: „Wenn ein Junge jahrelang durch Europa tourt und keinen Verein findet, dann ist er es vielleicht nicht.“ Warum Butler seine Spieler in der Nationalmannschaft sehen will? „Weil es für das Land wichtig wäre“, sagt er. Aber natürlich würden Einsätze auch Marktwerte steigern. Und zum anderen äußerte sich Leon Bailey nach seiner Rückkehr aus Jamaika über angebliche Angebote aus der Premier League. Chelsea und Manchester United seien interessiert gewesen. Doch für eine Arbeitserlaubnis in England müssen Nicht-EU-Ausländer wie in seinem Fall nachweisen, dass sie an 75 Prozent aller Länderspiele teilgenommen haben.
An diesem Samstag öffnet Butler alle Türen. Das Zimmer seines Sohnes Kyle, das Papageienhaus – nur das Zimmer von Leon Bailey darf nicht betreten werden, das versteht sich. Vor der Tür hängt ein Aquarell. Butler will es selbst gemalt haben. Viele Dreiecke – die Grundform des Miteinanders auf dem Fußballfeld? Butler überlegt, sucht die Dreiecke und ruft: „Genau richtig. Das war meine Idee!“