An Spieltag zwei trifft die deutsche Mannschaft auf Portugal. Welcher Spieler für den Titelverteidiger noch wichtiger als Cristiano Ronaldo wird, wann Trainer Santos seinen Kapitän auswechseln würde und was der portugiesische EM-Song mit den vergangenen Bayern-Meisterschaften zu tun hat.
Um ehrlich zu sein, fiel die Wahl angesichts der portugiesischen Kadertiefe hier wirklich nicht leicht. Gerade in der Offensive tummelt sich mit Bruno Fernandes, João Félix, Bernardo Silva, Diogo Jota und natürlich Cristiano Ronaldo die Weltklasse. Dazu gesellt sich mit dem Frankfurter André Silva ein weiterer Hochkaräter, der gerade als Joker eine wichtige Rolle im Turnier übernehmen könnte. Dennoch spricht sehr viel dafür, dass Rúben Dias zum Schlüsselspieler Portugals wird, weil Trainer Fernando Santos sehr viel Wert auf die defensive Stabilität legt und es gerade gegen Frankreich und Deutschland wohl genau auf diese ankommen wird. Der 24-Jährige Innenverteidiger gewann gleich in seiner Debütsaison mit Manchester City den Meistertitel und Ligapokal und wurde zudem zum Spieler der Saison in der Premier League gewählt – als Abwehrspieler eine durchaus seltene und deshalb besonders aussagekräftige Auszeichnung. Nicht wenige sehen in Rúben Dias sogar den derzeit besten Verteidiger der Welt. Das liegt sicherlich auch an der schweren Verletzung von Virgil van Dijk, der bei der EM nicht dabei sein wird, soll die Leistung von Dias aber nicht schmälern. So wie van Dijk überzeugt auch der Portugiese nicht nur durch Zweikampfstärke und ein gutes Passspiel, sondern auch als Anführer auf dem Platz. Guardiola sagt über ihn: „Er redet 90 Minuten lang und sagt in jeder einzelnen Aktion, was wir zu tun haben“. Sollte er den Erwartungen als Abwehrchef gerecht werden und in der Lage sein, das portugiesische Defensivspiel auf ein höheres Niveau zu heben, werden die Tore der eigenen Zauberoffensive noch mehr wert sein.
Der 66-Jährige Fernando Santos ist ein Pragmatiker – und wurde deshalb in Portugal, wo das jogo bonito, das schöne Spiel, eine große Rolle spielt, auch schon kritisch beäugt. Doch spätestens seit dem ersten internationalen Titel Portugals bei der EM 2016 ist er über alle Zweifel erhaben. Neben seinem Sinn für das taktisch Nützliche, der mitunter auch schon einmal zu einer destruktiven Spielweise führt, steht für ihn eine mannschaftliche Geschlossenheit im Vordergrund. Das führt dazu, dass auch Nationalheld Ronaldo aufgrund seiner fehlenden Defensivqualitäten nicht unangreifbar ist und sich taktischen Vorgaben unterordnen muss. In einem Interview für das portugiesische Fernsehen betonte Santos, dass Ronaldo kein Spieler sei, der dem Team in defensiver Hinsicht besonderen Nutzen bringe. Und weiter: „Wenn wir glauben, dass Christiano nicht in Form ist und der Mannschaft nicht das bringt, was wir beabsichtigen, wird er selbstverständlich ausgewechselt werden und das verstehen müssen“. Santos, dem trotz Ausbildung in der Jugendabteilung von Benfica eine große Spielerkarriere verwehrt blieb, scheint immer zu wissen, was für den sportlichen Erfolg zu tun ist. Auch als Vereinstrainer bewies er diese Fähigkeit, als er um die Jahrtausendwende herum mit dem FC Porto Meister und zweifacher Pokalsieger wurde. Dazu kommt ein Pokalsieg in Griechenland mit AEK Athen. Auch für die griechische Nationalmannschaft war Santos schon tätig und traf in dieser Funktion das bisher einzige Mal auf die DFB-Elf – das Viertelfinale der EM 2012 gewann Deutschland gegen die Griechen mit 4:2. Sollte Portugal seinen Titel von 2016 verteidigen, wäre er der erste Trainer mit zwei Europameistertiteln.
Neben den Pflichtsiegen gegen Litauen und Luxemburg tat sich das portugiesische Team in der Qualifikation zum Turnier schwer. Gegen Serbien schleppte sich die Santos-Elf im ersten Aufeinandertreffen zu einem 1:1 und gegen die Ukraine gab es neben einem 0:0 im Auftaktspiel sogar eine 1:2‑Niederlage. Dennoch qualifizierte sich Portugal mit 17 Punkten auf Platz zwei hinter den Ukrainern für die Endrunde. Bester Torschütze war Cristiano Ronaldo, der für die Hälfte der insgesamt 22 Tore verantwortlich war und beim 1:2 gegen die Ukraine zudem seinen 700. Karrieretreffer markieren konnte. Auffällig war zudem, dass vier der acht Qualifikationsspiele ohne Gegentreffer endeten – Stichwort Rúben Dias. Beim Auftakt der WM-Qualifikation im März dieses Jahres gab die Elf von Trainer Santos eine eher schwache Figur ab: Einem 1:0‑Sieg gegen Aserbaidschan folgte ein 2:2 gegen Serbien, bei dem Cristian Ronaldo allerdings ein reguläres Tor aberkannt wurde, und ein 3:1‑Pflichtsieg gegen Luxemburg, bei dem die Mannschaft sogar in Rückstand geraten war. Vielversprechend waren in diesen Spielen jedoch die Auftritte von Liverpool-Linksaußen Diogo Jota, der gleich dreimal per Kopf traf. Auch die beiden Tests vor dem Start der EM verliefen durchaus zufriedenstellend: Einem torlosen Unentschieden gegen Spanien folgte am Mittwochabend ein souveräner 4:0‑Erfolg gegen Israel.
Tja, was soll man sagen? Das Heimtrikot der Seleção das Quinas sieht aus, wie ein Nationaltrikot Portugals eben aussieht: weinrot. Durch das besonders dezente Design, den Polokragen und die schwarz-grünen Bündchen ist es allerdings auch zeitlos schick – da gibt es wenig auszusetzen. Das Auswärtstrikot geht dagegen ganz neue Wege und muss ohne Kragen auskommen. Entgegen der Tradition, auswärts ganz in Weiß aufzulaufen, entschieden sich die Portugiesen zu diesem Turnier für ein recht blasses Babyblau, das, ganz coronakonform, ein wenig an die Farbe von OP-Masken erinnert. Der Hersteller nennt den Farbton übrigens ganz offiziell Teal Tint – ob der in Krankenhäusern wohl auch so heißt? Um sich dann doch vom OP-Saal-Look abzugrenzen, kommen drei recht breite Querstreifen in Schwarz, Rot und einem Mintgrün dazu. Ganz schön nachhaltig: Wie mittlerweile fast üblich, bestehen beide Trikots zu 100 Prozent aus recycelten Plastikflaschen, sollen aber dennoch besonders atmungsaktiv und schweißableitend sein. Unter dem Titel „More Pride. Less Waste.“ sorgt das für 30 Prozent weniger Kohlenstoffemissionen und soll den Plastikmüll im Meer reduzieren. Für eine Seefahrernation wie Portugal natürlich besonders passend.
Den portugiesischen EM-Song singt diesmal ein gewisser David Carreira unter dem Titel Vamos com Tudo. Musikalisch ist das Ganze, positiv ausgedrückt, ein absolut massentauglicher Sommerhit. Man könnte aber auch einwenden, dass der Song damit in etwa so unverwechselbar ist wie eine Bayern-Meisterschaft der letzten Jahre. Wobei eine Einzigartigkeit dann doch zu finden ist: Dem Produzent gelang es tatsächlich, Christianos markanten Jubelschrei (Siiiii!) im Song zu verwursten. Und auch sonst wird selbstverständlich auf Portugiesisch gesungen. Was nicht ganz unwichtig ist, denn insgesamt drängt sich durchaus der Verdacht auf, dass der Interpret des deutschen EM-Songs Wincent-Ja-den-schreibt-man-wirklich-so-Weiss auch hinter dieser Nummer steckt. Wir haben die portugiesischen Lyrics mal durch den Übersetzer gejagt und mit denen des deutsche EM-Lieds verglichen: frappierende Ähnlichkeiten. Während Carreira fordert, die Vergangenheit zu vergessen und in der Gegenwart zu leben, gibt Weiss zu, das Gestern und Morgen nicht lenken zu können und stattdessen in Momenten zu denken. Junge, Junge. Wird Zeit, dass es losgeht.
Eine verlässliche Prognose erscheint gerade vor diesem Turnier mehr als schwierig. Sollten die Portugiesen jedoch die Gruppenphase überstehen, steht auch einem erneuten Turniersieg eigentlich nichts im Wege: der Kader erfüllt höchste Qualitätsansprüche, Trainer Santos ist ein echter General, der das Team durch die Untiefen eines Turniers führen kann und auch die Stimmung in der Mannschaft soll, nicht zuletzt durch die ausgeglichene Mischung von Alt und Jung, hervorragend sein. Ob das genügt, um wieder ins Finale zu kommen, hängt aber bekanntlich auch an Tagesform und dem nötigen Spielglück. Der portugiesische Weg bei der EM in Frankreich ist ein gutes Beispiel dafür.