„Borussia Dortmund.“
Der Taxifahrer lächelte und nickte, aber sein leerer Blick sagte mir, dass er mich nicht verstanden hatte. Deswegen wiederholte ich meine Antwort auf seine Frage, wohin er mich gerade durch die Wüste kutschierte.
„Zu Borussia Dortmund, dem Bundesligaverein. Der hat sein Trainingslager hier.“
Während wir in Richtung des NAS Sports Complex rollten, der etwas außerhalb der Stadt Dubai liegt, kniff der Fahrer die Augen zusammen, als versuche er mühsam, sich an etwas zu erinnern. Dann schüttelte er entschuldigend den Kopf.
„Aber von der Bundesliga haben Sie schon mal gehört?“, fragte ich. „Doch bestimmt von Bayern München?“
„No, Sir“, gestand er mit traurigem Gesichtsausdruck.
„Real Madrid? Barcelona, Juventus Turin, Manchester United?“
„Es tut mir leid, das sagt mir alles nichts.“
„Das sind berühmte Fußballvereine“, erklärte ich. „Football. Soccer.“
„Ah“, sagte er und seine Miene hellte sich auf. „Von Soccer habe ich schon mal gehört. Das gibt es bei Olympischen Spielen, richtig?“
Das war das erste von zwei erhellenden Gesprächen, die ich im Januar 2016 mit Einheimischen in Dubai führte. Damals gab es natürlich schon eine Menge Kritikpunkte daran, dass 2022 eine Fußball-WM im nur 400 Kilometer Luftlinie entfernten Katar stattfinden soll – von Korruptions- und Terrorismusvorwürfen über die heikle geopolitische Lage bis hin zur Menschenrechtsfragen. Aber erst auf der Taxifahrt durch die Wüste wurde mir bewusst, dass das bedeutendste Fußballturnier der Welt zum ersten Mal in eine Region vergeben worden war, in der sich niemand für Fußball interessiert.
Ein Missverständnis
Das zweite Gespräch fand im Dortmunder Mannschaftshotel statt. Mir fiel auf, dass ein gut gekleideter Hotelangestellter den ganzen Tag lang nichts anderes tat, als neben der Tür zur Terrasse darauf zu warten, dass ein Gast ins Freie wollte. Als ich mich erkundigte, ob sein Job wirklich nur darin bestand, diese Tür zu öffnen, sagte er: „Das hängt von der Jahreszeit ab. Im Sommer natürlich nicht.“ Auf meine Frage, was im Sommer anders wäre als jetzt im Winter, blickte er mich kurz prüfend an, um zu sehen, ob ich mir einen Scherz erlaubte. Dann antwortete er: „Im Sommer geht kein Gast auf die Terrasse, Sir. Im Sommer geht überhaupt niemand nach draußen.“ Ich sagte ihm, dass es bis vor kurzem noch so ausgesehen hätte, als würde man ein großes Sportereignis hier am Persischen Golf im Juni austragen. Er runzelte die Stirn und suchte nach einer Möglichkeit, seine Entgegnung höflich zu verpacken. Schließlich sagte er: „Sir, ich bin mir ziemlich sicher, dass Sie da etwas missverstanden haben.“
Hatte ich zwar nicht, trotzdem ist die Frage der Hitze bei der WM 2022 gelöst worden, und zwar durch die Verlegung in den Winter. Dass es anders gar nicht möglich war, sieht man ja gerade an der Leichtathletik-WM in Doha. Obwohl die Wettkämpfe im Herbst stattfinden, wird da ein ganzes Stadion heruntergekühlt, damit man überhaupt im Freien Sport treiben kann. Doch in manchen Wettbewerben – etwa Gehen oder Marathon – muss man das Stadion eben verlassen, was dazu führte, dass Athleten dort gleich reihenweise kollabierten. „Wir können es alle sehen: Es ist eine Katastrophe“, sagte der französische Zehnkämpfer Kevin Mayer der Zeitung „L’Equipe“.
Es ist auch ein Vorgeschmack auf das, was den Fußball in drei Jahren erwartet. Die Verlegung in den Winter ist zwar für europäische Fans eine große Umgewöhnung, aber mit der allein könnte man noch leben (und sie vielleicht sogar als historisch überfällige Geste gegenüber all jenen Ländern betrachten, wo die traditonelle Ansetzung von Weltmeisterschaften mitten in die Saison fällt). Doch was Mayer und andere Beobachter so schockiert, ist nicht allein die Witterung. „Es ist niemand auf den Tribünen,“ sagte Mayer. „Das ist traurig. Hätte ich auf die Vernunft gehört, hätte ich diese WM wahrscheinlich boykottiert.“
Bezahlter Stadionbesuch
Im Stadion, das eigentlich Platz für 40.000 Menschen bietet, sind große Bereiche abgehängt worden, aber nicht einmal die dadurch geschaffene Mini-Kapazität von 17.000 wird auch nur annähernd erreicht. Beim Finale der Frauen über 100 Meter waren nur 5000 Zuschauer anwesend; den Endlauf der Männer sahen zwar etwa doppelt so viele, dennoch sprach die „Bild“ von einem „Geister-Rennen der Schande“. So entsetzt sich auch viele Berichterstatter zeigten: Überraschend kommt diese Apathie nicht. Schon bei der Handball-WM 2015 in Katar wurden sechzig Fans aus Spanien eingeflogen, um die Mannschaft anzufeuern. Nicht die spanische, wohlgemerkt, sondern die katarische.
„Das ist ja krank“, sagte Schwedens Kapitän Tobias Karlsson, als er damals von den bezahlten Claqueren hörte. Nur wenige Monate später sorgte ein Bericht des „Guardian“ für Aufsehen, in dem es darum ging, dass Wanderarbeiter aus Kenia und Indien 30 Riyals (etwa 7,30 Euro) dafür bekommen, dass sie die Spiele der Qatar Stars League besuchen, damit die Stadien nicht so leer sind. Sonst sähe es in Katar vermutlich so aus wie in der Liga der Vereinigten Arabischen Emirate, die im letzten Jahr einen Zuschauerschnitt von 418 hatte.
Aber woher sollen in der Golfregion auch klassische Sportfans kommen, wie man sie aus den meisten anderen Gegenden der Welt kennt? Der Besuch einer normalen Sportveranstaltung hat schon deshalb keine Tradition, weil Sport an sich keine besitzt. In Katar sind mehr als 42 Prozent der Bevökerung stark übergewichtig, damit liegt das Land auf Platz sieben der weltweiten Adipositätstabelle. (Die Vereinigten Arabischen Emirate findet man auf Rang elf.) Wer selbst und aktiv Sport treibt, ist vermutlich Tourist oder ein Ausländer, der hier arbeitet. Deshalb ging der Dialog, den ich 2016 mit dem Taxifahrer führte, so weiter:
„Interessieren Sie sich denn für Sport?“, fragte ich.
„Oh ja, natürlich!“
„Und welche Sportarten gefallen Ihnen?“
„I love racing.“
„Car racing or horse racing?“
„Camel racing.“
(Aber natürlich als Zuschauer, nicht als Jockey. Früher wurden die Kamele von im Grunde versklavten Kindern geritten, heute von kleinen Robotern.)
Noch drei Jahre Zeit
In vielen Sportarten kann man ein solches Desinteresse der Menschen offenbar verschmerzen. So kamen vor vier Jahren bei der Handball-WM nur 600 Leute zum Spiel zwischen Deutschland und Russland in die Halle, ohne dass die Öffentlichkeit sich darüber auch nur ansatzweise so aufregte wie jetzt gerade über die Rahmenbedingungen bei der Leichtathletik-WM. Das hat aber natürlich nichts mit der Leichtathletik zu tun. Sondern mit dem Fußball. Die Welt schaut auf die Geisterwettkämpfe der besten Läufer, Springer und Werfer und rechnet hoch, wie das Ganze wohl in 37 Monaten aussehen wird, wenn ein Sport in Katar gastiert, der viel, viel mehr als Handball oder Leichtathletik oder Kamelrennen davon lebt, dass es auf den Rängen laut, bunt, lebhaft und leidenschaftlich zugeht.
Noch hat man drei Jahre, um das Problem zu lösen. Drei Jahre, in denen sich die FIFA und der WM-Gastgeber überlegen können, wie sie ein PR-Desaster vermeiden, von dem sie gerade nur einen kleinen Vorgeschmack bekommen. Es wird nicht reichen, so wie Katar das aktuell versucht, die Abwesenheit von Atmosphäre durch Lasershows zu kaschieren. Es wird auch nicht reichen, sich wie vor vier Jahren Fans im Ausland anzumieten oder Gastarbeiter für den Stadionbesuch zu bezahlen. Im Grunde bleibt nur eine vom Kamelrennen inspirierte Lösung: Roboter auf den Rängen.