Wunderkinder, wohin man blickt! Jeder Jungkicker, der geradeaus laufen kann, wird zum Ausnahmetalent hochgejazzt. Aber wehe, sie erfüllen die Erwartungen einmal nicht.
Der „Kölner Express“ wusste es im Jahre 2001 ganz genau. „FC-Wunderkind entdeckt!“, vermeldete die Boulevardzeitung auf der Titelseite und schob atemlos hinterher: „Acht-Jahres-Vertrag für Marco (12)“. Und das war natürlich eine Schlagzeile ganz nach dem Geschmack der Fans des 1. FC Köln. Mochten andere Bundesligaklubs auch horrende Summen auf dem Transfermarkt ausgeben, mit dem jungen Burschen war dem Effzeh eine glorreiche Zukunft quasi garantiert. Erst Europa League und Meistertitel und dann der Siegeszug durch die Königsklasse, wo gibt’s bitte Tickets? Marco kam in der Öffentlichkeit daher wie eine kongeniale Mischung aus Litti und Zidane, eine jugendliche Fernet-Branca-Flasche.
Man sagt, er habe magische Kräfte. Und da fiel dann auch nicht ins Gewicht, dass gerade ein komplexer Vertrag für einen zwölfjährigen Jungen aufgesetzt wurde, der im Matheunterricht sicher noch nicht mal das Multiplizieren im Hunderterbereich durchgenommen hatte.
Der „Dattelpflücker-Poldi“
Es dauerte dann nicht einmal die acht Vertragsjahre, bis offenbar wurde, dass Marco eher als Mischung aus Matthias Scherz und Heiko Westermann daherkam. Das reichte dann aber nicht mehr für große Schlagzeilen, weil es nicht nur beim FC, sondern im gesamten Spitzenfußball längst allgemein in Mode gekommen war, ständig neue und immer noch jüngere Spieler zu verpflichten. Elfjährige, Zehnjährige, Neunjährige, alles Wunderkinder, alles absolute Ausnahmetalente, die in der Theorie in wenigen Jahren den Weltfußball beherrschen würden und in der Praxis relativ rasch von genervten Jugendleitern aussortiert wurden.
Nun hatte Marco auch noch das Pech ausgerechnet beim 1. FC Köln angelandet zu sein, wo ab 2003 ein junger Mann namens Lukas Podolski seinen Dienst antrat und im folgenden Jahrzehnt zum Maßstab für jeden kölschen Nachwuchskicker avancieren sollte. Weil Poldi nämlich irgendwann nicht mehr zu halten war, wurde in manisch-depressivem Furor sein Nachfolger gesucht. Jeder, der in Bergheim, Weidenpesch oder Porz den Ball mehr als zweimal hochhalten konnte, wurde erbarmungslos zum neuen Hoffnungsträger hochgejazzt. Und damit all die Thronfolger noch irgendwie auseinandergehalten werden konnten, bekamen die Epigonen stets noch einen weiteren Beinamen verpasst, worunter vor allem der marokkanische Angreifer Adel Chihi leiden musste, der nämlich wenig charmant zum „Dattelpflücker-Poldi“ ernannt wurde, ein schon deshalb krummer Vergleich, weil der in Düsseldorf geborene Chihi schon auch mal Relativsätze in die wörtliche Rede einflocht.
43-jähriges Wunderkind
In Köln konnten sich noch nicht einmal die Übungsleiter sicher sein, nicht auch als Nachwuchssensation abgefeiert zu werden. Als der Norweger Stale Solbakken 2011 beim Effzeh anheuerte, vermeldeten die rheinischen Gazetten stolz, der Coach gelte in seiner Heimat als „Trainer-Wunderkind“. Was schon deshalb lustig war, weil das Kind damals bereits 43 Jahre alt war, eine prächtige Glatze hatte und auf der Trainerbank stets so grimmig dreinblickte wie ein gegerbter Schärenfischer bei Sturmflut.
Was in Köln der Poldi war, war in früheren Jahrzehnte auf globaler Ebene stets Diego Maradona. Jeder Fummelkopp wurde zwanghaft mit dem argentinischen Superstar verglichen. Der Österreicher Andreas Herzog hieß bald „Alpen-Maradona“, obwohl er ungefähr siebenmal so groß wie Maradona war und sich auch nicht zum Frühstück ein gutes Pfund Kokain in die Nase rüsselte. Der Rumäne Gheorghe Hagi war der „Karpaten-Maradona“ und Choi Sung-kuk der „Korea-Maradona“. Edvin Murati firmierte als „Maradona vom Balkan“ und der Saudi Said al-Uwairan wird immer mal wieder sein Tor gegen Belgien bei der WM 1994 verflucht haben. Anschließend kannte man den guten Mann nämlich nicht mehr bei seinem bürgerlichen Namen, sondern nur noch als „Wüsten-Maradona“, ganz so, als wäre der junge Mann immer auf dem Kamel zur nächsten Oase mit Sportplatz geritten.
Tempi passati, heute wird längst nicht mehr nach Nachfolgern für den feisten Diego gesucht, stattdessen finden sich plötzlich überall auf der Welt und sogar beim Hamburger SV sogenannte „Mini-Messis“, junge Wiedergänger des großen Lionels. Ein Etikett, das inzwischen freihändig an jeden Spieler vergeben wird, der körperlich nicht gerade dem begehbaren Kleiderschrank Jan Koller nacheifert und sich in irgendeiner Kneipenliga schon mal durch die Abwehrreihen getankt hat. Als der Deutsch-Argentinier Nicolas Sessa bei der zweiten Mannschaft des VfB Stuttgart ein paar holzbeinige Regionalligakicker verladen hatte, ejakulierte die „Stuttgarter Zeitung“ gleich mal: „Jetzt hat auch der VfB Stuttgart seinen Messi“. Genauso übrigens wie der FSV Mainz 05, in dessen Reihen in der Saison 2016/17 plötzlich ebenfalls Messi auflief, allerdings unter dem Namen Bojan Krkic, der nach einem halben Jahr auch schon wieder weg war. Ebenfalls bei den Messi-Allstars dabei: Tottenhams 18-jähriger Mittelfeldmann Marcus Edwards, der Argentinier Maximiliano Romero von Velez Sarsfield und der inzwischen nach Las Palmas verklappte HSV-Einkauf Alen Halilovic, der sich immerhin noch die Mühe gemacht hatte, sich die Haare ähnlich nachlässig in die Stirn zu kämmen und so ausdrucksarm in die Kamera zu linsen wie der große Lionel.
Vom Kreißsaal ins Trainingszentrum
Und schon mal was von Claudio Gabriel Nancufil gehört? Der Bursche ist in den argentinischen Anden aufgewachsen und firmierte deshalb, klarer Fall, als „Schnee-Messi“, als 2014 all die großen Klubs wie Real Madrid und Barcelona auf ihn aufmerksam wurden. Die Vereine hatten keine Zeit zu verlieren, der Claudio war nämlich damals schon acht Jahre alt, also quasi ein fertiger Fußballer. Und es wird die Zeit kommen, wo werdende Väter auf der Wartebank vorm Kreißsaal keinen Platz mehr finden werden, weil dort schon die Scouts der großen Klubs ungeduldig auf die Geburt des nächsten Lionel-Epigonen warten.
Die Hysterie, mit der inzwischen jede Verpflichtung im Nachwuchsbereich verkündet wird, hat übrigens längst auch auf den Amateurbereich übergegriffen. Genauso wie ehrgeizige Eltern ihre Kinder schon für hochbegabt halten, wenn diese den Dreisatz einigermaßen unfallfrei anwenden können, und dann nur mit Mühe davon abgehalten werden können, den Spross gleich mal in der Schnellläuferklasse des Elitegymnasiums anzumelden, halten Nachwuchstrainer manche ihrer Schützlinge allzu schnell für Jahrhunderttalente. Nun ist kein Jugendlicher schon ein Kandidat für die Startelf bei den Bayern, bloß weil er mal im D‑Jugend-Training zwei O‑beinige Mitspieler getunnelt hat. Weil aber jeder Jugendtrainer davon träumt, später mal als begnadeter Talentscout und legendärer Entdecker gewürdigt zu werden, prophezeien sie auch jungen Burschen große Karrieren, deren Talent und Wille erkennbar mal so knapp für die Kreisauswahl reichen: „Du wirst mal ein ganz Großer“, raunen sie den Kickern zu, und es wurde tatsächlich schon in Elternchatgruppen mäßig ambitionierter Berliner D‑Jugendmannschaften ernsthaft darüber diskutiert, wie viele der Kinder wohl den Sprung in den Profibereich schaffen. Die richtige Antwort („keiner“) wurde jedoch nicht erwähnt.
Mega-Juwel statt einfach nur Juwel
Ein Schicksal übrigens, das auch manchem vermeintlichen Ausnahmetalent nicht erspart bleiben wird, das derzeit mit viel Pomp und Gewese von Profiklubs verpflichtet wird. In der Bundesliga kommt man sich inzwischen oft vor wie im Schmuckgeschäft. Denn derzeit tummeln sich allein im deutschen Profifußball mehr Juwelen als im Diadem von Queen Elizabeth. Nehmen die großen Klubs heutzutage einen jungen Spieler unter Vertrag, ist das nicht mehr ein hoffnungsvolles Talent, ein aussichtsreicher Nachwuchskicker, sondern immer gleich ein „Juwel“, selbst wenn es sich bei manchem Jungkicker eher um Katzengold handelt. So inflationär wird der Begriff inzwischen gebraucht, dass es längst eine Steigerungsform gibt. Als der BVB in diesem Sommer das 17-jährige Talent Jadon Sancho von Manchester City nach Dortmund lotste und dafür spektakuläre acht Millionen Euro auf den Tisch legte, brauchte es dafür eine sinnhafte Begründung. Also war der ein wenig verschüchtert in die Kamera grienende Sancho nicht einfach nur ein „Juwel“, sondern gleich mal, na klar, ein „Mega-Juwel“.
Dabei ist ja ganz offensichtlich, wozu die gnadenlose Überhöhung der jungen Kicker führt. Dazu nämlich, dass sie mit völlig unrealistischen Erwartungen konfrontiert werden und alsbald als Flop und Fehleinkauf gehandelt werden, wenn sie nicht schon mit 15 Jahren den Sprung in die Profielf schaffen. Man nehme nur das unschöne Beispiel des zwölfjährigen Dortmunders Youssoufa Moukoko. Der spielt derzeit bereits in der Dortmunder B‑Jugend und schießt dort Tore am Fließband, ohne den zweiten Vornamen „Wunderkindq wird er in den Zeitungen nie erwähnt. Weil seine Statur aber eher an einen 16-Jährigen erinnert, wird der Junge zugleich seit Monaten über den Boulevard gehetzt, ganz so, als handele es sich um einen abgefeimten Trickbetrüger und Hütchenspieler. Wo Wunderkind draufsteht, muss halt auch Wunderkind drin sein.
Zur Leihe nach Swansea
Beim FC Bayern zum Beispiel. Da haben sie vor der Saison schnell Renato Sanches leihweise nach Swansea vermittelt. Das „frühreife Wunderkind“ („Augsburger Allgemeine“) war dann doch nicht so durchgestartet wie gedacht. War eben nur ein Talent und kein Ausnahmetalent. Nur ein Juwel und kein Mega-Juwel. Welche Enttäuschung.