Im November 2016 sterben bei einem Flugzeugabsturz 71 Menschen, darunter fast alle Profis der AF Chapecoense. Nun, vier Jahre nach der Tragödie, ist der Verein, dessen Schicksal die ganze Welt bewegte, wieder in Brasiliens erste Liga aufgestiegen.
Die folgende Reportage erschien Ende 2016 in 11FREUNDE #182. Seit heute, drei Jahre nach dem Absturz, steht fest, dass Chapecoense abgestiegen ist.
„Vektoren! Vektoren!“, sagt der Pilot, und dann ist es still.
Die letzten Worte von Miguel Quiroga kommen per Funk am Flughafen José Maria Cordova im kolumbianischen Medellin an. Der Mann spricht klar und bestimmt. Er fleht nicht, seine Stimme zittert nicht. Dabei hat Quiroga den Tod vor Augen.
Seit einigen Minuten steht er in Kontakt mit einer Fluglotsin. Er hat der Frau bereits erklärt, dass seinem Flieger, einer Maschine vom Typ Avro RJ85, der Treibstoff ausgegangen ist. Er hat von einem kompletten Defekt der Elektronik berichtet. Sie sagt: „Sie sind 8,2 Meilen von der Landebahn entfernt.“ Keine Antwort. Sie fragt: „Wie ist Ihre Flughöhe?“ Wieder nichts. Nur das Rauschen der Apparaturen, das Klackern einer Tastatur, eine schier endlose Stille. Irgendwann durchbricht ein Kollege der Lotsin das Schweigen: „Er antwortet nicht mehr.“
Es ist der 28. November 2016, kurz vor 22 Uhr Ortszeit, als Quirogas Maschine vom Radar verschwindet. Irgendwo über der Ortschaft La Union, vor „Cerro Gordo“, dem dicken Hügel, einem über 3000 Meter hohen Bergmassiv. Als der Flieger zerschellt, hat er eine Flughöhe von 2600 Metern. 71 der 77 Flugzeuginsassen sterben, darunter 19 Spieler des brasilianischen Erstligaklubs AF Chapecoense sowie 23 Trainer, Team-Betreuer und Funktionäre.
Es ist der 28. November 2016, kurz nach 22 Uhr, als die Mannschaft des AF Chapecoense auf dem Weg zum größten Triumph ihrer Vereinsgeschichte beinahe komplett ausgelöscht wird. Chapeco ist eine Stadt im Süden Brasiliens. Sie zählt knapp 200.000 Einwohner, die meisten arbeiten in der Fleisch- oder Möbelindustrie, viel zu sehen gibt es hier nicht. Wenn sich Touristen in die Stadt verirren, sind sie meistens auf der Durchreise. Nach Argentinien, Uruguay oder ins 500 Kilometer entfernte Florianopolis, das Surfparadies an der Atlantikküste.
„Nossa Chape – Unser Chape“ ist der Eröffnungsfilm auf dem 11mm-Festival 2019 in Berlin.
O jogo bonito, das schöne Spiel, gibt es in Chapeco erst seit 1973. Damals gründet sich der Associaçao Chapecoense de Futebol, den die Fans heute Chape nennen. Es ist ein Verein, der in den kommenden Jahren durch die unteren Fußballligen Brasiliens tingelt und ein paar Regionalmeisterschaften gewinnt. Ein Sprungbrett für den Nachwuchs, heißt es. Ein Zulieferer für Talente. Aber wen hat der Klub hervorgebracht? Der ehemalige Bundesligaprofi Paulo Rink kickt mal einige Monate für Chapecoense. Ebenso ist Diego Viana, der später für Greuther Fürth spielt, in seiner Jugend hier aktiv. In Wahrheit bleibt Chapecoense lange Zeit ein unbedeutender Provinzklub, der Mitte der Nullerjahre nur mit Hilfe von lokalen Geschäftsleuten eine Pleite abwenden kann und im Jahr 2009 noch in der Serie D spielt, der vierten Liga Brasiliens.
Ein Klub als moralisches Vorbild
Dann aber nimmt die Geschichte eine Wendung, die kaum ein Experte für möglich gehalten hätte. Binnen fünf Jahren steigt der Klub dreimal auf, und auf einmal findet er sich in der ersten Liga wieder. Die Klubführung lässt das Stadion renovieren und die Kapazität von 15.000 auf 22.000 Plätze erweitern. Größenwahnsinnig wird aber niemand in Chapeco, es ist trotz des Tempos ein behutsamer und leiser Aufstieg. Die Klubführung denkt zumindest nicht daran, Topstars zu kaufen und Unmengen an Geld zu verschleudern. Noch im Sommer 2016 liegt das Jahresbudget des gesamten Kaders bei zwölf Millionen Euro – etwa ein Drittel von dem, was angeblich ein Spieler wie Cristiano Ronaldo alleine in einem Jahr verdient.
Chapecoense genießt bald einen guten Ruf in Brasilien, er wird ein sympathischer Gegenentwurf zu all den Klubs, in denen seit Jahren Missmanagement und Korruption vorherrschen. Chape, so berichten die nationalen Medien immer wieder, zahle sogar die Gehälter seiner Spieler im Voraus. „In einem Land, in dem so viele denken, sie könnten Riesen sein, kannte Chapecoense seine wirkliche Größe“, schrieb der brasilianische Sportjournalist André Rocha nach dem Flugzeugabsturz. „Chapecoense war ein moralisches Vorbild.“
In der ersten Serie-A-Saison wird Chapecoense 15., in der zweiten schafft es das Team auf Rang 14. Keine herausragenden Platzierungen, in Brasilien aber reichen sie aus, um sich für die Copa Sudamericana zu qualifizieren, den zweitwichtigsten Kontinentalwettbewerb Südamerikas. Und dort wächst die Mannschaft über sich hinaus. 2015 scheitert das Team knapp im Viertelfinale am ruhmreichen River Plate. In diesem Jahr erreicht Chapecoense das Endspiel. Eine Sensation, ein Wunder. „Ein Abenteuer, das einen ganzen Kontinent staunen lässt“, schreibt der südamerikanische Fußballverband Conmebol auf seiner Homepage. Es ist so, als würde Darmstadt 98 das Finale der Europa League erreichen.
Was wäre gewesen, wenn…
Dabei ist Chapecoense seinen Gegnern spielerisch oft unterlegen, aber man kennt ja die Geschichte vom Pokal und seinen eigenen Gesetzen. Im Achtelfinale kämpft sich die Mannschaft durch zwei 0:0‑Unentschieden gegen den ehemaligen Weltpokalsieger CA Independiente aus Argentinien ins Elfmeterschießen. Dort gewinnen die Brasilianer 5:4. Im Halbfinale wartet der CA San Lorenzo, zwölffacher Meister CA San Lorenzo, zwölffacher Meister Argentiniens und Copa-Libertadores-Gewinner von 2014. Wieder: großes Drama, große Gefühle. Nach einem 1:1 reicht Chapecoense ein 0:0 im Rückspiel – und genau dieses Ergebnis zeigt die Anzeigetafel in der heimischen Conda Arena kurz vor Spielende an. Aber dann! Eine Flanke segelt in Chapes Strafraum. San Lorenzos Marco Angeleri kommt an den Ball. Alleine. Einschussbereit. Fünf Meter vor dem Tor. War es das? Nein. Danilo, der Torhüter, der Teufelskerl, zuckt und wehrt den Ball mit einem Fußreflex ab. ESPN schreibt danach von dem größten „Herzstillstand-Moment“, den die Zuschauer je in der Arena erlebt haben.
Oft fragen sich Fans nach Jahren noch, wie ihr Verein heute dastehen würde, wenn dieser oder jener Stürmer damals in Bochum, Hamburg oder Barcelona den Ball in der letzten Minute nicht an den Pfosten gesetzt hätte. Im Fall von Chapecoense wiegt diese Frage heute tonnenschwer. Wie hätte sich die Geschichte verändert, wenn Angeleri nur ein paar Zentimeter weiter nach links oder rechts geschossen hätte? Seine Mutter sagt später: „Wenn Danilo den Ball nicht gehalten hätte, wäre seine Karriere vorbei gewesen. Aber die Karriere war sein Leben. Er hat mit der Parade seine Karriere verteidigt.“
„Wir alle zusammen werden unser Leben geben für das Finale“
Nach dem Abpfiff besingen die Fans Danilo als Heiligen. Dann tritt der Torhüter vor die Mikrofone und sagt: „Wir alle zusammen werden unser Leben geben für das Finale.“ Und Trainer Caio Junior ergänzt: „Wenn ich heute sterben würde, wäre ich ein glücklicher Mensch.“
In Südamerika haben die meisten Menschen keine Scheu vor großem Pathos und bedeutungsschwangeren Metaphern. Gott, Liebe, Krieg, Tod – nichts scheint zu gewaltig, um eine Sache zu beschreiben, auch wenn es nur um ein Fußballspiel geht. Das sollte man wissen, wenn man die Sätze von Caio Junior oder Danilo zitiert. Und dennoch bleiben sie aus heutiger Sicht im Hals stecken. Dabei ging es den beiden vor allem darum, den Zusammenhalt im Team zu verbildlichen, dieses alte Elf-Freunde- und Alle-für-einen-Romantik zu beschwören. Wer wissen möchte, wie diese Gemeinschaft aussah, kann sich im Internet etwa alte Videos aus der Chapecoense-Kabine anschauen. Die Spieler nach dem Halbfinale gegen San Lorenzo, singend, tanzend, minutenlang trommeln sie auf die Spinde. Da ist wieder Danilo, der Heilige.
Und Bruno Rangel, der Fan-Liebling, der Stürmer, der in 144 Spielen für Chapecoense 77 Tore schoss. Und natürlich Cleber Santana, 35, Kapitän der Mannschaft, der zwischen 2007 und 2010 sogar für Atletico Madrid und RCD Mallorca spielte. Das Finale sollte das letzte große Spiel seiner Karriere sein.
Warum macht der Pilot keine Zwischenlandung in Bogota?
Normalerweise dauert die Auswertung eines Flugzeugunglücks Wochen, manchmal sogar Monate oder Jahre. Im Fall des Fluges 2933 ist die Sache schon nach wenigen Tagen klar. Alles beginnt damit, dass die Vereinsführung von Chapecoense einen Charterflug bei der bolivianischen Fluggesellschaft LaMia bucht. Die Maschine soll Spieler, Trainer, Funktionäre und Journalisten aus Santa Cruz ins 2940 Kilometer entfernte Medellin bringen, wo das Final-Hinspiel der Copa Sudamerica gegen die Kolumbianer von Atletico Nacional angesetzt ist. Vollgetankt kann der Flieger von LaMia eine Strecke von 2963 Kilometern zurücklegen. Unter besten Wettervoraussetzungen, mit idealer Fluglinie und ohne Warteschleifen hätte das Flugzeug sein Ziel also erreicht – und sogar 23 weitere Kilometer Puffer gehabt. Aber wer rechnet so? Südamerikanische Behörden fordern einen Reservetank, der für 45 weitere Minuten ausreicht. Das heißt: Eine Zwischenlandung wäre dringend notwendig gewesen, und sie soll im bolivianischen Cobija auch eingeplant gewesen sein. Weil der Flieger aber verspätet in Santa Cruz startet und der Flughafen von Cobija nachts geschlossen ist, muss der Tankstopp dort ausfallen. Bleibt die Frage, warum die Maschine nicht, wie empfohlen, in Bogota zwischenlandet.
Eine Antwort darauf könnte der 36-jährige Quiroga liefern. Der ehemalige Offizier der bolivianischen Luftwaffe ist nicht nur Pilot der Maschine, sondern auch einer der Eigentümer von LaMia, was unüblich ist, aber offenbar niemanden stört. Die simple und erschreckende Erklärung lautet also: Quiroga versucht, Medellin im Direktflug zu erreichen. Er will Geld sparen und riskiert damit sein Leben und das von anderen.
Nach dem Unglück kommen aber noch weitere brisante Details über die Fluggesellschaft LaMia ans Licht. Auf ihrer Homepage wirbt die Firma etwa mit drei Flugzeugen, von denen zwei aber seit Monaten gewartet werden. Außerdem soll sie bekannt dafür gewesen sein, südamerikanische Fußballmannschaften zu transportieren und dabei mit spitzem Bleistift zu kalkulieren. 18 Tage zuvor fliegt die argentinische Nationalelf um Lionel Messi mit exakt derselben LaMia-Maschine nach Kolumbien. Es geht zwar alles glatt, aus den Daten von FlightRadar 24h geht allerdings hervor, dass die Maschine nach der Landung für gerade mal 18 weitere Flugminuten Treibstoff gehabt hätte. Mittlerweile hat die bolivianische Regierung der Airline die Lizenz entzogen und den Chef der Firma verhaftet.
In den Tagen nach dem Unglück hängen die Wolken tief über Chapeco. Die Straßen sind verlassen. Die Menschen bleiben zu Hause, und wenn sie doch aus der Tür gehen, machen sie sich auf den Weg zum Stadion. Am 30. November etwa, am Tag, als das Final-Hinspiel stattfinden sollte, füllt sich die Arena Conda bis auf den letzten Platz. Die Menschen singen „Eeeee, vamos, vamos, Chapeeee.“ Und als hätten die Fans in Medellin sie gehört, machen auch sie sich auf den Weg in ihr Stadion und beginnen ihrerseits mit Gesängen: „Eeeee, vamos, vamos, Chapeeee.“ Sie alle hatten zwei Tage den Atem angehalten, geweint und getrauert, und nun fegt ihr Wechselgesang über 4500 Kilometer, als wollte er den Kontinent aus den Angeln heben.
In jenen Tagen trudeln Beileidsbekundungen aus der ganzen Welt ein. Spieler wie Ronaldinho, Eidur Gudjohnsen, Riquelme oder Zé Roberto erklären, dass sie in der kommenden Saison für den Klub auflaufen möchten und dabei auf ein Gehalt verzichten werden. Der AS Saint-Etienne trägt bei einem Ligaspiel das Wappen von Chapecoense auf der Brust, und San Lorenzo läuft komplett in den Trikots der Brasilianer auf. Atletico Nacional teilt derweil mit, dass es auf den Copa-Titel verzichtet und fordert zugleich, ihn an Chapecoense zu vergeben. Kurz darauf kommt der südamerikanische Fußballverband Conmebol dem Wunsch nach.
Als eine Woche nach dem Unglück die Toten in die Heimat gebracht werden, ist die Stadt Chapeco wie gelähmt. Es regnet in Strömen, und die Stadt ertrinkt in Millionen Tränen, als die Särge vom Flughafen ins Stadion gebracht werden. Dort, in der Arena Conda, liegen sich die Menschen in den Armen. Auch Ilaides Padilha, die Mutter des verstorbenen Danilo, ist da. Als sie interviewt wird, stellt sie plötzlich eine Gegenfrage. Sie möchte von einem Journalisten wissen, wie er sich fühle, schließlich seien unter den Toten auch 20 Reporter. Dem Interviewer verschlägt es die Sprache. Er weint, er heult, er bricht beinahe zusammen, und sie nimmt ihn in den Arm, als wäre er ihr Sohn.
„Herz und Flugzeug sollten unser Markenzeichen sein“
In jenen Tagen berichten auch andere Hinterbliebene von ihren Männern, Söhnen oder Brüdern. Rosangela Loureiro, die Witwe des verstorbenen Cleber Santana, erzählt von einer gemeinsamen Reise, die sie mit zwölf anderen Chapecoense-Paaren geplant hätten. Nach dem Finale wollten sie nach Punta Cana in die Dominikanische Republik fliegen. Sie hatte sich deshalb eine Tätowierung stechen lassen: ein Herz – und ein Flugzeug. In einem Interview mit Globoesporte erklärt Loureiro: „Wir alle, auch die Männer, wollten das Tattoo tragen. Als Andenken an ein tolles Jahr und eine traumhafte Reise: Herz und Flugzeug sollten unser Markenzeichen sein.“
In jenen Tagen, die geprägt sind von Schmerz und Leid, tauchen aber auch Geschichten von sagenhaften Zufällen und unfassbaren Glücksmomenten auf. Die Welt erfährt etwa von den sechs Insassen des Fluges LMI2933, die wie durch ein Wunder überlebten – unter ihnen auch die Chape-Spieler Alan Ruschel, Jakson Follmann und Neto. Oder die Menschen hören von den Glücklichen, die aus verschiedenen Gründen die Reise nicht angetreten haben. Von Marcelo Boeck, dem dritten Torhüter, der nicht mitreiste, weil er Geburtstag hatte – und der nun sein Karriereende erklärt. Von Matheus Saroli, dem Sohn von Trainer Caio Junior, der erst am Flughafen bemerkte, dass er seinen Pass vergessen hatte, weswegen er wieder heimkehren musste. Oder von Moises Ribeiro Santos, der sich im Sommer so stark verletzte, dass er den kompletten Herbst in der Reha verbrachte. Eigentlich wäre er wieder fit gewesen, sagt er. Und als sein Trainer ihm eröffnete, dass er ihn trotzdem nicht mitnehmen werde, war er am Boden zerstört. Eine Woche nach dem Unglück sagt er einer brasilianischen Zeitung: „Gott beschützte mich. Aber warum hat er die anderen nicht beschützt?“
Das Rückspiel gegen Atletico Nacional hätte am 7. Dezember in Curitiba stattgefunden, 450 Kilometer nordwestlich von Chapeco. Chapes Stadion ist schlichtweg zu klein für ein Pokalfinale. Am diesem 7. Dezember also findet nun kein Spiel statt, das Stadion ist trotzdem voll. Über 30.000 Fans beten und trauern. Sie verwandeln das Rund in ein grün-weißes Lichter- und Fahnenmeer. Es sind Menschen aus Curitiba und Chapeco, aus der ganzen Region. Sie singen: „Eeeee, vamos, vamos, Chapeeee!“ Immer und immer wieder. Es ist der Gesang, den die Spieler nach dem Finaleinzug gegen San Lorenzo in der Kabine angestimmt hatten. Sie singen so lange, bis sie heiser sind und noch länger. Und dann ist es wieder still.