Kaum ein Spieler polarisiert so stark wie Sandro Wagner. Nun hat er seine Karriere beendet. 2017 trafen wir ihn zum großen Interview und diskutierten mit ihm unter anderem die Frage: Nehmen wir den Fußball zu ernst?
Auf dem Platz wirkt es manchmal, als würde Ihr Selbstvertrauen ins Unfaire kippen. Sind Sie ein unfairer Spieler?
Nullkommanull. Ich hab erst einmal glatt Rot gesehen, gegen Leipzigs Stefan Ilsanker kam ich im Zweikampf zu spät. Da habe ich mich so oft entschuldigt, dass ich abends fast den Flieger ins Sportstudio verpasst hätte. Ich mag es nicht zu foulen. Oder gar zu verletzen.
2016/17 waren Sie auch gar nicht der unfairste Spieler der Liga, mit 72 Fouls lagen Sie auf Platz zwei.
Ich führe aber auch mit die meisten Zweikämpfe und werde selbst sehr oft gefoult. Nach manchen Spielen liege ich zwei Tage auf dem Sofa und kann mich kaum noch bewegen. Aber das ist einfach mein Spiel. Mich kriegt niemand klein. Nicht der Gegner, nicht die Fans, es kann 0:4 stehen, ich werfe mich trotzdem noch in die Zweikämpfe. In Sachen Mentalität können mir bestimmt nicht viele Bundesligaspieler das Wasser reichen. Und zur Statistik: Es wird schon wegen meiner Größe wahnsinnig viel abgepfiffen. Was denken Sie, wie oft ich vom Schiri höre: „Guck doch mal, wie groß du bist.“ Ein typischer Schirispruch, bei dem ich immer schmunzeln muss. In England hätte ich vielleicht zwanzig Fouls in der Statistik.
Mario Basler hat mal gesagt, es gebe kaum etwas Geileres, als in Dortmund von 70 000 Leuten ausgepfiffen zu werden.
Für mich auch nicht. Wenn ich merke, dass die Stimmung richtig aufgeheizt ist, versetzt mir das einen unglaublichen Adrenalinstoß. Tausende Menschen in einem riesigen Stadion, zwei Mannschaften gegeneinander: Da fühle ich mich wie ein Gladiator. Und je brisanter das Spiel, desto besser bin ich.
Wo war es am brisantesten?
Die Champions-League-Qualifikation mit Werder Bremen 2010 in Genua. Die Stimmung war unfassbar. Selbst so ein alter Hase wie Claudio Pizarro sagte, so etwas habe er noch nicht erlebt. Und ich war erst 21. Solche Spiele gibt es immer wieder mal, letzte Saison in Frankfurt etwa. Da herrschte eine Atmosphäre, in der sich andere Spieler schon mal in die Hose scheißen können. Aber mir hat es großen Spaß gemacht.
Der Ellbogenschlag von David Abraham gegen Sie sah damals nicht nach Spaß aus. Trikots haben Sie beide an diesem Abend nicht getauscht, oder?
(Lacht.) Vielleicht das nächste Mal. So etwas passiert. Ich habe ihm direkt nach der Szene gesagt: „Hey, ich bin auch ein harter Spieler. Aber das war unfair.“ Da hat er sich entschuldigt. Hätte er anders reagiert, wäre ich sauer geworden. So war das gegessen. Aber auch wenn mir danach zwei Tage schwindelig war: Das sind die geilen Spiele, ich liebe das. An dem Abend hätte schon mehr passieren müssen, damit ich freiwillig den Platz verlasse.
Auf dem Platz sind Sie sehr emotional, in Fieldinterviews dann oft fast lammfromm. Haben Sie irgendwo einen Schalter eingebaut?
Eigentlich bin ich ein ruhiger Typ. Privat kann ich gar nicht richtig sauer werden. Aber wenn ich das Spielfeld betrete, werde ich ein anderer Mensch. Auf dem Platz muss ich anecken, um erfolgreich zu sein. Auch wenn ich mir damit natürlich nicht nur Freunde mache. Mich interessiert aber nicht, ob die Leute mich mögen. Ich muss nach dem Spiel nicht von den Fans zum Auto getragen werden.
Überdrehen Sie mit Ihrer Art manchmal? Einen Treffer für Darmstadt in Berlin bejubelten Sie vor der Ostkurve, wo die strammen Hertha-Fans stehen.
Ach, bei dem Tor waren so viele Emotionen im Spiel. In Berlin hatte man mich ein Jahr zuvor vom Hof gejagt, ich musste im Training alleine Bälle aufs leere Tor schießen. Dann komme ich mit Darmstadt wieder und schieße das Tor zum Klassenerhalt. Das musste raus. Der Jubel wurde allerdings falsch gedeutet.
Inwiefern?
Zur Ostkurve hatte ich immer ein gutes Verhältnis. Während der Saison wurde dort noch gejubelt, wenn ich als Torschütze für Darmstadt auf der Anzeigetafel erschien. Es ging eher um einige wenige, die dort im Oberrang sitzen. Die nennen sich Hertha-Fans, pfeifen aber die halbe Mannschaft aus. Auch mich haben die immer sehr kritisch gesehen. Aber klar, in dem ganzen Durcheinander war natürlich nicht auseinanderzuhalten, wen ich meine. Das war schon doof. Zumal die Fans in Berlin ja schnell über die Bande kommen können. (Lacht.)