Als Millionen Menschen auf Frankreichs Straßen den WM-Sieg feierten, häuften sich die sexuellen Übergriffe. Viele betroffene Frauen sprechen jetzt. Denn Gewalttaten auf Großveranstaltungen sind keine Einzelfälle.
Während die französischen Spieler den WM-Pokal in den Moskauer Nachthimmel hoben, drängten sich Millionen Menschen über Frankreichs Straßen. Dicht an dicht, trinkend, jubelnd. Eine Nacht, von der man seinen Kindern erzählen möchte, die für immer in Erinnerung bleiben soll. Vielen Frauen, die mitten in der Menschenmenge standen, Teil dieser Masse waren, wird dieser Abend auf jeden Fall für immer in Erinnerung bleiben: Als furchtbares Erlebnis.
In der Nacht zum Montag wurden immer mehr Tweets mit dem Hashtag #MeTooFoot verfasst. Darin wandten sich Frauen an die Öffentlichkeit, um von sexuellen Übergriffen während der Feierlichkeiten zu berichten. Erzwungene Küsse, gewaltsames Begrapschen von Geschlechtsteilen, dazu Sätze wie: „Komm schon, wir sind doch Weltmeister.“ Nachdem die Lage auf der Champs-Élysées wegen Plündereien aus dem Ruder lief und die Polizei Tränengas einsetzte, als das Chaos am größten war, nahmen die Übergriffe zu. „Danke an den Typen, der meine Gedanken für lange Zeit ruiniert haben wird, der die Möglichkeit genutzt hat, als ich halb bewusstlos vom Tränengas auf dem Champs-Élysées lag und meine Vagina und meinen Hintern streichelte“, schrieb eine Frau, eine andere: „Bei mir passierte es während des dritten Tors… als ich fühlte, wie eine Hand unter meinen Rock fasste.“
„Es gibt keine Großveranstaltung, bei der es nicht zu einer sexuellen Belästigung kommt“
Am Montag, als die Nationalmannschaft in Frankreich empfangen wurde, wiederholten sich die Übergriffe. Noch mehr Frauen wurden sexuell belästigt und noch mehr Frauen twitterten über die Verbrechen. „Da es zurzeit eine öffentliche Debatte gibt, trauen sich mehr Frauen darüber zu sprechen“, sagt Katja Grieger, Geschäftsführerin des Bundesverbands für Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe.
In großen Menschenmengen können sich Frauen oft nur schwer wehren. Viel Lärm, dichtes Gedränge und kein schneller Fluchtweg: Massenevents sind ein schwieriges Umfeld. „Ich glaube, es gibt keine Großveranstaltung, bei der es nicht zu einer sexuellen Belästigung oder einen Übergriff kommt“, sagt Grieger. „Es ist eine Machtdemonstration. Die Täter wollen zeigen‚ Ich kann auf Frauenkörper zugreifen, wann ich das will.“ Wichtig sei, falls ein Polizist in der Nähe ist, direkt auf ihn zuzugehen sowie die Präsenz der Veranstalter. „Wenn die Täter merken, sie kommen damit durch, werden sie mutiger und andere schließen sich an“, so Grieger.
Bei der französischen Polizei gingen bisher nur vereinzelt Anzeigen ein. Einige Frauen schrieben dazu auf Twitter, dass es sinnlos sei, denn die Täter würden nie gefasst werden: „Wir waren 200.000 Menschen in Nizza und ich stelle eine Anzeige gegen X?“ Michel Delpuech, der Präsident der Pariser Polizei rief dazu auf, die Taten dennoch anzuzeigen, denn auch wenn die Chancen einen Täter tatsächlich zu überführen gering seien, so seien sie doch höher als ohne Anzeige: „Dann liegen sie bei null“, so Delpuech zum Radiosender Europe 1.
Katja Grieger möchte Frauen, die in eine solche Situation geraten, nicht vorschreiben, was sie genau zu tun hätten: „Das ist eine individuelle Entscheidung. Manche Frauen wollen das alles nicht noch einmal durchleben müssen, manche misstrauen den Behörden, sehr viele gehen trotzdem zur Polizei, weil sie verhindern wollen, dass anderen Frauen das Gleiche passiert.“ Wichtig sei es, dass die Frauen über ihre Rechte Bescheid wüssten, dabei unterstützen unter anderem die Frauennotrufe.
„Ich gehe davon aus, dass es in Deutschland nach der WM 2014 sehr ähnlich war“
In Deutschland ist sexuelle Belästigung erst seit November 2016 eine Straftat. Auslöser für das Gesetz waren unter anderem die Übergriffe in der Silvesternacht an der Kölner Domplatte, aber das Problem der sexualisierten Gewalt in Menschenmassen ist alles andere als neu. „Ich gehe davon aus, dass es in Deutschland nach der WM 2014 sehr ähnlich war, aber die Öffentlichkeit sich noch nicht so sehr dafür interessierte“, sagte Geiger. Seit Oktober 2017 rückt die #MeToo-Debatte das Ausmaß des Problems in das Licht der Öffentlichkeit, dass Frauen beispielsweise nicht unbesorgt auf Großveranstaltung gehen können, sondern Angst um ihre leibliches und seelisches Wohl haben müssen. Einige Französinnen werden nun genau deshalb nie ihren Kindern von dem schönen Abend erzählen können, als Frankreich Weltmeister geworden ist. Eine Frau schrieb: „Alles, an was ich mich erinnern werde, ist, während der Siegesfeier sexuell genötigt worden zu sein.“