Jose Mourinho spricht von einer Schande, englische Medien von der größten Sensation der Pokalgeschichte: Drittligist Bradford City hat Chelsea aus dem FA-Cup geschmissen.
Die Engländer lieben Listen. Auch wenn diese mitunter so anfechtbar sind wie die Rankingshows des NDR. Doch aktuelle Bands, Filme oder eben Fußballspiele müssen einfach in eine historische Rangordnung gepresst werden. Nun treibt die Fußballbegeisterten auf der Insel die Frage um:
Haben wir am Samstag die größte Sensation in der Geschichte des FA-Cups gesehen?
In einer Umfrage der berühmten Fernsehshow „Match of the Day“ stimmten über 77 Prozent mit „Ja“. Auch erfahrene Größen des Sports wie Robbie Fowler oder Sam Allardyce sehen es so. Doch die Gelehrten streiten noch und studieren die Bücher. Schließlich ist der FA-Cup eine sakrosankte Tradition wie der Fünf-Uhr-Tee. Er wird seit 1871 ausgetragen.
200 Millionen gegen 7.500 Pfund
Der heutige Fußball mag an Superlativen ersaufen, aber das, was da am Samstag an der Stamford Bridge passierte, war tatsächlich mehr als außergewöhnlich.
Chelsea FC, der Tabellenführer der Premier League, verlor daheim gegen den Drittligisten Bradford City mit 2:4.
Chelsea verspielte eine 2:0‑Führung.
Bisher hat Chelsea in der Liga alle zehn Heimspiele gewonnen.
Gegen keine Mannschaft der ersten Liga haben sie daheim mehr als zwei Gegentore kassiert.
In 132 Spielen unter Jose Mourinho hatte Chelsea bisher nur gegen eine einzige englische Mannschaft (Sunderland) daheim verloren.
Der „Independent“ verglich die beiden Mannschaften anhand der Ablösesummen der eingesetzten Spieler: Chelsea kam auf über 200 Millionen Pfund, Bradford auf 7.500.
Oder um es in den Worten eines Fans von Bradford auszudrücken: „Das ist, als würdest du gegen Mike Tyson in den Ring steigen. Er hätte zwei Schläge frei, würde dich voll erwischen. Und dann würdest du einfach aufstehen und ihn windelweich prügeln.“
Bradfords Torschütze ist Chelsea-Fan
„Surreal“ nannte Bradfords Trainer Phil Parkinson die Geschehnisse. „Wir wollten ein hartnäckiger Gegner sein und Chelsea vor allem daran hindern, ihre Klasse am Ball auszuspielen.“ Nach frühen Treffern von Gary Cahill und Ramires sah Chelsea wie der sichere Sieger aus, doch dann hämmerte Bradfords Jon Stead vier Minuten vor der Pause Bradfords Anschlusstreffer ins Netz. Das gab den „Bantams“ Auftrieb für die zweite Halbzeit, sie verdichteten in der Defensive die Räume und spielten ihre Angriffe schnell und mutig nach vorne.
In der 75. Minute drückte dann Filipe Morais einen Abpraller zum Ausgleich über die Linie – jener Morais, der in der Jugend für Chelsea gespielt und unter Mourinho trainiert hatte. Er bekannte, noch immer Fan von Chelsea zu sein. Die „ausgerechnet“-Karteikarten konnten die Reporter gleich weiter beschreiben, denn in der 82. Minute traf Andrew Halliday mit einem Schuss von der Strafraumgrenze ins linke Eck. Hallidays Spielberechtigung nach seiner Ausleihe von Middlesbrough war am Abend zuvor erst drei Minuten vor der Deadline durchgegangen.
In der 90. Minute schickte Mark Yeates nach einem herrlichem Angriff den Ball zum 4:2 über die Linie und machte die Sensation perfekt. Die 6000 mitgereisten Bradford-Anhänger feierten in einer Mischung aus Ungläubigkeit und Ekstase ihre Spieler, die sich nach den Toren fast apathisch an den Kopf fassten.
Während der sieben Minuten Nachspielzeit begab sich Mourinho zu seinem Trainerkollegen Parkinson und reichte ihm die Hand zum Glückwunsch. Doch Bradfords Trainer verwehrte den Handschlag. „Es waren noch mehr als drei Minuten zu spielen. Bei dieser Klasse an Spielern kann Chelsea jederzeit innerhalb von einer Minute zwei Tore aufholen“, sagte Parkinson. Der Handschlag vor dem Abpfiff gehört zum Repertoire der Psychospielchen von Mourinho, erst kürzlich erregte er damit Aston Villas Co-Trainer Roy Keane.
„Fußball ist passiert. Das ist die Schönheit des Spiels“
Seine Glückwünsche holte der Portugiese nach der Partie nach und gratulierte in der Gästekabine jedem einzelnen Spieler von Bradford. Gegenüber der „BBC“ sagte er auf die Frage, was passiert sei: „Fußball ist passiert. Das ist die Schönheit des Spiels.“ Allerdings hatte Mourinho sich vor dem Anpfiff eher despektierlich gegenüber dem Drittligisten geäußert. Zunächst sprach er von Barnsley anstatt Bradford und sagte dann: „Ein Ausscheiden wäre eine Schande für uns.“ Dabei blieb er auch nach dem Spiel und sprach von dem „schlimmsten Ergebnis in meiner gesamten Trainerkarriere“.
Bradfords Fans sparten deshalb auch nicht mit Spott. Während des Spiels sangen sie davon, dass Mourinho morgen entlassen werde. Dann priesen sie ihren Manager mit dem Spitznamen von Mourinho: „Parkinson is the Special One“. Ein Foto der beiden Trainer kursiert im Netz mit der Überschrift: „Der beste Trainer der Welt – und irgendein Typ aus Portugal.“ Auch der Verein selbst twitterte süffisant nach dem Sieg: „Es ist Bradford, José, nicht Barnsley.“ Das klang nach süßer Rache.
Sowohl Spieler in der Kabine und im Mannschaftsbus als auch die Fans auf den Tribünen sangen:
„Everywhere we go, it’s the Bradford boys, making all the noise, everywhere we go!“
Bradford avanciert zum Pokalteam schlechthin. Der Klub machte bereits vor zwei Jahren Schlagzeilen, als er als Viertligist in das Finale des Ligapokals einzog. Für die Auslosung am Montag fürs Achtelfinale wünschte sich Trainer Parkinson als Gegner Manchester United, Torschütze Mark Yeates träumt von einem Spiel gegen seinen geliebten Liverpool FC.
Auch Man City fliegt zu Hause raus
Doch beide Mannschaften müssen sich im Gegensatz zu Bradford erst noch qualifizieren. Sie spielten gegen unterklassige Mannschaften nur 0:0 und tragen Anfang Februar ein Entscheidungsspiel aus (United gegen Viertligist Cambridge, Liverpool beim Zweitligisten Bolton). Insgesamt haben es nur sechs Teams aus der Premier League in die nächste Runde geschafft. Manchester City, Tabellenzweiter und erster Verfolger von Chelsea, unterlag Zweitligist Middlesbrough zu Hause mit 0:2.
Äquivalent zum deutschen Sprichwort vom Pokal und dessen eigenen Gesetzen wiederholten dann auch die Engländer munter ihren Evergreen: „The magic of the FA-Cup is still alive“. Selten war der Satz so wahr wie an diesem Wochenende.