Als alles vorbei war, blickten die Dortmunder etwas bedröppelt drein. Doch es gibt keinen Grund, traurig zu sein. Die Saison des BVB hatte zwar keinen Titel zu bieten, dafür aber alles, was wir am Fußball lieben.
Vor ziemlich genau neun Monaten kam es in den Berliner Redaktionsräumen eines sympathischen kleinen Fußballmagazins zu folgendem Dialog zwischen einem Anhänger des VfL Bochum und einem Dauerkarteninhaber aus Dortmund.
Bochumer: „Na, und was macht dein Verein in dieser Saison?“
Dortmunder: „Wenn wir noch einen Stürmer holen, werden wir Meister.“
Bochumer (kopfschüttelnd): „Jetzt hat dich der Größenwahn gepackt.“
Größenwahn? Oder nur Optimismus?
War das, was der Dortmunder für begründeten Optimismus hielt, wirklich größenwahnsinnig? Vielleicht. Denn wer konnte zu diesem Zeitpunkt schon ahnen, dass der bitter benötigte Stürmer, den der BVB schließlich auf einer katalanischen Ersatzbank entdeckte, von einem Torrekord zum nächsten eilen würde? Oder dass der neuverpflichtete Mittelfeldspieler, der die letzten sechs Jahre in Russland und China verbracht hatte, ohne jede Anlaufschwierigkeit zum Denker und Lenker des Dortmunder Spiels werden sollte?
Andererseits musste man all dies gar nicht wissen, um hoffnungsvoll in die schwarz-gelbe Zukunft zu blicken. Schließlich war der Kader des BVB ganz sicher nicht entscheidend schlechter als der irgendeines Konkurrenten – mit Ausnahme der Bayern, die wiederum abseits des Rasens nicht so gut besetzt wirkten wie die Borussia aus Dortmund, gemeint sind hier natürlich Trainer, Sportdirektor und externer Berater.
Enttäuschung? Ja und nein
Schließlich war da noch die Mathematik. Wenn man davon ausging, dass nicht einmal die Bayern jedes Jahr bis in alle Ewigkeit Meister werden würden, dann war es nur eine Frage der Zeit, bis sie mal wieder eine jener durchwachsenen Saisons hinlegten, die früher – vor Pep – ganz normal bei diesem Klub waren. Und warum sollte das nicht 2018/19 der Fall sein, mit einem in die Jahre gekommenen Kader und einem auf diesem Level unerfahrenen Trainer?
Ist der Dauerkarteninhaber aus Dortmund also jetzt enttäuscht, wo der BVB trotz eines zwischenzeitlichen Vorsprungs von neun Punkten wieder mal zusehen muss, wie die Meisterschaft in München gefeiert wird? Ja und nein. Ja, weil am Ende nur ein durchaus möglicher Dreier gegen eine schauderhaft schlechte Schalker Elf im Derby gefehlt hat. Und gleichzeitig nein. Denn kann sich irgendjemand an eine Saison erinnern, in der auch nur ansatzweise so viel von dem drinsteckte, was Fußball ausmacht?
Drama. Jubel. Tränen. Ärger. Fassungslosigkeit. Frust. Freude. Nicht selten alles in einem Spiel.
Man denke nur an die erste Pokalrunde, als Axel Witsel in der fünften Minute der Nachspielzeit in Fürth die Verlängerung erzwang und Marco Reus in der 120. Minute das Elfmeterschießen verhinderte. Auch in der nächsten Runde ging es in die Verlängerung, diesmal gegen Union Berlin; wieder traf Reus in letzter Sekunde. Dann kam das verrückte Achtelfinale gegen Werder, in dem die Borussia zwei Führungen in der Verlängerung nicht verteidigen konnte.
Wer jetzt glaubt, das hätte irgendwas mit typischer Pokaldramatik zu tun, der hat die Dortmunder Saison nicht genau verfolgt, denn im schnöden Ligabetrieb ging dieses Auf und Ab der Gefühle munter weiter. Gegentor nach 31 Sekunden des ersten Punktspiels. Völlig unverdienter, später Ausgleich durch Christian Pulisic in Hoffenheim. Sieg in Leverkusen nach 0:2‑Rückstand. Paco Alcacers Freistoßtreffer gegen Augsburg in der 96. Minute. Dreier gegen Bayern nach zweimaligem Rückstand. Da war die Saison erst elf Wochen alt.
Adrenalinstöße und Dopaminduschen
Und die Rückschläge gerieten nicht minder dramatisch. Herthas Last-Minute-Tor im Westfalenstadion. Hoffenheims drei Treffer in acht Minuten. Dann ging’s wieder andersrum: Sieg bei Hertha in der Nachspielzeit, zwei Alcacer-Treffer aus dem Nichts und nach der 90. Minute gegen Wolfsburg. Dazwischen das große Zittern gegen Leverkusen oder Mainz. Dann die nahezu identisch grotesken Torwartfehler gegen Bremen und Düsseldorf. Ach ja, und zum ersten Mal in der Dortmunder Bundesligageschichte zwei Rote Karten in einem Spiel.
Selbst die Klopp-Ära bot nicht so viele Adrenalinstöße und Dopaminduschen, regelmäßig unterbrochen von Haareraufen und Schimpftiraden, in nur neun Monaten Fußball. Praktisch das einzige Spiel, in dem der Puls ruhig und die Halsschlagader auf Normalmaß blieb, war … ausgerechnet das letzte.
Gäbe es Punkte für Emotionalität und Unterhaltungswert, dann wäre die junge Dortmunder Mannschaft den Bayern schon vor vielen Wochen uneinholbar enteilt. So bekommt sie zwar keinen Titel, aber dafür Dank. Von all denen, die sich vor neun Monaten eine spannende Saison gewünscht haben. Und von denen, für die Fußball mehr ist als nur Gewinnen oder Verlieren.