Sir Stanley Matthews war einer der besten britischen Fußballer aller Zeiten, erfand den Übersteiger und beendete erst mit 50 seine Karriere. Heute vor 20 Jahren starb er. Seine Tochter Jean hört noch heute vorm Einschlafen seine knarzige, schiefe Stimme.
Er sang mich in den Schlaf. Das ist meine erste Erinnerung an meinen Vater. Er hatte, objektiv gesehen, keine ausgesprochen schöne Gesangsstimme, sie war etwas knarzig und schief, aber das war mir vollkommen egal. Wenn Pops an meinem Bett saß und sang, wusste ich, dass ich in Sicherheit war.
Dass er ein berühmter Fußballer war, vielleicht der berühmteste seiner Zeit, war mir zunächst überhaupt nicht klar. Ich bin 1939 zur Welt gekommen, kurz vor Beginn des Krieges, und dachte, er sei bei der Luftwaffe. Krieg, die Angst vor Bomben und mein Pops in Uniform – das war für mich Alltag.
Nicht mal um seine Medaillen scherte er sich
Da hatte er schon eine große Karriere hinter sich, die der Krieg jäh unterbrochen hatte, und die Leute verehrten ihn noch immer als „Zauberer des Dribblings“. 1938, als er Stoke City verlassen wollte, um mit einem größeren Verein einen Titel zu gewinnen, demonstrierten tausende Fans auf der Straße für seinen Verbleib. Aber das hat er selbst nie erwähnt, und wenn das Gespräch darauf kam, hat er nur abgewinkt und versucht, es herunterzuspielen. Nicht einmal um seine Medaillen scherte er sich. Nach seinem Tod im Jahr 2000 fanden wir sie in einer kleinen Pappschachtel auf dem Speicher. Er hatte sie hineingelegt und nie wieder angeschaut.
Ich kannte also nur den bescheidenen Mann, der froh war, wenn er im Kreise seiner Familie war, und der sonntags mit mir, meinem Bruder Stan Junior und den Nachbarskindern im Garten Fußball spielte. Ich durfte Mittelstürmerin sein, er selbst war natürlich der Rechtsaußen. Entlang der Hecke sah man die Bahn, die er in den Rasen getrampelt hatte. Noch heute muss ich lächeln, wenn ich daran denke, wie viel Spaß wir damals hatten.
Er wurde auch ein Fernsehstar
Erst als der Ligabetrieb 1947 wieder aufgenommen wurde und für ihn mit über 30 Jahren in Blackpool der zweite Teil seiner Karriere anbrach, dämmerte mir, wer er wirklich war: ein Mann, der die Massen begeisterte. Ich bin froh, dass er so lange aktiv war – erst 1965 beendete er im Alter von 50 Jahren seine Laufbahn. So hatte ich auch als erwachsene Frau die Gelegenheit, ihn spielen zu sehen, während andere Fußballer aufhören, wenn ihre Kinder noch klein sind. Sogar seine Enkel haben ihn noch als Profi erlebt! Im Gegensatz zu anderen Vorkriegsberühmtheiten wurde er auch ein Fernsehstar.
Sein größtes Spiel, das FA-Cup-Finale 1953 zwischen Blackpool und Bolton, wurde live übertragen. Blackpool lag bis zur 70. Minute 1:3 zurück, doch dann drehte mein Vater auf: Mit drei genialen Vorlagen, die sein kongenialer Partner Stan Mortensen verwandelte, bog er das Spiel um. 4:3! Sein erster großer Titel, und das im Alter von 38 Jahren! Wenn ich mir heute die Aufzeichnung dieses Spiels anschaue, kriege ich noch immer eine Gänsehaut. Das Spiel ist als „Matthews-Finale“ in die Geschichte eingegangen. Doch Pops wurde nicht müde zu betonen, dass es ein „Mortensen-Finale“ gewesen sei. Schließlich habe ja Stan die Tore geschossen und nicht er.
Dennoch konnte er nicht verhindern, dass dieser Triumph ihn endgültig zum Superstar machte. Die Journalisten belagerten fortan unser Haus. Meine Mutter brachte ihnen Tee und Plätzchen hinaus, um sie freundlich zu stimmen, doch mein Vater antwortete auf die meisten Fragen: „kein Kommentar!“ Es behagte ihm nicht, etwas Besonderes zu sein. Wenn wir auf der Promenade von Blackpool spazieren gingen, trug er stets Hut und Sonnenbrille, und wenn er am Freitagabend mit uns im Kino seine geliebten Cowboyfilme schaute, betraten wir den Saal erst, wenn das Licht schon erloschen war, und verließen ihn, bevor es wieder hell wurde.
Dabei ging es ihm auch darum, dass wir eine normale Kindheit verbringen konnten und dass wir nicht in Ehrfurcht vor ihm erstarrten. Er wollte einfach nur unser Vater sein, unser Pops – und das war er. Selbst bei den wichtigsten Spielen vergaß er nicht, uns auf der Tribüne das geheime Handzeichen zu geben, den Kreis aus Daumen und Zeigefinger, den er auf Bauchhöhe hielt. Es hieß: „Ich denke an euch, ich liebe euch.“
1956 wurde er Vizemeister und Europas Fußballer des Jahres – mit 41 Jahren! Mit 46 kehrte er noch einmal nach Stoke zurück, wo nur seinetwegen plötzlich 20 000 statt 8000 Menschen ins Stadion kamen, und führte die „Potters“ aus der zweiten in die erste Liga. Um sich fit zu halten, betrieb er einen großen Aufwand: Jeden Morgen um sieben Uhr, noch vor dem offiziellen Training, ging er laufen und unterwarf sich einer strengen Diät. Wahrscheinlich stand er, was seine Lebensgewohnheiten anbelangt, den Profis von heute in nichts nach.
Er bleibt mein Pops
Als er 1965 endgültig aufhörte, tat er das nicht, weil er müde war, sondern weil er nicht erleben wollte, wie es ist, langsamer zu sein als die Verteidiger. Zu seinem Abschiedsspiel in Stoke kamen 35 000 Menschen, noch im selben Jahr wurde er von unserer Königin zum Ritter geschlagen. Seither nennen ihn alle „Sir“.
Für mich bleibt er mein Pops, der mich in den Schlaf sang. Noch heute höre ich vorm Einschlafen seine knarzige, schiefe Stimme. Ich kann mir keine schönere vorstellen.