Heute bestreitet Rafael van der Vaart sein Abschiedsspiel in Hamburg. Einst verzauberte er die Stadt mit seinen Distanzschüssen. Insbesondere einen jungen Mann aus Eppendorf.
Man kann es mittlerweile als Binse bezeichnen, dass HSV-Fans einen gehörigen Hang zum Masochismus haben sollten. Schon der regelmäßige Blick in die Lokalpresse kann körperliche Schmerzen verursachen. Neben den sportlichen Resultaten erfährt man dort täglich, welcher Topklub aus Südeuropa angeblich hinter Douglas Santos her ist oder warum halb England Fiete Arp jagt.
Wirklich anstrengend wird es in der langen Sommerpause, denn dann beginnt die Zeit, in der potenzielle Neuzugänge vorgestellt werden. Oft sind das sogenannte „Superstars“, die vermutlich nicht mal wissen, in welcher Stadt der HSV beheimatet ist. Die Fans versetzen solche Meldungen („Jetzt wird’s ernst!“, „Was läuft da mit…?“) trotzdem in vorfreudige Schnappatmung. Es ist das alte Spiel mit der Hoffnung und der Enttäuschung. Hier eine (unvollständige) Liste von Spielern, die, zumindest laut Hamburger Boulevard, beinahe schon im Flieger nach Hamburg saßen: Diego Maradona, Milan Baros, Ronaldinho, Mario Jardel, Marcelo, Dennis Rommedahl, Patrick Kluivert, Luka Modric, Gareth Bale.
Das sollte man wissen, wenn man zurückgeht in den Sommer 2005, als in der „Hamburger Morgenpost“ und im „Hamburger Abendblatt“ die ersten Berichte zu einer möglichen Verpflichtung von Rafael van der Vaart erschienen. Der Holländer war damals 22 Jahre, die „FAZ“ nannte ihn den „künftigen Anführer der niederländischen Nationalelf“, in seiner Heimat wurde er mit Johan Cruyff verglichen, und Johan Cruyff selbst sagte, das gehe schon in Ordnung so. Der Junge war, auch wenn er zuvor in einer kleinen Formkrise gesteckt hatte, der heiße Scheiß des Jahres.
Und dann zogen die Van der Vaarts nach Eppendorf
Was um alles in der Welt wollte dieser Superspieler bei einer langweiligen und grauen Mannschaft, die in der Vorsaison mit Spielern wie Naohiro Takahara, Björn Schlicke und Rene Klingbeil den achten Platz belegt hatte? Es wirkte so, als würde jemand auf dem Weg zum Monsters-of-Rock-Festival bei der Volkshochschule abbiegen, um dort doch lieber einen Blockflöten-Kurs zu besuchen. Kurzum: Niemand glaubte an einen Wechsel.
Aber van der Vaart wechselte wahrhaftig nach Hamburg. Bernd Hoffmanns Ehefrau soll bei der Verpflichtung eine wichtige Rolle gespielt haben. Sie lud Rafaels Noch-Verlobte Sylvie zu einem Einkaufsbummel durch die geputzte Hamburger Innenstadt ein, wo es ihr total gut gefiel. So geht jedenfalls die Legende. Wenige Wochen später heirateten die van der Vaarts und zogen in den Hamburger Stadtteil, in dem ich aufgewachsen bin: Eppendorf.
Früher pulsierte dort das Leben, Eppendorf war ein Arbeiterviertel, die Spelunken hießen „Suppenkeller“ und „Palette“. Unweit tagte die DKP in Thälmanns Geburtshaus, 1979 hob ein Großaufgebot der Polizei ein komplettes Wohnhaus auf der Suche nach RAF-Mitgliedern aus. Heute ist Eppendorf ein Ort, der im Grunde wie der HSV ist: bieder, neureich und ein wenig arrogant. Man frönt seit 30 Jahren denselben Hobbys (Tennis, Hockey, Segeln), und man trägt seit 30 Jahren dieselbe Garderobe (Poloshirts, Feinwollpulllover, Barbourjacke). Vollkommen ironiefrei natürlich. Ich habe, nun ja, ein ambivalentes Verhältnis zu diesem Viertel.
Trotzdem: Ab jenem Tag im Sommer 2005 verband Rafael und mich ein unsichtbares Band. Er, so stellte ich es mir vor, würde Eppendorf nun durchleben wie ich früher: Schwarzfahren im 114er Bus, unerlaubt vom Beckenrand des Holthusenbads springen, blöd Rumlungern am Eppendorfer Baum. Vermutlich würden wir sogar demnächst gemeinsam Abitur machen und unser erstes Bier in der Halligalli-Kneipe „Jablonksy“ am Eppendorfer Marktplatz trinken. Einem Laden für lichtscheue Männer mittleren Alters und einem Wirt, der ständig Konfetti in die Luft warf, weil er Silvester so toll fand.
Rafi und ich waren kurz davor, beste Freunde zu werden. So sah ich das.
Denn auch fußballerisch kamen wir uns näher. Irgendwann meldete er seinen Sohn beim Hamburger Traditionsverein SC Victoria an, wo ich in den Achtzigern meine ersten Fußballspiele gesehen hatte. Ich malte mir dazu aus, wie er heimlich Extraschichten auf dem Ascheplatz in der Hegestraße schob, wo ich als Jugendlicher so oft gegrätscht bin, dass ich heute noch kleine rote Hegeplatz-Sandsteine im Knie trage.
Dort also trainierte van der Vaart, ich war mir sicher, am späten Abend, wenn niemand mehr unterwegs war, seine tollen Schüsse und Dribblings. Das Resultat präsentierte er dann in den Bundesligastadien. So wie am 29. April 2007, als er mit einem sensationellen Treffer aus 20 Metern für den letzten HSV-Sieg beim FC Bayern sorgte.
Erst ein Foto mit Valencia-Trikot, dann ein Hattrick gegen Gijon
Van der Vaart, da gab es keinen Zweifel, war der neue Kopf, ein Zehner, ein Magier. Vielleicht der beste Spielmacher, den der HSV seit Miroslaw Okonski gehabt hatte. Denn er schoss nicht nur schöne Tore, er machte auch wichtige. Im September 2005 verwandelte er Sekunden vor dem Abpfiff beim FC Kopenhagen einen Elfmeter und hielt den HSV dadurch in der Europa League. 2007 traf er in sieben Spielen in Folge. Das hatte es beim HSV seit Uwe Seeler nicht mehr gegeben.
Gelegentlich spielte van der Vaart mit dem Gedanken, Hamburg und Eppendorf zu verlassen. So wie auch ich. Vielleicht Spanien, dachte er 2007 und bewarb sich erfolglos beim FC Valencia. (Fun Fact: Dafür ließ er sich sogar mit einem Trikot des Klubs fotografieren). Vielleicht München, dachte ich und bewarb mich erfolglos bei einer Redaktion. (Fun fact: Dafür ließ ich mich nicht mit einem T‑Shirt der Redaktion fotografieren).
Ein Jahr später war es schließlich soweit. Wir machten beide die Biege. Ich ging nach Berlin, van der Vaart nach Madrid. Eppendorf im Herzen, die große Welt vor Augen. Van der Vaart zauberte anfangs auch bei Real. Er traf bei seinem Debüt gegen Numancia und machte in seinem dritten Spiel einen Hattrick gegen Gijon. Am Ende des Jahres wurde er zum Weltfußballer nominiert. Danach ging es weiter zum Londoner Verein Tottenham, und mit der holländischen Nationalelf erreichte er das WM-Endspiel. (An dieser Stelle gehen unsere Wege auseinander, wenn auch nur leicht, denn immerhin zog ich zweimal in das Trostrunden-Finale eines lokalen Tennisturniers ein).
Aber Hamburg und auch Eppendorf ließen ihn nie ganz los. Alle paar Wochen konnte man in der Zeitung lesen, dass der HSV an van der Vaart dran wäre („Jetzt wird’s ernst!“), und auch der Spieler schien einer Rückkehr nicht abgeneigt („Was läuft da mit…?“). Die Fans jauchzten und hüpften vor Freude. So auch Klaus-Michael Kühne, ein milliardenschwerer Mäzen, dessen private Scouting-Datenbank in jenen Jahren genau einen Spieler führte: Rafael van der Vaart.
Bald also kehrten die van der Vaarts heim, Papa KMK hatte es möglich gemacht, und Sylvie verkündete in der „Welt“: „Wir haben eine schöne Wohnung in der Eppendorfer Landstraße gefunden, unserer geliebten Heimat.“ Bloß: Ihr Mann war träge geworden. Er schleppte sich nunmehr über den Platz im Volkspark. Immerhin, wir näherten unsere Leben wieder an, denn ich schleppte mich nun auch häufiger durch die Kreuzberger Nacht. Eine Extraschicht auf dem Hegeplatz hätte uns beiden gutgetan, so viel war klar. Van der Vaart am Ball, Zuckerpass mit dem linken Außenrist, Bock steht in zwei Metern Höhe waagerecht in der Luft und vollendet per Seitfallzieher. So wie früher.
„Tomorrow my friend, tomorrow!“
Stattdessen ging es bergab, aus der geliebten Heimat Eppendorf flimmerte täglich eine Art Soap-Opera in die Welt. Die Protagonisten: Sabia, Sylvie, Rafael und wechselnde Reporter der „Bild“-Zeitung. Danach: Beinahe-Abstiege, Relegationen, Verletzungen, und als er in der letzten Minute des Relegationsspiels gegen den HSV zum Helden werden konnte, nahm ihm Marcelo Diaz den Ball weg: „Tomorrow my friend, tomorrow!“
Schon damals, in seiner zweiten HSV-Zeit, war van der Vaarts große Karriere längst vorbei, und das wusste er auch. Trotzdem versuchte er es noch mal, erst bei Betis Sevilla, dann in Midtjylland und zuletzt beim dänischen Zweitligisten Esbjerg fB, auch wegen der neuen Liebe, einer Handballspielerin, die für das Team Esbjerg aktiv ist.
Jetzt beendet Rafael van der Vaart, der in einem Wohnwagen in der holländischen Kleinstadt Heemskerk aufgewachsen war, seine Karriere. „Das Vergnügen hört irgendwann mal auf, und dem Punkt will ich zuvorkommen“, sagt er.
Es ist eine gute Entscheidung, möchte man ihm über die Theke des „Jablonsky“ zurufen. Aber leider hat die Kaschemme am Eppendorfer Marktplatz längst dicht gemacht. Stattdessen befindet sich in dem Haus eine Cocktail-Bar.