Im April 2016 wird Frankfurts Marco Russ bei einer Dopingkontrolle positiv getestet – nicht wegen Aufputschmitteln, sondern wegen Hodenkrebs. Hier erzählt er vom Kampf gegen die Krankheit.
Die Biographie von Marco Russ ist ab heute im Handel erhältlich.
Der 18. Mai 2016. Noch einen Tag bis zum ersten Relegationsspiel gegen den 1. FC Nürnberg. Nach der letzten Trainingseinheit nahm mich Niko Kovac zur Seite: „Marco, die NADA hat uns gerade darüber informiert, dass bei dir ein positiver Dopingbefund vorliegt.“ What the fuck?! Dreimal war ich in den vergangenen Wochen kontrolliert worden, hatte mir mitten im Abstiegskampf aber nichts dabei gedacht. Hektisch versuchte ich jetzt, irgendeine Erklärung zu finden. Hatte ich den Kids zu Hause Hustensaft verabreicht und anschließend den Löffel abgeleckt, ohne zu beachten, dass im Saft ein verbotener Wirkstoff enthalten war? War irgendwo irgendwas im Essen gewesen? Selbst wenn ich hätte dopen wollen – ich hätte gar nicht gewusst, wo ich das Zeug herbekommen sollte! Kurz darauf wusste ich mehr. Bei meinen Kontrollen war ein deutlich erhöhter Beta-HCG-Wert festgestellt worden. Bei Frauen kann er auf eine Schwangerschaft hindeuten. Bei Männern hingegen kann er ein Hinweis auf Hodenkrebs sein.
Hodenkrebs? Mein Gott, was passierte denn hier? In Windeseile wurde ich zum Urologen gebracht. Der erfahrene Mediziner griff mir zwischen die Beine und sagte die Worte, auf die mich keine Trainingseinheit der Welt hätte vorbereiten können: „Es tut mir leid, das zu sagen, aber: Sie haben Hodenkrebs.“ Krebs? Ich? Wie war das möglich? Ich fühlte mich doch topfit, lebte und ernährte mich bewusst. Außerdem wurde ich regelmäßig untersucht und hatte zum Zeitpunkt der Diagnose keinerlei Beschwerden. Und trotzdem war ich nun aus heiterem Himmel mit einer womöglich tödlichen Krankheit konfrontiert.
„Es tut mir leid, das zu sagen, aber: Sie haben Hodenkrebs.“
Im Mannschaftshotel ging der Alptraum weiter. Trotz der Diagnose hatte die Staatsanwaltschaft veranlasst, Wohnung und Spind des vermeintlichen Dopingsünders durchsuchen zu lassen. Natürlich ohne etwas zu finden. Dem ganzen Wahnsinn zum Trotz entschied ich mich, mein Team gegen Nürnberg auf den Platz zu führen. Krebs hin oder her. Erst mal galt es, die Eintracht in der Bundesliga zu halten. Die Krankheit würde ich auch danach noch besiegen können.
51 000 Zuschauer waren einen Tag später im Waldstadion. Und alle hatten sie längst von meiner Diagnose erfahren. Als ich den Rasen betrat, entrollten sie in der Kurve ein Plakat. Darauf stand in dicken Lettern: KÄMPFEN UND SIEGEN, MARCO. Da musste selbst ich Eisklotz kurz schlucken. Und spätestens, als die Fans vor dem Anstoß beim Verlesen der Mannschaftsaufstellung bei jedem Vornamen meinen Nachnamen riefen, lief es mir eiskalt den Rücken runter. Doch ich konnte, ich durfte mich jetzt nicht ablenken lassen. Ich war nicht krebskrank, ich war Marco Russ, Verteidiger und Kapitän von Eintracht Frankfurt, und hatte jetzt ein Spiel zu gewinnen!
Das Ende vom Lied: 1:1‑Unentschieden, verursacht durch ein Eigentor von mir. Die fünfte Gelbe Karte hatte es noch obendrauf gegeben. Dopingbefund, Krebsdiagnose, Eigentor. Wow. Als der Schlusspfiff ertönte, holte ich meine Kinder zu mir auf den Rasen und ging mit ihnen Hand und Hand zu unseren Fans. Nicht um mich zu verabschieden. Sondern um ihnen „Danke“ zu sagen und eine Botschaft zu übermitteln: Wir sehen uns wieder. Irgendwann. Dann war die Saison 2015/16 für mich beendet.
Am Tag des Rückspiels lag ich bereits auf dem OP-Tisch. Innerhalb von 45 Minuten entfernte der Chirurg meinen rechten Hoden samt Samenstrang und setzte mir eine Prothese aus Silikon ein. Mittags schrieb ich Niko Kovac eine Nachricht: „OP gut verlaufen, muss noch auf Ergebnisse warten, aber mir geht es gut. Jetzt hoffe ich, dass wir in der Ersten Liga bleiben!“ Die Ergebnisse meiner OP waren dann etwas ernüchternd. Offenbar waren die Krebszellen bereits im Samenleiter nach oben gewandert, eine Chemotherapie war nun unausweichlich. Zum Glück gab es den Fußball, der mich an diesem Tag auf andere Gedanken brachte. In einem wahren Krimi erlöste uns Haris Seferovic nach 66 Minuten mit seinem Tor zum 1:0. Wenn ich es wieder auf den Platz schaffen würde, dann als Spieler einer Erstligamannschaft!
Knapp einen Monat später lag ich in einem Krankenhausbett und ließ mir abwechselnd Kochsalzlösungen und Chemopräparate in den Körper pumpen. Bis auf die durch den Zellwachstumshemmer Cisplatin ausgelöste Übelkeit hatte ich nur wenig Beschwerden. Die 13 Kilo Übergewicht durch die Kochsalzlösungen mal ausgenommen. Ganz ehrlich: Die Chemo hatte ich mir deutlich schlimmer vorgestellt. Doch es war ja noch nicht vorbei. Um auf Nummer sicher zu gehen, sollte ich noch eine zweite Chemotherapie über mich ergehen lassen.
Vier Tage vor meinem nächsten Krankenhausaufenthalt saß ich im Büro meines Bankberaters. Während des Gesprächs fuhr ich mir beiläufig durch die Haare – und staunte nicht schlecht, als ich plötzlich ein Büschel Haupthaar in meiner Hand entdeckte. „Oha“, dachte ich, „jetzt geht’s damit also doch noch los.“ Direkt nach dem Termin bei der Bank marschierte ich zum Friseur: „Einmal komplett blank, bitte!“ Von da an setzte ich jeden Morgen den Nassrasierer an und trug die Bowlingkugel mit Stolz. Nicht nur auf dem Kopf, überall am Körper fielen mir jetzt die Haare aus. Was mich nicht weiter störte. Nur die Trennung von meinem geliebten Bart fiel mir wahnsinnig schwer.