In Freienwalde ist die Fußballwelt zu Ende. Der SV Jahn kickt in der Kreisliga, im Stadion türmt sich das Laub. Doch einst lebte hier Karl Franke, der beinahe 5000 Spiele leitete, von der Kreis- bis in die Weltklasse. Aber hat er wirklich?
Das Oderbruch ist kein Ort für Rekorde. Berlin liegt hinter tiefen Wäldern, die Telefonnummern haben nur vier Ziffern, und auch der Fußball der Region hat keine großen Ambitionen. Der FSV Kickers Oderberg hat mal versucht, mit der Hilfe von Halbprofis aufzusteigen. Ihre heroischen Feuchtfrisuren versprachen viel, ihre Pässe aber kamen selten an. Das Projekt starb in der Kreisliga.
Der SV Jahn Bad Freienwalde hat sich nicht einmal eine solche Verrücktheit geleistet. Er ist ein Fußballklub ohne jede Illusion. Er kommt aus der Ereignislosigkeit und dämmert ihr entgegen. Auf seinen Sportplatz fallen die letzten Blätter, die Holzbänke verfaulen im Regen. Ein Fuchs schnüffelt an einem Mülleimer. Ganzjährig herbstlich ist es hier und im ganzen Ort Bad Freienwalde – und auf eine Weise idyllisch, dass man ganz müde werden kann.
So wird es wohl auch dem Reiseschriftsteller Wolfgang Büscher gegangen sein, als er an einem Novemberabend nach Bad Freienwalde kam, einer Station seiner Wanderung entlang der deutschen Grenze. Im Gasthaus „Zum Löwen“ wollte er sich ein wenig aufwärmen. Er saß er in der urigen Stube unter Holzintarsien, als die Stille jäh durchbrochen wurde: „Fuffzich Jahre uff’n Platz! 4684 Spiele!“ Ein Stoßseufzer, die Beschwörung eines Geistes.
„Eine Legende, ein bunter Hund“
Gesprochen hatte dies ein alter Mann, der sich an der Theke über sein Herrengedeck beugte. „So viele Spiele hat nich eener in janz Deutschland!“, raunte der Greis. „Sonnabends hab’ ick Bezirksliga jepfiffen, sonntags DDR-Liga!“ Er kippte den Kräuterschnaps ins Bier. „Sie waren Schiedsrichter?“, fragte Büscher erstaunt. Der Alte richtete sich auf und sprach in klarem Hochdeutsch: „Ich bin der höchstdekorierte deutsche Schiedsrichter. Eine Legende, ein bunter Hund. 1988 Meister des Sports vor 67.000 Zuschauern.“ Er holte Luft. „Das war das Höchste.“
49 Jahre, 4684 Spiele, 67.000 Zuschauer: Diese Zahlen notierte Büscher später auf dem Zimmer, das er sich im „Löwen“ genommen hatte, für sein Buch „Deutschland. Eine Reise“. Der Alte hatte ihn an die Männer um Sepp Herberger erinnert: „Das weiße Haar straff nach hinten gekämmt, der Mund zwei senkrechte Kerben, das Gesicht eine Neunzig-Minuten-Maske grundskeptischer Überlegenheit.“
Diese Aufzeichnungen aber sind die einzigen Spuren, die der angebliche Rekord-Schiedsrichter Karl Franke in der Literatur hinterlassen hat. In keiner Chronik taucht er auf, keine Rangliste führt ihn, auch beim Brandenburgischen Fußballverband kennt ihn niemand. Ist er ein Vergessener? Jemand, dessen Lebenswerk bei der Aufbereitung der ostdeutschen Sportgeschichte übersehen wurde? Oder war er bloß ein Schwadroneur – und hatte dem Reiseschriftsteller einen Bären aufgebunden?
„Vielleicht war er der größte Schiedsrichter aller Zeiten“
Karl Franke selbst kann diese Fragen nicht mehr beantworten. Er starb vor vier Jahren, kurz nach der Begegnung mit Büscher, im Alter von 85 Jahren an einem Herzinfarkt. „Sein Tod war ein Schock für den ganzen SV Jahn“, sagt Kai Kiekeben. Er ist Platzwart und Spieler in der ersten Mannschaft des Vereins. Morgens um elf kehrt er die Blätter zusammen, die den Rasen bedecken. „Ja, Karlchen war eine Legende, und er ist es immer noch. Vielleicht war er der größte Schiedsrichter aller Zeiten.“ Er wendet den Blick gen Spielfeld, streicht über seinen Neuntagebart und lächelt. „Noch mit Ende 60 hat er gepfiffen und uns gezeigt, wer der Herr auf dem Platz ist. Wissen Sie, was er immer gesagt hat? ›Hier pfeift nur einer: Ich oder der Wind‹, hat er gesagt.“ Kai Kiekeben kann sich noch gut an den gediegenen Habitus Frankes erinnern, an die schneidigen Gesten, den gestrengen Blick, die feste Stimme: „Das hat er drauf gehabt. Als er mich einmal vom Platz gestellt hat, habe ich mehr Ehrfurcht verspürt als Frust.“
„Er hatte dieses gewisse Auftreten“, erinnert sich auch Horst Wolf. Als jungen Mann brachte Karl Franke ihn zur Schiedsrichterei und initiierte damit eine Karriere, die bis in die DDR-Liga führte. Das ist lange her, Wolf ist nun über 70. Aus seinem Einbauschrank holt er Erinnerungsstücke hervor, Urkunden, Zeitungsartikel, auch einen persönlichen Brief von Fritz Walter, dem Weltmeister. „Diese geschniegelte Frisur vom Fritz, so eine hatte Karlchen auch. Der Scheitel war wie mit dem Beil gehauen, und seine Schnürsenkel hat er mit Kreide geweißt.“ Tief beeindruckt sei er damals von dem zwölf Jahre älteren Franke gewesen, von seiner Eleganz und Autorität. „Wir haben ihn den ›Orlandini von Brandenburg‹ genannt.“ Eine Anspielung auf den Italiener Vincenzo Orlandini, der Begegnungen bei den Weltmeisterschaften 1954 und ’58 leitete. Wolf lächelt sphärisch: „Karlchen war ein Fußballverrückter, ein Vorbild für viele.“
Muss die Geschichte des deutschen Fußballs also tatsächlich um ein Kapitel ergänzt werden? Gesellt sich zu den großen Unparteiischen Ahlenfelder, Kirschen, Eschweiler, Pauly und Heynemann ein gewisser Karlchen Franke? Horst Wolf zögert. „Ach, er war auch ein Schauspieler“, formuliert er dann mit einer Vorsicht, als wolle er jemanden schonen. „Wie er auf den Platz gegangen ist, so ist er auch wieder runter gegangen. Um jede Regenpfütze hat er einen Bogen gemacht.“ Das wäre ja durchaus noch mit dem Bild des „Orlandini von Brandenburg“ zu vereinbaren. Schließlich war auch jener ein Galan und stets auf die Tadellosigkeit seiner Garderobe bedacht. Doch Hand aufs Herz, Horst Wolf: Hat der alte Freund wirklich 4684 Spiele gepfiffen? Wolf überlegt, dann sagt er: „Kann nicht hinkommen. Er hat schon viel gepfiffen, aber selbst wenn er die Freundschaftsspiele eingerechnet hat, so viele sind es im Leben nicht geworden.“ Vielleicht hat er sich verzählt, auch bei den 67.000 Zuschauern, die ihm, dem Meister des Sports, zujubelten. „Wissen Sie“, schnauft Horst Wolf und knetet seine Hände. Die nackte Wahrheit macht ihm wenig Spaß, doch er fühlt sich ihr verpflichtet. „Ich selbst habe in der DDR-Liga gepfiffen. Aber Karlchen haben dafür die nötigen Weiterbildungen gefehlt. Er war ein guter und in der Region bekannter Schiedsrichter. Mehr auch nicht.“
„Mehr auch nicht.“ – Eschweiler, Kirschen und die anderen Honoratioren können die Reihe wieder schließen. Karlchen Franke hält keinen Rekord. Ebenso wenig war er ein Internationaler. „Vielleicht hat er mal ein Europapokalspiel im Fernsehen gesehen. Und urplötzlich hat er es auch gepfiffen“, sagt Jörg Grundmann, Vorsitzender des SV Jahn. „Das sind Geschichten, die beim zweiten oder dritten Bier gestrickt worden sind.“ Grundmann war oft Zeuge jener wundersamen Verwandlung, wenn am Fußballstammtisch im „Löwen“ aus dem LPG-Buchhalter Karl Franke der „Orlandini von Brandenburg“ wurde. Dann sprach er wie ein Reporter seiner selbst von den 4684 Spielen und 67.000 Zuschauern, zündete sich eine „Duett“-Zigarette an der anderen an und holte die Trillerpfeife hervor, die er stets bei sich trug, wie als Beweis seiner Geschichte. „Er hat eben an der eigenen Legende gebastelt“, sagt Jörg Grundmann. „Das war eine Schwäche von ihm. Aber mein Gott, jeder hat doch Schwächen.“ Dann beugt er sich vor und sagt mit Nachdruck: „Ist doch vollkommen egal, auf welcher Ebene er gepfiffen hat. Karlchen Franke war ein Sportsmann. Er hat den Jungs hier das Fair Play beigebracht.“
„Karlchen war da und hat die Frauen alle betanzt“
Ein Geschichtenerzähler vor dem Herrn, das war er wohl, dieser Karl Franke. Ein Aufschneider, ein Maulheld, mögen die sagen, die ihm Böses wollen. Aber wer will das schon? Obwohl er es nie bis nach ganz oben schaffte, war er ein Schiedsrichter wie kaum ein Zweiter. Der gerechte Ablauf des Spiels, das er über alles liebte: Das war die Mission, in der Karlchen Franke unterwegs war – und das nicht weniger professionell als ein FIFA-Referee. An den Wochenenden fuhr er auf seinem Moped der Marke „Sperber“ von Dorf zu Dorf und pfiff alles, was nach einem Fußballspiel aussah. Ein Ball, mindestens ein Fuß, und Karlchen war dabei. Auf jedem Bolzplatz ertönte sein gellender Pfiff. Jungs wie Kai Kiekeben brachte er mit dem Anschein der Unfehlbarkeit bei, was erlaubt war und was nicht. In ihren Augen wurde er zum größten Schiedsrichter aller Zeiten.
Und wer ein Orlandini ist, dem fliegen auch die Herzen zu. An milden Abenden saß er im feinsten Zwirn auf dem Bahnhofsvorplatz von Bad Freienwalde, wo die Kurgäste ankamen, und empfing allein reisende Damen mit einer Charmeoffensive. Sie waren beeindruckt von dem scheinbar Vielgereisten und seinen Erzählungen aus dem Ausland. Gern gingen sie mit ihm aus, er war ein begnadeter Schwofer. „Wenn irgendwo ein Fest war“, sagt Jörg Grundmann, „war Karlchen da und hat die Frauen alle betanzt.“ Noch im Alter bewahrte er Fotos seiner Partnerinnen in der Brieftasche auf. Doch keine von ihnen konnte sich zwischen ihn und den Fußball drängen. „Hatte bildhübsche Frauen“, sagte er immer. „Mit eener wollt ick zum Friedrichstadtpalast. Standen schon am Bus. Kommt mein Bruder anjerannt: ›Du musst Motor Eberswalde pfeifen!‹ Da war die Liebe aus.“ Eine Ehe scheiterte Ende der 40er Jahre, zu oft war Karlchen auf seiner „Sperber“ davongeknattert. „Heirate doch deinen Fußball“, seufzte seine arme Frau. Er befolgte ihren Rat.
„Er hat immer nur vom Fußball erzählt“, sagt sein Bruder Georg. „Der war sein Ein und Alles.“ Georg Franke ist ein Männlein von 84 Jahren, das fliederfarbene Sofa, auf dem er sitzt, droht ihn beinah zu verschlucken. Ab und an verliert er sich im Zwiegespräch mit Wellensittich Willi. „Der Karlchen, der hat dit schon jemacht, Willi!“ Willi zwitschert verzückt, und Georg Franke lacht, bis seine Augen ein wenig feucht werden. „Als wir als Kinder aufs Scheunentor gespielt haben, hat Karlchen schon geschiedst. Als ich aus der Gefangenschaft kam, war er schon wieder am Schiedsen. Als er aufhören musste – das hat ihm schon sehr weh getan.“
„Fuffzich Jahre uff’n Platz!“
Erst mit Ende 60 ließ Karl Franke das Pfeifen sein und widmete sich fortan dem eigenen Mythos. Und je mehr ihm der Fußball fehlte, desto bunter malte er seine Erinnerungen aus: Kreisligaspiele wurden zu Europapokalpartien, Äcker zu Arenen, ein Dutzend Zuschauer zu Abertausenden. „Einmal in Fahrt, war Karlchen kaum zu bremsen“, sagt Stephan Gidius, der Wirt des Gasthofs „Zum Löwen“. „In seinen letzten Jahren war er oft hier. Er wollte immer Bockwürstchen essen, das ist ja das Standardgericht der Fußballer in den unteren Klassen“, so Gidius. „Das war auch das Einzige, was er von den Vereinen angenommen hat: eine Bockwurst und eine Tasse Kaffee. Alles andere wäre in seinen Augen Bestechung gewesen.“ Der Wirt hat seine helle Freude daran, sich an Karlchen Franke zu erinnern. Immer wieder deutet er in die Ecke, wo einst dessen Stammplatz war. „Da hat er auf den stillen Moment gewartet, wenn er seinen Spruch an den Mann bringen konnte: ›Fuffzich Jahre uff’n Platz!‹“
Eben den Spruch, der auch Wolfgang Büscher aufhorchen ließ. Stefan Gidius holt den Aschenbecher, den nur Franke benutzen durfte, ein Porzellangefäß mit getuschtem Waldmotiv. „Zwei Schachteln ›Duett‹ am Tag! Wir haben ihm erst mal beigebracht, wenigstens anständig zu essen, und ihm den Biene-Maja-Teller gemacht: eine Kinderportion Fleisch, Gemüse und Kartoffeln. Sonst hätte er immer weiter Bockwurst gegessen und geraucht.“
Seit dem Tod seiner Mutter lebte Karl Franke allein und in ärmlichen Verhältnissen. Nicht einmal einen Kühlschrank hatte er. Sein teuerster Besitz war ein alter Fernseher, den er einmal von der LPG für seine besonderen Verdienste als Buchhalter geschenkt bekommen hatte und den er pflegte, bis das Bild zusammenbrach. „Manchmal hab ich ihn dabei gesehen, wie er sich Kerzenstumpen mitgenommen hat“, sagt Stephan Gidius. „Damit hat er sich zu Hause Licht gemacht, um Strom zu sparen.“
„Uns hat er immer erzählt, er wäre reich“
Davon wussten die Tanzpartnerinnen und die Jungs, die zu ihm aufblickten, freilich nichts. Sie waren ja geblendet von den mit Kreide geweißten Schnürsenkeln und der schimmernden Pomade. Erst als der körperliche Verfall begann und er an Krücken laufen musste, fiel seine äußere Erscheinung mit den existenziellen Umständen zusammen. Auch dann noch versuchte er, den Schein zu bewahren. Vielleicht war es die Scham, so arm zu sein, die ihn dazu verführte, mehr sein zu wollen, als er tatsächlich war: Meister des Sports, der Mann, der die Stars stramm stehen ließ – und auch ein Star. Allmählich konnte er selbst Schein und Sein nicht mehr unterscheiden. „Uns hat er immer erzählt, er wäre so reich, dass er sich drei Autos kaufen könnte„, sagt sein Bruder Georg. „Und zur Beerdigung hat’s dann gerade eben so gereicht, dass er rein kam.“
Er meint eine grüne Wiese auf dem Friedhof von Oderberg, unweit von Bad Freienwalde. Hier ruht Karl Franke, „der höchstdekorierte deutsche Schiedsrichter“, ja, “der vielleicht größte Schiedsrichter aller Zeiten“, Karlchen, der Rekordhalter, der gar keiner war. Einen Grabstein gibt es nicht.
„Dit hat der Fußball aus mir jemacht“, hatte Franke zu Wolfgang Büscher gesagt. „Nie Zeit jehabt. Keene Frau, keen Kind. Fuffzich Jahre uff’n Platz. 4648 Spiele. Mehr jeht nich. Prost!“