Nach 16 Jahren verlässt Sergio Ramos Real Madrid. Er hat den Verein zurück auf Europas Thron geführt, dabei aber stets polarisiert. Für Real könnte sich die Trennung von seiner Führungs- und Identifikationsfigur noch als sehr schmerzhaft erweisen.
Es gibt nicht viele Spieler, die zu ihrer Verabschiedung eine eigene Pressekonferenz von ihrem Verein bekommen. Sergio Ramos gehört zu diesem exklusiven Kreis. Der 35-Jährige wird Real Madrid nach 16 Jahren und 22 Titeln ablösefrei verlassen. Es ist das Ende einer Ära, weshalb Real seinem langjährigen Kapitän einen angemessenen Abschied bereiten wollte. Nachdem Präsident Florentino Perez am 17. Juni die PK eröffnet hatte, betrat Ramos das Podium. Drei Minuten dauerte seine emotionale Abschiedsrede. „Es ist einer der schwersten Momente meines Lebens gekommen, ich muss mich von Real Madrid verabschieden. Ich bin aus den Händen meiner Eltern gekommen, war fast noch ein Kind“, eröffnete er seine Rede. Der beinharte Verteidiger zeigte seine sentimentale Seite und hatte immer wieder mit Tränen zu kämpfen. Anschließend stand er für Fotos mit der Familie und einigen Legenden der Königlichen bereit. Ramos ist nun eine von ihnen. Links standen fein geordnet die zahlreichen Trophäen, die er in den vielen Jahren bei Real gesammelt hat, darunter fünf Meisterschaften und viermal der Henkelpott aus der Champions League. Zuletzt durften Journalisten dreißig Minuten Fragen an ihn richten. Dann war der letzte offizielle Auftritt von Ramos im Dienste von Real Madrid beendet.
Von 2005 bis 2021 stand Ramos für Real auf dem Platz. Gekommen als 19-Jähriges Talent, verlässt er den Verein als Legende. Ramos war schon als Talent ein Versprechen für die Zukunft. Mit 17 Jahren debütierte er für den FC Sevilla in der Primera División, zwei Jahre später folgte der Wechsel für 27 Millionen Euro in die spanische Hauptstadt. Nach 671 Pflichtspielen mit 101 Toren, 216 gelben Karten und 26 Platzverweisen ist nun also Schluss bei den Königlichen.
Ramos hat den Verein in den letzten Jahren geprägt wie kein Zweiter. Es war sein Kopfball in der Nachspielzeit, der Real 2014 im Champions-League-Finale gegen Stadtrivale Atlético Madrid in die Verlängerung rettete. Am Ende setzte sich Real mit 4:1 durch und jubelte über „La Decima“, den zehnten Triumph in der Königsklasse. Es war der erste internationale Titel nach 12 Jahren und Ramos hatte den Grundstein hierfür und die erfolgreiche Zukunft gelegt. Bis zum Schluss hatte er an den Sieg geglaubt, eine Eigenschaft, die er von seiner Familie gelernt hat. „Mein Großvater und mein Vater haben mir immer gesagt, dass es Hoffnung gibt – selbst, wenn nur noch eine Sekunde zu spielen ist“, erklärte der Vater von vier Kindern einmal. „La Decima“ hatte den Königlichen eine Siegermentalität eingeimpft, die sie nach der Verpflichtung von Zinedine Zidane im Januar 2016 als neuen Trainer zu drei Champions-League-Siegen in Folge führte. Als Kapitän hatte Ramos jedes Mal erheblichen Anteil an den Triumphen, sowohl als Torschütze, als auch als Motivator und Führungsspieler.
28 Jahre alt war Ramos, als Real über „La Decima“ jubelte. Selbst der Fan des spanischen Stierkampfes musste erstmal in seine Rolle als Leader hineinwachsen. Im besten Fußballeralter war er nun bereit, seine Mannschaft in jede Schlacht zu führen. Er gab ihr Halt, steckte ein und teilte aus. Unvergessen, wie er im Champions League Finale 2018 Liverpools Stürmer Mohammed Salah niederrang, der daraufhin an der Schulter verletzt ausgewechselt werden musste. Später prallte er mit Liverpools Keeper Loris Karius zusammen, der eine Gehirnerschütterung davontrug und zwei spielentscheidende Fehler beging. Nicht wenige unterstellten Ramos in beiden Fälle böse Absicht. Spätestens seit diesem Spiel gilt der spanische Rekordnationalspieler vielen als Bösewicht des Fußballs.
Dabei tritt Ramos abseits des Platzes durchaus wie ein Vorbild auf. Erst im April zeigte er sich auf der Tribüne des Estadio Santiago Benabéu in einem Langarm-Shirt mit der Aufschrift „Misma Pasión“, eine Solidaritätsbekundung mit der Fußballspielerin María Isabel Rodríguez, die in Reals Frauenmannschaft spielt und im Zuge eines Social-Media-Postings sexistisch beleidigt worden war. Oder bei Welt- und Europameisterschaften, bei denen er den Sieg der spanischen Nationalmannschaft in Gedenken an seinen im August 2007 verstorbenen Freund Antonio Puerta mit der andalusischen Fahne mit der Aufschrift „Siempro con nostros“ – „Immer bei uns“ feierte. Ramos mag auf dem Platz ein Unsympath sein, daneben beweist er nicht selten Weitsicht und Empathie.
Fest steht: Ramos ordnet dem Erfolg seiner Mannschaft alles unter. Die Sympathien des Publikums scheinen ihm egal zu sein. Sein ehemaliger Trainer Zidane sagte mal über seinen Leitwolf: „Ramos ist unser Anführer und Kapitän. Er zeigt uns den Weg auf dem Feld.“
Auch optisch verkörpert Sergio Ramos das Bild eines Kriegers. Er trägt Vollbart und lange Haare. Dazu der volltätowierte Körper. Ramos könnte auch der Frontsänger einer Hard-Rock-Band sein. Während der Spielpause zu Beginn der Corona-Pandemie sah man ihn im Kraftraum Gewichte stemmen und unter größter Hitze staubige Hügel hinaufrennen. Nicht nur auf dem Fußballplatz geht Ramos über seine Grenzen hinaus. Er ist der Spieler, der dem FC Barcelona vielleicht fehlt, um wieder zurück an Europas Spitze zu kommen. Eigentlich wäre er der ideale Spieler für Diego Simeone, Trainer von Reals Stadtrivale Atlético Madrid. Ramos ist die Identifikationsfigur für alle, die mit dem schönen Spiel fremdeln. Wobei der Rechtsfuß keinesfalls ein schlechter Fußballer ist. Er paart Schnelligkeit mit einem guten Stellungsspiel. Auch die Spieleröffnung ist mehr als nur respektabel. Alles sportliche Gründe, weshalb Ramos über 16 Jahre Stammspieler bei Real und der Nationalmannschaft war. In Erinnerung bleiben werden aber immer seine spektakulären Zweikämpfe sowie der Siegeswille, der ihm immer ins Gesicht geschrieben steht. Diese mentale Stärke hat nicht nur einmal Berge versetzt. Ohne Ramos hätte Real wohl kaum viermal die Champions League gewonnen.
Dennoch hat Real entschieden, sich von der Vereinslegende zu trennen. Verletzungsbedingt stand Ramos in dieser Saison nur 15 Mal in LaLiga auf dem Platz. Der gebürtige Andalusier hatte sich eine Vertragsverlängerung um zwei Jahre gewünscht, Real bot jedoch nur ein Jahr, zudem mit Gehaltskürzungen. Ramos zögerte, am Ende zog der Verein auch das Angebot über eine Verlängerung über ein Jahr zurück. Sein Traum, die Karriere bei den Königlichen zu beenden, ist geplatzt. „Ich werde Real immer in meinem Herzen tragen“, machte Ramos die Bedeutung des Klubs in seiner Abschiedsrede deutlich. Nach seinem Karriereende will er in anderer Funktion wieder zurückkehren.
Trotzdem könnte sich die Trennung noch als großer Fehler für Real erweisen. David Alaba soll Ramos ersetzen und zukünftig gemeinsam mit Raphaël Varane die Innenverteidigung bilden. Sportlich sollte der Österreicher den Spanier mindestens gleichwertig ersetzen können. Aber in puncto Mentalität und Führungsqualität geht der Mannschaft von Real einiges verloren. Schon den Ehrgeiz eines Cristiano Ronaldo konnte Real nach dessem Abschied zu Juventus Turin nicht ersetzen, nun verlässt mit Ramos der zweite Mentalitätsspieler den Verein. Die überalterte Mannschaft droht ohne ihren ehemaligen Kapitän weiter an Gesicht und Format zu verlieren. Ein Nachfolger innerhalb der Mannschaft ist nicht in Sicht, dafür sind andere Leistungsträger wie Kroos, Modrić oder Benzema einfach nicht die richtigen Charaktere. Der Abschied von Ramos könnte sich für Real noch rächen.
Schließlich denkt der 35-Jährige noch nicht an das Karriereende. Internationale Topvereine stehen weiterhin Schlange, PSG scheint die besten Karten zu haben, den ablösefreien Ramos unter Vertrag zu nehmen. Mindestens zwei Jahre wird er wohl noch auf dem Platz stehen. Wenn der Körper mitmacht, wohl noch etwas länger. Man hat nicht das Gefühl, dass das Lebenswerk von Ramos schon vollbracht ist. Nach einer Sommerpause ohne großes Turnier wird er mit einem europäischen Topverein wieder Angriff auf Europas Krone nehmen. Real konnte immer froh sein, Ramos in den eigenen Reihen zu haben. Nun könnten sie als Gegner auf ihn treffen und am eigenen Leib erfahren, wie unangenehm und schmerzhaft das sein kann.