Dem deutschen Fußball fehlt es schon länger an Wucht und Physis im Angriff – dank Serge Gnabry muss man sich um die Torgefahr der Nationalmannschaft trotzdem keine Sorgen machen.
Gnabry verkörpert den Zustand der Nationalmannschaft im Herbst 2019 wie kein Zweiter. Er steht einerseits für die strukturellen Defizite, mit denen der Bundestrainer leben muss, andererseits für eine überragende Fülle an Talent. In welche Richtung es geht, das wird bei der EM in sieben Monaten die spannende Frage sein. „Das weiß ich auch nicht“, sagte Kroos, einer der letzten verbliebenen Routiniers der Nationalmannschaft. „Das werden wir sehen, wenn die Gegner kommen, die es zu schlagen gilt, um etwas zu erreichen. Das waren definitiv nicht die beiden jetzt aus dem November.“
Gegen die beiden aus dem November – Weißrussland und Nordirland – erzielten die Deutschen immerhin zehn Tore, weswegen die Stimmung rund um die Nationalmannschaft nun wieder optimistisch bis euphorisch ist. „So langsam kommen wir in Fahrt“, sagte Mittelfeldspieler Leon Goretzka, der zwei Tore zum Sieg gegen die Nordiren beigesteuert hatte. „Wir wollten Deutschland ein bisschen wachrütteln, dass wir da sind.“
Eifer und Elan überspielen die Defizite
Die junge Mannschaft hat durchaus etwas Mitreißendes. Mit ihrem Eifer und ihrem jugendlichen Elan ist sie in der Lage, ihre Defizite zum Beispiel in der Abwehr, auf den Außenverteidigerpositionen oder im Sturm zu überspielen. Bestes Beispiel ist Serge Gnabry, der eben kein geborener Strafraumstürmer ist, der aber immer besser in diese Rolle hineinwächst. „Im Abschluss ist er technisch wirklich überragend gut“, sagte Löw.
Den Ausgleich zum 1:1 hätte vermutlich selbst Gerd Müller kaum besser hinbekommen. Gnabry nahm ein Zuspiel mit links so an, dass der Ball noch einmal auftippte, um ihn dann mit rechts, aus der Drehung und volley in den Winkel zu jagen. „Das sind bewusste Tore“, erklärte der Bundestrainer. „Er legt sich die Bälle richtig zurecht.“ Gnabrys zweiter Treffer verlief nach dem gleichen Prinzip: Annahme mit links, den Ball aufspringen lassen, Abschluss mit rechts – und alles in einer fließenden Bewegung. „Großartige Qualitäten“ bescheinigte Löw dem Offensivspieler des FC Bayern.
„Er stellt verschiedene Ebenen her“
Und trotzdem wird es vermutlich auch in den nächsten Monaten wieder Momente geben, in denen bei der Nationalmannschaft das Fehlen echter Stoßstürmer und die mangelnde Präsenz im gegnerischen Strafraum beklagt werden wird. Die Frage aber ist, ob die Qualitäten, die ein Typ wie Gnabry mitbringt, nicht deutlich wertvoller sind. „Ich habe immer schon gesagt, dass er für die Mannschaft extrem wichtig ist“, erklärte Löw. Gnabry sei Anspielstation, verarbeite die Bälle super, lasse sich aber auch mal fallen, um Platz zu schaffen für andere und stoße dann selbst wieder in die Spitze. „Er stellt verschiedene Ebenen her“, sagte der Bundestrainer. „Das macht ihn so wertvoll für uns.“
Dass Serge Gnabry Pierre-Michel Lasogga im Kopfballspiel unterlegen ist, lässt sich unter solchen Umständen gerade noch verkraften.