Mehmet Scholl hat Geburtstag. Er wird 50. Müssen wir uns jetzt alle schrecklich alt fühlen?
Vor zwei Monaten erschütterte ein kurzer Tweet von Macaulay Culkin das Internet. „Hey guys, wanna feel old?“, fragte Hollywoods größter Kinderstar der frühen Neunziger. Und dann: „I’m 40. You’re welcome.“ Heute können wir noch einen draufsetzen. Denn Mehmet Scholl ist nun ein halbes Jahrhundert alt. Bäm! You’re welcome.
Ja, für jeden, der sich noch an die Zeiten erinnern kann, als Fußballtrikots so weit wie Zweimannzelte waren, ist das ein schwerer Schlag. Denn Scholl – der mit zweitem Vornamen übrigens Tobias heißt und nicht, wie die heutigen Schlagzeilen zu seinem Ehrentag vermuten lassen könnten, Ewiges Talent – stand wie kein Zweiter für das Zeitalter der Teeniestars in kurzen Hosen. Diese Ära begann zwar mit Scholls Karlsruher Klubkameraden Michael Sternkopf und fand ihren Höhepunkt mit der Inszenierung von Lars Ricken als modernem James Dean („Ich sehe Typen in Nadelstreifen und Geschäftemacherei ohne Ende“), aber die Kernfigur war immer der zu gleichen Teile flapsige und fintenreiche Tempodribbler aus der Nordweststadt.
Scholl hatte seine erste Saison als Profi noch nicht mal zu Ende gespielt, da sprach die damals 14-jährige Tochter von St.-Pauli-Manager Herbert Liedtke für eine ganze Generation, als sie zu ihrem Vater sagte: „Papi, der ist so süß, kannst du den nicht kaufen?“ Und es ist kein Zufall, dass keine zwei Jahre nach seinem Wechsel zum FC Bayern die „Bravo“ einen Ableger ins Leben rief, der sich dem Titel nach zwar um Sport allgemein kümmerte, in dem es aber fast ausschließlich um Fußball ging und geht. Oder dass Scholl gleich drei Gold-Ottos dieses Magazins abräumen sollte, obwohl er nur bei einem großen Turnier Stammspieler der Nationalelf war, ausgerechnet während der desaströsen EM 2000.
Doch es waren eben nicht nur 14-jährige Mädchen, die Scholl anhimmelten. Vor mittlerweile fast zehn Jahren bilanzierte die 11FREUNDE-Website: „Das Erstaunliche an Mehmet Scholl ist, dass es ihm gelungen ist, die Sympathien nahezu aller deutschen Fußballfans auf sich zu vereinigen. Solch angesehene Spieler hat es im deutschen Fußball nur wenige gegeben, am ehesten noch Uwe Seeler oder Rudi Völler. Doch im Unterschied zu ihnen hat Scholl den Großteil seiner Karriere für den polarisierenden FC Bayern gespielt.“
Vermutlich machte das allerdings sogar einen bedeutenden Teil seiner Popularität aus. Wer am Montag die Sendung „Wer wird Millionär?“ gesehen hat, bei der vornehmlich Spieler des FC Bayern für einen guten Zweck rätselten, wie viel Pfand man wohl für eine Flasche Bier bekommt, der kann sich kaum mehr vorstellen, dass dieser Klub in den Neunzigern sehr viel Zeit und Geld investierte, um die wohl unsympathischste Mannschaft der Bundesligageschichte zusammenzustellen. Gerade inmitten dieser Ansammlung von mürrischen, eitlen und fast schon krankhaft ehrgeizigen Egomanen wirkte Scholl wie ein bitter nötiges Gegengewicht.
Scholl war auf vielen Ebenen und für viele verschiedene Gruppen der große Lichtblick in den dunklen Jahren des deutschen Fußballs. Die Leute, die man bald Hipster nennen würde, waren begeistert davon, dass ein bekannter Bundesligaspieler Indierock hörte und Nick Hornby las. An den bajuwarischen Stammtischen, wo man über solche Typen sonst gerne lästerte, nickten die Weißbiertrinker anerkennend, weil der junge Mann in seiner Freizeit ausgerechnet dem urdeutschen Provinzsport Kegeln frönte. Und die Liebhaber des schönen Spiels freuten sich einfach, dass da wenigstens einer auf dem Rasen stand, der Jugendlichkeit und Freude am Kicken verströmte.
Und dieser Urvater aller Bundesliga-Berufsjugendlichen soll nun 50 sein? Das ist doch gar nicht möglich! Andererseits … was hat Scholl eigentlich gemacht, seit er „die Sympathien nahezu aller deutschen Fußballfans auf sich vereinigte“? Nicht viel. Er trainierte mal die D‑Jugend des FC Bayern, wo er den Kindern Sachen zurief wie: „Keine langen Bälle, Männer!“ Er war viele Jahre Experte für die ARD und fiel dort eher durch Sprüche auf als durch fundierte Analysen. Er legt im Bayerischen Rundfunk noch immer Indierock auf, vor zwei Wochen The Plea, Kuroma und Death Cab For Cutie. Und seit August hat er einen Podcast bei „Bild“ mit dem eigenartig langweiligen Titel „Jetzt kommt Scholl“.
Eigentlich, und das ist das auf den ersten Blick Seltsame an seiner Karriere nach der Karriere, fällt Scholl nur noch durch die Art von moralinsauren, populistischen und oberflächlichen Kommentaren auf, wie man sie von den Männern kennt, deren Korrektiv er doch einst war, den Baslers oder Effenbergs. Das Feindbild „Laptop-Trainer“ führte Scholl schon vor fünf Jahren in einem Interview ein, seitdem arbeitet er sich an den Mitgliedern der Tedesco/Nagelsmann-Generation ab, „die dieses typische Kursbestergesicht haben“ und „nie selbst oben gespielt haben“. Sehr oft klingt er dabei wie … ja, im Grunde wie jemand, der nach einem halben Jahrhundert bockig auf die Welt blickt und findet, dass früher vieles besser war.
Ist das paradox? Nein. Schon zu seiner aktiven Zeit war Scholl nie wirklich das Paradebeispiel des anderen Profis, das war bloß sein Image. Bereits im März 1991, da war er kaum 20, sagte er einem Reporter: „Ich will in zehn Jahren Fußball so viel Geld verdienen wie möglich, am liebsten in vier Jahren bei Juventus Turin spielen.“ Das mit Italien hat zwar nicht geklappt, aber seinen konservativen Karriereplan dürfte er auch in München erfüllt haben. Er war eben immer schon beides, der Hipster und der Kegelbruder. Eine von diesen beiden Rollen lässt sich natürlich nicht unbegrenzt ausfüllen, weil man von der Zeit eingeholt wird. So gesehen muss sich niemand alt fühlen, weil Mehmet Scholl 50 geworden ist. Ein Teil von ihm war das schon länger.