Am Wochenende spielte Maximilian Mittelstädt nach einem heftigen Zusammenprall zunächst weiter – später gab Hertha BSC die Diagnose Gehirnerschütterung bekannt. Wie die FIFA solche Szenen bei der kommenden WM verhindern will.
Union Berlin gegen Arminia Bielefeld: Andreas Luthe und Julian Ryerson prallen zusammen, das Spiel ist acht Minuten unterbrochen, beide spielen durch. Arminia Bielefeld gegen RB Leipzig: Ritsu Doan stößt mit Amadou Haidara zusammen, beide spielen durch. Bei Doan wird zwei Tage später eine Gehirnerschütterung diagnostiziert. Mainz gegen Köln: Kingsley Ehizibue rauscht mit Jonathan Burkardt zusammen. Ehizibue wird zwar ausgewechselt, Trainer Gisdol geht „mindestens von einer Gehirnerschütterung aus“. Keine Woche später spielt Ehizibue siebzig Minuten gegen Leverkusen.
Das ist nur ein kleiner Ausschnitt aus der Liste der gefährlichen Zusammenstöße in der Bundesliga. Jedes Wochenende könnte man einen neuen Text dazu schreiben. Auch an diesem Sonntag kam ein weiter Fall hinzu. Hertha gegen Bielefeld: Maximilian Mittelstädt prallt nach elf Minuten mit Anderson Lucoqui zusammen, muss sechs Minuten lang behandelt werden. Auch er spielt zunächst weiter. Fünfzehn Minuten später deutet er an, dass er eine Auswechslung wünscht. Mittlerweile bestätigte Hertha die Diagnose einer Gehirnerschütterung. Der gemeinsame Nenner in dieser Aufzählung: Nur selten reagieren Spieler, Trainer und weitere Verantwortliche angemessen und vor allem schnell. Die Vereinsärzte tun sich schwer damit, Spieler bei möglichen Kopfverletzungen konsequent vom Feld zu nehmen. Auch sie spüren den Druck des Wettbewerbs.
Zu den langfristigen Auswirkungen von Kopfverletzungen im Sport gibt es mittlerweile einige Studien. Als Paradebeispiel gilt dabei American Football. 2017 stellte eine Studie bei 99 Prozent der untersuchten NFL-Spieler die degenerative neurologische CTE-Erkrankung fest. Davor ist auch der Fußball nicht gefeit. Hier zeigt eine Studie von 2019, dass die Wahrscheinlichkeit, an Demenz zu erkranken, bei Fußballern dreimal höher ist als im „Normalfall“. Auch Persönlichkeitsveränderungen, Sprechstörungen und Depressionen zählen zu den langfristigen Folgen. Das ist bedingt durch schnelle Bewegungen an sich, wird gefördert von vielen Kopfbällen und auf die Spitze getrieben durch heftige Zusammenstöße – wie den am Wochenende bei Maximilian Mittelstädt.
Immerhin gibt es in der Bundesliga seit zwei Jahren verpflichtende Hirntests: Zu Beginn der Saison ermitteln die Ärzte für jeden Spieler einen „Normalzustand“, bei möglichen Kopfverletzungen wiederholen sie die Tests und gleichen die Ergebnisse ab. Erst wenn diese übereinstimmen, darf ein Spieler wieder zum Einsatz kommen. Die Premier League testet aktuell eine zusätzlich Auswechslung bei Kopfverletzungen, auch wenn das Wechselkontingent aufgebraucht ist. Die Spielergewerkschaften Professional Footballers’ Association (PFA) und Fédération Internationale des Associations de Footballeurs Professionnels (FIFPro) setzen sich außerdem für temporäre Wechsel ein, um den Mannschaftsärzten mehr Zeit für eine Untersuchung und Entscheidung einzuräumen. Zur WM in Qatar wird es allerdings den größten Schritt zu mehr Sicherheit bei Kopfverletzungen zu Spielern geben.
Am Donnerstag erklärte Andrew Massey, medizinischer Direktor der FIFA, dass bei allen FIFA-Wettbewerben sowohl Videoaufnahmen für die Teamärzte als auch externe sogenannte „concussion spotter“, also „Gehirnerschütterungs-Beobachter“, eingesetzt werden sollen. Diese sollen auf den Rängen Platz nehmen, um so einen besseren Überblick zu haben und Hinweise auf eine etwaige Kopfverletzung leichter erkennen zu können. Denn wie Massey in einem Gespräch auf dem FIFA-eigenen YouTube-Kanal sagte: „In Spielen verpasst man die oft, auch wenn du in der ersten Reihe sitzt. Leute laufen vor dir, du hast den Trainer, den Schiedsrichter-Assistenten, Spieler, die sich warm machen. Es ist leicht zu übersehen.“ Die Beobachter sollen dabei nicht nur das Spiel selbst mit etwas mehr Abstand verfolgen, sie sollen auch die Videoaufnahmen genauer untersuchen und dabei Signale für eine mögliche Kopfverletzung im Blick behalten. Laut Massey würde diese Prozedur „die Sache ein ganzes Stück sicherer machen“.
Massey ist seit März 2020 medizinischer Direktor bei der FIFA, war zuvor sieben Jahre Mannschaftsarzt bei Liverpool und hat sich den Umgang mit Kopfverletzungen zur Aufgabe gemacht. Er kennt den Druck, den Mannschaftsärzte bei der Abwägung einer Auswechslung erleben. Weiterspielen lassen auf die Gefahr einer ernsthaften Verletzung hin? Oder lieber vom Feld nehmen und dabei riskieren, das Spiel zu verlieren? Im Mai 2019 ließ er Mo Salah wegen einer möglichen Gehirnerschütterung nicht weiterspielen – Salah verpasste das Halbfinal-Rückspiel in der Champions League gegen Barcelona. Während der Behandlung auf dem Feld seien Massey die möglichen Folgen eines Salah-Ausfalls für Liverpool durch den Kopf gegangen. Obwohl die Entscheidung eigentlich eindeutig gewesen sei.
In seiner jetzigen Funktion bei der FIFA will er den Umgang mit Gehirnerschütterungen und Kopfverletzungen im Allgemeinen ändern. Er gründete eine unabhängige Beratungsgruppe, ist Mitglied der FA-Research-Task-Force und will den Umgang mit Kopfverletzungen auch über die Sprache verändern. „Wenn wir den Begriff von ‚Gehirnerschütterung’ zu ‚Hirnverletzung‘ ändern, horchen die Leute direkt auf und denken: ‚Oh, das ist deutlich ernster!‘“.
Schon bei der Klub-WM im Februar hatte es – ähnlich wie in der Premier League – die Möglichkeit zusätzlicher Wechsel gegeben. Mit der Einführung der „concussion spotter“ bei ihren Wettbewerben geht die FIFA jetzt einen Schritt weiter und setzt damit um, was in anderen Sportarten längst gang und gäbe ist. In der NFL beispielsweise gibt es seit 2012 die ATC-Spotter, in der englischen Rugbyliga seit 2018 die Hawk-Eye-Spotter. Und in der Bundesliga? Dort lehnte die DFL im Februar zusätzliche Wechsel bei Kopfverletzungen, wie die Premier League sie testet, ab.