Nach Monaten der Abstinenz geht unser Autor wieder ins Stadion. Er muss eine Maske tragen, den Mindestabstand einhalten und darf nicht singen. Warum ihm der Besuch trotzdem gefallen hat.
Kurz bevor die Partie endlich angepfiffen wird, machen wir noch schnell von der freien Platzwahl Gebrauch und ziehen hinter die Trainerbänke auf die Haupttribüne um. Auch hier kann der Abstand entspannt eingehalten werden, genügend Platz ist vorhanden. Vom Anpfiff weg entwickelt sich dann kein hochklassiges, aber ein überraschend kurzweiliges Spiel mit einigen Ballstafetten, die so nicht unbedingt in der vierten Liga zu erwarten waren. Vor allem der Aufsteiger überzeugt mit seiner Kombinationssicherheit. Auf den Rängen halten sich bis auf ein paar Chemie-Fans zunächst alle konsequent an das Singverbot, sodass ich den Anweisungen der beiden Trainern lauschen kann: „Hey, ganz ruhig, lass dich nicht provozieren.“
Mitte der ersten Halbzeit, das Spiel plätschert gerade so vor sich hin, gibt es dann doch endlich mal die spontanen Emotionen von den Rängen: „Willst du uns verarschen?“, wird in aggressiver Tonlage in Richtung Schiedsrichter gebrüllt, als der Unparteiische das Spiel für eine Trinkpause unterbricht. Währenddessen nutzt der Stadionsprecher die Zeit und lobt die Balljungen für ihren Einsatz. Sobald ein Ball ins Aus geht, wird er sofort weitergereicht. Verantwortungsvoll reinigt ihn der einzige Junge mit Desinfektionsspray.
Kurz nach der Erfrischungspause geht das Team aus Leipzig in Führung. „Spitzenreiter, Spitzenreiter“, tönt es direkt aus der grün-weißen Kurve. Vermutlich um noch mehr Höhenluft zu schnuppern, erklimmen drei euphorisierte Chemie-Fans dabei die Stadionzäune. Als neutraler Zuschauer schmunzle ich über den Kontrast, die gegensätzlichen Emotionen, die Enttäuschung, die ich auf der anderen Seite erblicke. Sinnbildlich dafür schreit ein Mitfünfziger mit Fahne, Bier und hochrotem Kopf in Richtung Spielfeld: „Was ist los Borussia?“ Augenscheinlich nicht wirklich viel, Chemie erhöht kurze Zeit später auf 2:0. An einer Art Schiedsrichter-Tisch bietet ein netter Opa nach dem Tor einen Service an, den ich so aus der Bundesliga nicht kenne: Er hält die Rückennummer des Torschützen hoch. Nummer neun, ist notiert, die Scouting-Abteilung dankt!
Für ein neues Bier in der Halbzeit ist zwar etwas mehr Geduld gefragt. Die haben aber fast alle, sodass hektisches Gewusel ausbleibt. Insgesamt ist der Umgang entspannt und rücksichtsvoll, geradezu entschleunigt. TeBe beginnt den zweiten Durchgang dagegen so stürmisch und motiviert, dass bereits nach ein paar Spielminuten der Anschlusstreffer gelingt.
Auf den Rängen entwickelt sich nun so etwas wie ein Gesangsduell. Einige TeBe-Fans wagen sich aus der Reserve und widersetzen sich den Hygiene-Anweisungen: „Come on TeBe, oh come on, oh come on.“ Sanktioniert werden sie dafür weder vom Stadionsprecher noch von den anwesenden Ordnern. Die einzige Reaktion kommt vonseiten der Leipziger Anhängerschaft. Mittlerweile noch mehr zersplittert und weniger eng beieinander stehend antwortet sie mit einem langgezogenen „Schäääämiee“-Wechselgesang.
Trotz der nun immer mehr aufkommenden Stadionatmosphäre sind nicht alle TeBe-Fans mit der Austragung des Spiels einverstanden. Auf einem Banner fragen sie: „Trotz Corona rollt der Ball, NOFV (Nordostdeutscher Fußballverband, Anm. d. Red.) habt ihr nen Knall?“ Einmal rollt der Ball dann sogar noch ins Tor, zum 3:1 für Chemie. Während mit Abpfiff der allseits beliebte Gassenhauer „Spitzenreiter, Spitzenreiter, hey hey“ hinter dem Tor der Leipziger ertönt, bleibt Tennis Borussia nur die Anerkennung von den Rängen. Nach einer guten Leistung warten ein paar Fans hinter den Trainerbänken um noch ein paar warme Worte an die enttäuschten Spieler zu richten. Einer der Wartenden trägt dabei ein T‑Shirt mit der Aufschrift: „Live fast, no favours, no assistants, no rich parents, no investor.“
Mir fällt auf dem Weg nach Hause dagegen auf, wie sehr mein Ausflug doch meinen bisherigen Regionalliga-Stadionerfahrungen ähnelt. Außer bei Union verzichte ich nämlich freiwillig auf Anfeuerungsrufe und das Beieinander wie die Sardinen in der Büchse. Somit war das Einhalten des Sicherheitsabstands für mich kein Problem. Einzig das Maskentragen erinnerte zwischenzeitlich immer mal wieder an das Virus. Ansonsten hatte mein Stadionbesuch alles, was ich vermisst habe. Die Emotionen auf den Rängen, das Beobachten der anderen Zuschauer. Das Zusammenkommen von ganz unterschiedlichen Charakteren, das Fachsimpeln, die vereinzelten Gesänge. Die Laufwege der Spieler abseits des Balls, ein paar kreative Banner oder einfach nur die Bratwurst und das Bier. Das alles hat gefehlt. Ich werde wiederkommen.