Spielen wollten sie immer. Sie fuhren quer durch Bremen, von Tenever nach Lesum – doch der Gegner war nicht da. Sie saßen umgezogen in der eigenen Kabine – aber die Kontrahenten kamen nicht. Sie fuhren nach Horn – vergeblich. Ein Spieltag nach dem anderen, immer das gleiche Bild. Und dennoch: Traten sie auswärts an, kamen sie mit drei Zählern im Gepäck nach Hause, bei Heimspielen blieben die Punkte da. Die Tabelle der Bremer Kreisliga A attestiert dem SV Mardin aus dem Problemstadtteil Tenever eine blütenweiße Weste. Ende November, nach zehn Spielen, hatten sie 30 Punkte auf dem Konto, das Torverhältnis lautete 20:0. Dabei ist der SV Mardin, ein Klub kurdischer Einwanderer, normalerweise im Mittelfeld der Liga zu finden. Dass die Fußballer auf dem besten Weg zum Aufstieg in die Bezirksliga sind, liegt daran, dass niemand gegen sie spielen will.
Alles begann am vorletzten Spieltag der vergangenen Saison. Es waren nur noch wenige Minuten zu spielen an jenem Sonntag im Juni, als Schiedsrichter René Jacobi eine verhängnisvolle Entscheidung traf. Beim Spiel des SV Mardin gegen den FC Mahndorf schickte er in der 84. Minute beim Stand von 3:1 für Mahndorf zwei Akteure zum Duschen, einen von jedem Team. Danach eskalierte die Situation auf der Bezirksanlage Schevemoor, wo der SV Mardin seine Heimspiele austrägt. Den Anfang machte Mardins Trainer Cindi Tuncel. Der 30-Jährige schlug dem Referee die Pfeife und die Karten aus der Hand. Es folgte ein Tumult, Zuschauer stürmten den Platz, Schläge und Tritte prasselten auf Jacobi ein. Einige Spieler des SV Mardin versuchten den Mann gegen die Angriffe des wütenden Mobs zu schützen, andere beteiligten sich an der Jagd auf den Unparteiischen. „Es ist erschütternd, wenn man schutzlos auf dem Boden liegt und es trotzdem weitergeht“, erinnert sich Jacobi, soweit er sich erinnern kann. Irgendwann verlor er das Bewusstsein und kam erst im Krankenhaus wieder zu sich.
Die Liste der Verletzungen, welche die Ärzte bei Jacobi feststellten, ist lang. Da war zum Beispiel die Prellung des rechten Auges nach einem Faustschlag, hervorgerufen durch Bluttröpfchen innerhalb des Auges und so stark, dass das Sehvermögen für mehr als eine Woche getrübt war. Schläge und Tritte gegen den Kopf verursachten eine Gehirnerschütterung, von diversen Prellungen an nahezu allen Stellen des Körpers ganz zu schweigen. „Ich hätte gelähmt oder sogar tot sein können“, sagt Jacobi. „Für meinen Hausarzt ist es nach wie vor ein Wunder, dass nichts Schlimmeres passiert ist.“
Der geprügelte Schiedsrichter konnte lediglich den Trainer als Angreifer identifizieren, deshalb wurde auch nur der bestraft – mit einer einjährigen Sperre. Cindi Tuncel ist eigentlich ein Musterbeispiel gelungener Integration. Der diplomierte Sportpädagoge sitzt für die Linke im örtlichen Stadtteilparlament, ist Integrationsbeauftragter des Landessportbundes Bremen (LSB) und dort für das Projekt „Sport gegen Gewalt, Intoleranz und Rassismus“ zuständig. Direkt nach dem Vorfall wurde er vom LSB freigestellt, bekam den Posten allerdings drei Wochen später zurück. Denn Tuncel leugnet nach wie vor, den Referee körperlich angegriffen zu haben. „Ich habe nicht geschlagen und nicht getreten“, beteuert er. Gleichwohl wurde er gesperrt und der SV Mardin vom Spielbetrieb der laufenden Saison ausgeschlossen. Allein: Es war nur noch eine Partie zu spielen. Für die aktuelle Serie gilt der Ausschluss laut der Satzung des Bremer Fußball-Verbandes (BFV) nicht und die an der Treibjagd auf den Unparteiischen beteiligten Spieler sind weiter dabei. Der Verein könnte sie melden und damit für ihre Bestrafung sorgen – angeblich sind die Schläger jedoch dem Klubvorstand nicht bekannt.
Der Bremer Verband will sich nicht äußern, der DFB hält sich raus
Eben das wollen die übrigen Kreisligavereine nicht glauben. Anfang der Saison trafen sich ihre Verantwortlichen, debattierten ausführlich – und kamen zu einer Entscheidung: Sie werden so lange nicht gegen den SV Mardin antreten, bis der Klub Namen nennt. Das war von Anfang an durchaus umstritten, selbst der verprügelte Schiedsrichter Jacobi hält nichts davon. „Sippenhaft gehört nicht zu unserem Rechtssystem“, sagt er. Schließlich hätten ja auch einige Spieler des SV Mardin versucht, ihn vor den Angreifern zu schützen und damit möglicherweise noch Böseres verhindert. Trotzdem trug der Verband den Boykott zunächst mit und wertete die Spiele offiziell als „abgesetzt“, in der Hoffnung, sie nachholen zu können, sobald der Klub einlenkt.
Mitte Oktober dann die Wende: Auf einmal sahen sich die Funktionäre des BFV veranlasst, die eigenen Statuten umzusetzen. Danach bekommt ein Verein drei Punkte und zwei Tore gutgeschrieben, wenn der Gegner nicht antritt. Deshalb steht nun der SV Mardin vorne, und das, zumindest wenn es nach dem Buchstaben des Gesetzes geht, völlig zurecht. „Im Sinne des Erfinders ist das nicht“, räumt Spielleiter Johann Rullhusen ein, das Reglement gebe aber nichts anderes her. Schließlich hat es solch einen Fall noch nie gegeben. Dem BFV ist die Angelegenheit anscheinend mächtig unangenehm, vom Präsidium will sich niemand äußern. Der DFB wiederum hält sich raus und verweist darauf, dass es sich um eine Sache des Bremer Verbandes handele.
Die Entscheidung des Verbandes, die ausgefallenen Spiele für Mardin zu werten, hat einige überrascht. Den Fußball-Verantwortlichen der BTS Neustadt, Helmut Helken, zum Beispiel. Er geht weiter davon aus, dass sein Verein sich nicht an einem Boykott beteiligt hat, sondern dass die Spiele nur „ausgefallen“ seien. Die Reserve der BTS Neustadt steht nämlich mit dem Rücken zur Wand. Mangels Personal konnte das Team bei einer anderen Begegnung nicht antreten, und da das Spiel gegen den SV Mardin ebenfalls als „Nichtantritt“ gewertet wurde, steht die Mannschaft kurz vor dem Ausschluss aus der Kreisliga A – spätestens dann, wenn es auch beim Rückspiel gegen Mardin nicht aufläuft. Denn die BFV-Satzung besagt: Ein Team, das dreimal nicht antritt, fliegt automatisch aus der Liga.
Derweil hat sich der Klubvorstand des SV Mardin offiziell bei Schiedsrichter Jacobi entschuldigt. Tuncel und er trafen sich auf ein Bier und haben Frieden geschlossen. „Mit dem Trainer habe ich ein ausführliches, offenes und ehrliches Gespräch gehabt“, berichtet Jacobi. Der Fußballverband will seinerseits als erste Konsequenz aus dem „Fall Mardin“ die Satzung ändern, damit Vereine künftig auch über die laufende Spielzeit hinaus bestraft werden können. Den SV Mardin betrifft das allerdings nicht mehr. Wenn nicht noch ein Wunder geschieht, wird der Klub in der kommenden Saison in der Bezirksliga kicken – ohne ein einziges Spiel bestritten zu haben. Glücklich sind die Verantwortlichen damit aber nicht. „Für den derzeitigen Coach ist es nicht leicht, die jungen Spieler zu motivieren“, gibt sich Ex-Trainer Tuncel besorgt. Was passiert, wenn sich in der kommenden Saison auch in der Bezirksliga eine Boykott-Bewegung formiert, will sich keiner der Beteiligten ausmalen. Die BFV-Statuten regeln auch diesen Fall eindeutig: drei Punkte und zwei Tore für den SV Mardin. Bis zum nächsten Aufstieg.