„Estádio Jornalista Mário Filho“ heißt das Maracana mit offiziellem Namen. Wer war dieser Mario Filho?
Das Maracanã-Stadion in Rio de Janeiro ist am 15. Dezember 1963 zum Bersten gefüllt. 194.000 Anhänger von CR Flamengo und Fluminense FC drängen sich auf den Rängen, um das traditionsreichste Derby der Stadt zu sehen. Eine Weltrekordkulisse! Unbändig schwenken die Fans Fahnen, Konfettiregen und Rauchschwaden hüllen die Traversen ein. Flamengo gegen Fluminense, oder kurz Fla-Flu, ist ein Dauerbrenner im brasilianischen Fußball. Fla-Flu ist die sprachliche Signatur für das jährliche Spektakel der beiden erfolgreichsten Fußballclubs der Stadt, das die Carioca, die Bewohner Rios, schon Tage vor dem eigentlichen Aufeinandertreffen in Atem hält.
Legenden Zico und Junior
Flamengo gilt als der Verein mit der weltweit größten Fangemeinde. Es sollen mittlerweile ungefähr 39 Millionen Anhänger sein. Der Verein wurde 1895 als Club de Regatas, also als ein Ruderclub gegründet, der vornehmlich der Oberschicht offen stand. Im Zuge der Verpflichtung des schwarzen Stars Leonidas da Silva 1936 gelang jedoch ein Imagewandel hin zu einem populären Verein. Legenden wie Zico oder Junior gehörten in den 1980er Jahren untrennbar zum Klub, der zahlreiche Erfolge einfuhr.
Fluminense wurde dagegen 1902 von dem Engländer Oscar Cox gegründet. Sein Image als Verein der Oberschicht hat sich bis heute gehalten. Der Klub ist im eleganten Stadtviertel Retiro von Guanabara beheimatet. Schwarze Spieler wurden lange nicht bei Fluminense geduldet. Carlos Alberto Torres, ein hellhäutiger Mischling, später Weltmeister mit Brasilien, rieb sich 1963 als 19-Jähriger bei seinem ersten Spiel für Fluminense mit Reisstaub ein, um nicht aufzufallen. Die Zuschauer bemerkten diesen Trick jedoch sofort und brüllten „po-de-arroz, po-de-arroz“. Bis heute trägt der Verein den Beinamen „Reisstaub“.
Mythos Fla-Flu
Wenn von Fla-Flu gesprochen wird, ist auch der Name des Sportjournalisten Mario Filho allgegenwärtig. Auch wenn er wohl nicht, wie häufig kolportiert, der Erfinder dieses Kürzels war. Doch seine Verdienste um die Popularisierung und den Mythos von Fla-Flu sind beeindruckend. Filho war ein Fußballintellektueller, ein Visionär, der alte Denkgebäude über den zeitgenössischen Fußball zum Einstürzen brachte. Auch seinem Enthusiasmus ist es zu verdanken, dass der brasilianische Fußball zu einem Massenphänomen in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts wurde. Das Massenmedium Zeitung war sein wirkungsvollstes Instrument. Seine Sprache war lebendig und bildreich und die Schlagzeile manchmal gar eine politische Waffe, um sich bei den Oberen Gehör zu verschaffen.
Mário Rodrigues Filho wurde am 3. Juni 1908 in Recife, im nordöstlichen Bundesstaat Pernambuco geboren. Sein journalistischer Weg war familiär vorgezeichnet. Sein Vater Mario Rodrigues war Berichterstatter beim Diário de Pernambuco. Nach der Wahl des Vaters ins Bundesparlament siedelte die Familie 1912 nach Rio de Janeiro, die damalige Hauptstadt Brasiliens um. Mit zehn Jahren lernte er erstmalig die emotionale Kraft des Fußballs kennen. In jener Zeit war Fußball der Sport der weißen brasilianischen Oberschicht. Ein englischer Import, der den Gentlemen vorbehalten, sachlich und nüchtern auf den Fußballplätzen herunter gespielt wurde. Als der brasilianische Nationalspieler Artur Friedenreich 1919 im längsten Finale der Copa America den vielumjubelten Siegtreffer gegen Uruguay in der Verlängerung erzielte, wurde Filho vom Virus des schönen Fußballs angesteckt. Friedenreich, Sohn eines deutschen Vaters und einer afro-brasilianischen Mutter, der bisher aufgrund seiner dunklen Hautfarbe vielerorts auf Ressentiments gestoßen war, allerdings mit seiner Art des Spiels, die sich durch elegante Finten und bis dahin unbekannte angeschnittene Schüsse auszeichnete, wurde nun zum Volkshelden.
Karriere im Sportjournalismus
An seiner Spielweise begeisterte sich eine ganze Nation und auch Mario Filho. Fußball, so wurde schlagartig klar, konnte auch trickreich, artistisch und leicht sein. Allein Friedenreich war es zu verdanken, dass sich Mario Filho fortan für einen vermeintlich schöneren Fußball zu begeistern begann, was ihn zum Schreiben über das Spiel animierte. Seine ersten Sporen als Reporter verdiente er sich bis 1926 bei der Tageszeitung A Manhã, die mittlerweile im Besitz seines Vaters war. In einer anderen Zeitung, Critica, die ebenfalls dem Vater gehörte, revolutionierte er die Berichterstattung, indem er ausschweifend und detailliert über die Spiele und auch die Spieler berichtete. Nach dem Tod seines Vaters begann er sich noch stärker der Sportberichterstattung zu widmen. 1931 gründete er mit dem O Mundo Sportivo die erste reine Sportzeitung Brasiliens, deren Existenz allerdings nur von kurzer Dauer war. Schon 1931 arbeitete er für die große Tageszeitung O Globo, um dann 1936 das berühmte Jornal dos Sports zu leiten.
Gerade die gesellschaftlichen Bezüge des Fußballs und seiner Protagonisten interessierten Filho besonders. Es waren vor allem die schwarzen Fußballer, denen sich Mario Filho zuwandte, über die er leidenschaftlich berichtete, die er berühmt und zu Integrationsfiguren der brasilianischen Gesellschaft machte. Als zentraler Treffpunkt fungierte in Rio das Café Nice. Neben Musikern, Tänzern und der gesellschaftlichen Bohéme gehörten zunehmend schwarze Fußballer zu den Gästen, die Filho dort interviewte und in seinen Kolumnen und Kommentaren der interessierten Öffentlichkeit vorstellte. Schwarze Spieler wie Leónidas da Silva, Fausto, Jaguaré oder Domingos da Guia, deren Karrieren vor 1918 in der Nationalmannschaft unvorstellbar waren, wurden mit ihren Fußballkünsten von Filho besonders hervorgehoben und erlangten so eine breite Bekanntheit.
Der Wunsch nach mehr Spektakel
In seinem 1947 erschienenen Werk O negro no futebol brasieiro („Der Neger im brasilianischen Fußball“) schilderte er den Aufstieg der ersten schwarzen Stars des brasilianischen Fußballs. Während er sich in seinen Anfangsjahren sklavisch an der althergebrachten, sachlich-minimalistischen Berichterstattung über Fußball orientierte, merkte er schnell, dass der brasilianische Fußball mehr verdient hatte. Er wünschte sich mehr Spektakel, mehr Rhythmus, so wie der Samba die Brasilianer begeisterte. Die Fankultur sollte typischer Ausdruck dieser Melange aus Spielwitz und Tanz werden. Radikal veränderte er die Berichterstattung über den brasilianischen Fußball. Die Reportagen gewannen an Metaphern und Dramaturgie, die er teilweise der an Bildern reichen Sprache der Fans entlieh.
Auch das Derby zwischen Flamengo und Fluminense wurde revolutioniert. Fla-Flu sollte nun zu einem Markenzeichen werden, aus dem der gewiefte Filho für seine Zeitung Kapital zu schlagen wusste. Die Fla-Flu-Berichterstattung wurde in all ihren nur möglichen Details, vor und nach dem Spiel, breit und facettenreich ausgestaltet. Die Texte nahmen mal poetische Züge an, mal waren sie temporeiche Kabinettstücke. Unterhaltung wurde zu einem ernsthaften Grundsatz. Neu war auch ein Blick hinter die Kulissen. Die Präsidien der Klubs wurden in das Spektrum der Berichterstattung mit einbezogen. Die schnöden Spielberichte der Vergangenheit wurden abgelöst von bunten Reportagen und geistreichen Essays, angereichert mit einer Vielzahl kunstvoller Zeichnungen von Spielern und ihren Spielzügen. Mit diesen bahnbrechenden Veränderungen war es für den cleveren Filho leicht, eine breite Leserschaft anzulocken, dauerhaft in den Bann zu schlagen und das Jornal dos Sports auf diese Weise optimal zu vermarkten.
Den Sohn nicht erwürgt
Die erste Begegnung der beiden Stadtrivalen Flamengo und Fluminense fand bereits im Jahre 1912 statt. Fluminense siegte mit 3:2. Nur Monate vorher waren neun Spieler nach einem Streit bei Fluminense ausgetreten und hatten sich dem Ruderclub Flamengo angeschlossen und dort eine Fußballabteilung gegründet. Der Schriftsteller Eduardo Galeano schrieb über diesen Gründungsakt: „Bald schon bedauerte es der Vater, dass er diesen frechen Sohn nicht gleich in der Wiege erwürgt hatte, doch da war nichts mehr zu machen: Fluminense hatte seinen eigenen Fluch zur Welt gebracht, und das Unglück war nicht mehr aufzuhalten.“
Eines der denkwürdigsten Derbys ereignete sich 1941, als die Spieler von Fluminense den Ball immer und immer wieder aus dem Flamengo-Stadion in die nahe liegende Lagune droschen, um ihren knappen Vorsprung über die Zeit zu retten. Fla-Flu ist bis heute ein Duell der Gegensätze. Fluminense der Verein der Oberschicht, Flamengo, der Verein des Volkes, Identifikationsobjekt der einfachen Leute. Wenn Flamengo verliert, spotten die Fans des Gegners regelmäßig mit „Silencio na favela!“ – „In den Slums herrscht Ruhe!“ Auch die Spielweise der beiden Teams unterscheidet sich grundlegend. Während Flamengo Samba-Fußball und Spielfreude symbolisiert, bei dem o jogo bonito, das schöne Spiel, im Vordergrund steht, ist Fluminense durch eine pragmatische Spielweise bekannt. In der Klubhymne rühmt sich der Verein mit dem Satz: „Fluminense fasziniert durch seine Disziplin“. Insgesamt soll es bisher über 370 Begegnungen gegeneinander gegeben haben. Flamengo liegt in der Statistik des Derbys nur minimal vorn. Die Titelsammlung ist nahezu ausgeglichen, was man an den gewonnenen Staatsmeisterschaften von Rio de Janeiro ablesen kann. Mit einem Triumph führt Flamengo hier bei 32 Meisterschaften gegenüber Fluminense.
Das größte Stadion der Welt
Neben Fla-Flu widmete sich Mario Filho auch der Schaffung eines neuen Großstadions für Rio de Janeiro aus Anlass der bevorstehenden Fußball-Weltmeisterschaft in Rio 1950. Drei Jahre vor der WM wollte der einflussreiche Stadtrat Carlos Lecerda ein Stadion an der westlichen Peripherie der Stadt errichten, was Filho nicht einleuchtete. Er bevorzugte einen Stadionbau im Stadtteil Maracanã, nördlich des Stadtzentrums, auf einem verwaisten Gelände der Pferderennbahn des Derby Clube. Sein politischer Widersacher versuchte mit Kampagnen die Öffentlichkeit für seine Pläne zu gewinnen. Filho nutzte jedoch die Macht des Jornal dos Sports um letztlich den Standort Maracanã mit überzeugenden Artikeln und Schlagzeilen populär zu machen, was die kommunalen Entscheidungsträger letztlich zur Einsicht bewegte. Der Name Maracanã wurde fortan zum Mythos des brasilianischen Fußballs und ein Symbol in aller Welt. Es war das größte Stadion der Welt, das fast 200.000 Besucher fassen konnte. So wie an jenem 15. Dezember 1963, als das Fla-Flu-Derby mit einer Rekordkulisse als Clàssico das Multidoes, Klassiker der Massen, in die Geschichtsbücher einging. Am Ende gingen die Zuschauer allerdings enttäuscht nach Hause. Obwohl die Stimmung wie immer prächtig war, hatten sich die Rivalen an diesem Dezembertag nur 0:0 getrennt.
Mario Filho starb am 17. September 1966 im Alter von 58 Jahren an einem Herzinfarkt in seiner Wahl-Heimat Rio de Janeiro. Aufgrund seiner Verdienste um den Fußball in Rio erhielt das Maracanã-Stadion seinen Namen. Das Stadion, in dem bei dieser WM das Finale ausgetragen wird und von dem von seinem ursprünglichen Charme leider nur noch so wenig übrig ist, heißt seit 1966 offiziell Estadio Jornalista Mario Filho. Kann es ein schöneres Denkmal für einen Fußball-Verliebten wie Mario Filho geben?