Enteignet und in die Slums vertrieben – der argentinische Erstliga-Klub San Lorenzo verlor vor 36 Jahren seine Heimat. Jetzt sammeln Fans Geld für ein neues Stadion an alter Stelle.
Eduardo Otero, Sie sind Fan von San Lorenzo und haben ein Crowdfunding ins Leben gerufen, um den Verein nach Hause zu holen. Haben Sie auch schon einen Quadratmeter des Grundstückes für das neue Stadion gekauft?
Selbstverständlich! Fast jeder Lorenzo-Fan hat das.
Wie kamen Sie auf die Idee, selbst Spenden zu sammeln?
Ich lebe seit vier Jahren in London und wollte auch den Menschen in Europa die Sache ans Herz legen. Es gibt ein ganz ähnliches Projekt in Argentinien, das mich inspiriert hat. Da sammeln die Menschen schon lange für San Lorenzo. Jeder Quadratmeter kostet etwa 160 Euro, das ist eine Menge für einen durchschnittlichen Argentinier, aber das ist es uns wert. Es geht schließlich darum, nach Hause zurückzukehren.
Zuhause – das ist Boedo, ein Stadtteil von Buenos Aires. 1979 verloren der Verein und seine Fans dort ihr Stadion. Wie konnte das passieren?
Während der Militärdiktatur in den späten siebziger und frühen achtziger Jahren litt Argentinien unter einer politischen und wirtschaftlichen Krise. San Lorenzo ging es in dieser Zeit finanziell sehr schlecht, was die Regierung zum Anlass nahm, den Verein zu enteignen und das alte Gasómetro-Stadion in Boedo abzureißen. Und das alles unter dem Vorwand, das Gebiet reurbanisieren zu wollen, also neue Straßen und Wohnblöcke zu bauen. Dagegen konnte sich der Verein nicht wehren. Man muss dazu sagen, dass das Gasómetro seit den Zwanzigern eines der größten Stadien in Buenos Aires war. Sogar die Nationalmannschaft spielte dort. Trotzdem enthielt San Lorenzo nur eine traurige symbolische Summe als Entschädigung.
Sie sprechen von einem Vorwand. Der Plan wurde nie umgesetzt?
Nein, nur zwei Jahre später wurden die rund 35.000 Quadratmeter Land für umgerechnet sieben Millionen Euro an Carrefour weitergereicht, einen französischen Handelskonzern. Die haben auf unserem Boden einen verfluchten Supermarkt gebaut!
Ist der Verein also der Diktatur zum Opfer gefallen?
Meiner Meinung nach ja. Finanziell ging es dem Verein nach dem Umzug zwar besser und im Nuevo Gasómetro stieg er nach kurzer Zeit in der zweiten Liga auch wieder in die Primera División auf. Aber den Grund für den Ortswechsel konnte niemand vergessen. Nicht nur der Verein, sondern gefühlt der ganze Stadtteil wurde übers Ohr gehauen, und der Fußball ist seitdem auf fatale Weise mit der Politik verflochten.
Wie fühlt es sich für einen Fan an, sein Zuhause verloren zu haben?
Ich bin viel zu jung, um dabei gewesen zu sein, aber der Großvater eines Freundes hat oft vom alten Stadion erzählt. Die Menschen haben sich damals gefühlt, als habe man ihnen etwas Wertvolles weggenommen, als habe man ihnen einen Teil der Heimat gestohlen. Und heimatlos fühlen wir uns noch heute. Die Vereine in Buenos Aires sind so tief in ihrem jeweiligen Stadtteil verwurzelt, dass er einen großen Teil ihrer Identität ausmacht. Es geht mir als Fan ja längst nicht nur um das Spiel an sich. Es geht darum, mein Viertel zu repräsentieren und voller Stolz mein Trikot zu den Spielen auszuführen. Wir „cuervos“ – so nennen wir uns traditionell – sind wie eine große Familie.
Der soziale Aspekt wiegt also fast schwerer als der sportliche?
Zumindest ist er ebenso wichtig. Zum alten Gasómetro gehörten auch ein Schwimmbad und eine Turnhalle, es gab Tanzstunden und den Tango, der in der Identifikation der Einwohner mit ihrem Stadtteil mindestens genauso bedeutend ist wie der Fußball. Seit Jahren wird deshalb auch versucht, das Vereinsleben aufrechtzuerhalten. Da gibt es immer noch dieses kleine Vereinsgebäude neben dem Supermarkt, wo die Menschen aus Boedo versuchen, gegen den Verlust ihrer Identität anzutanzen.
Wo trug die Mannschaft seit 1979 ihre Spiele aus?
Ganze 14 Jahre lang hatte San Lorenzo kein eigenes Stadion. Jedes Spiel fand an einem anderen Ort statt, und der Verein musste immer Miete zahlen. Die Stadtviertel in Buenos Aires sind so unterschiedlich, dass man sie fast mit eigenständigen Städten vergleichen kann, so war jedes Spiel auf gewisse Weise ein Auswärtsspiel. Da gibt es extreme soziale Unterschiede und tief verankerte Feindschaften, man muss sich nur mal River Plate und Boca Juniors anschauen. Aber weder der Verein noch die Fans hatten eine Chance, sich dagegen zu wehren, viel zu groß war die Angst vor dem Militärregime.
Sie sprechen von 14 Jahren, was passierte 1993?
Es wurde entschieden, endlich ein neues Stadion zu bauen, das konnte ja auch so nicht weitergehen! Das Nuevo Gasómetro ist ein schönes Stadion, keine Frage. Es ist auch nur 30 Blöcke vom alten Stadion entfernt, aber es liegt in Nueva Pompeya, direkt hinter einer villa – einem Slum. Ein ungeliebtes Stadion mitten im Elendsviertel. Dort herrscht Gewalt, den Jugendspielern werden auf dem Weg zum Training auch schon mal ihre Sachen geklaut. Die Fans haben regelrecht Angst, dort hinzufahren. Der Verein hat sogar schon darum gebeten, seine Spiele tagsüber austragen zu dürfen, weil niemand im Dunkeln durch die Gegend laufen möchte. 45.000 Besucher passen ins Stadion, aber ausverkauft ist es nie, deshalb gibt es auch nie eine typische Heimkulisse. So ist das Gefühl ständiger Auswärtsspiele nicht verschwunden. Und Auswärtsfans gibt es ja auch keine, das wurde vor kurzem verboten.
Ein Stadion ist wie ein Tempel für Verein und Fans. Hat das neue diesen Status jemals erreicht?
Richtig, ein Stadion ist fast etwas Heiliges. So nennen wir auch das alte Gasómetro: „tierra santa“ – heiliger Boden. Das neue Stadion empfinden wir nicht als unser Stadion. Allein die Tatsache, dass wir nur unter Zwang dahin auswichen, macht es uns unmöglich, uns dort wirklich wohlzufühlen. Außerdem müssen wir auf dem Weg dorthin immer auch am Carrefour-Supermarkt vorbei, der jetzt auf unserem Boden steht, das macht das Stadion zu einem Monument des Spotts. Etwas Heiliges hat es nie bekommen.
Kaufen Sie überhaupt im Supermarkt ein?
Nein, denn der verhöhnt uns einmal mehr. Ein kurioser Zufall will es darüber hinaus noch, dass das Emblem des Supermarktes die Farben rot und blau hat – unsere Vereinsfarben. Da kann ich doch nicht reingehen! Sie empfinden das vielleicht als albern, aber stellen Sie sich mal folgendes Szenario vor: Dortmund wird enteignet, das Westfalenstadion wird platt gemacht, und von nun an muss nicht nur die Mannschaft auf Schalke spielen, sondern den Fans wird auch noch tagtäglich Veltins vorgesetzt. Würden Sie es trinken?
Hat sich die Fankultur dadurch über die Jahre verändert?
Nur was die Unterstützung im Stadion betrifft. Dass die Leute viel seltener zu den Spielen gehen, heißt ja nicht, dass sie nicht mit genauso viel Herzblut die Mannschaft unterstützen wie früher. Man hat uns zwar einen Teil unserer Identität gestohlen, aber diese Loyalität hält ein Leben lang, das können ein Militärregime und ein ungeliebtes Stadion nicht mal eben so zerstören. San Lorenzo hatte schon immer sehr viele friedliche Fans. Auch wir haben Probleme mit Gewalt und Hooligans, es gab oft Ausschreitungen beim Derby gegen Huracán. Mit dem Superclásico ist das aber nicht vergleichbar. Die gewaltliebenden Fans repräsentieren nicht die Mehrheit der Sanlorencistas. Wir sehen uns die Spiele mit unseren Familien an und singen viel – oh ja, bei uns wird besonders viel und kreativ gesungen! Wir versuchen uns da von der Politik freizumachen, die unseren Verein leider seit Jahren beherrscht. Wir sind einfach nur verrückt nach Fußball, und daran hat sich seit 1979 nichts geändert. Wir sind höchstens noch ein bisschen verrückter geworden.
Inwiefern?
Vor einigen Jahren begannen Fans, die Mauern in Boedo mit Bildern aus der Vereinsgeschichte zu besprühen, um unserem Stadtteil mehr Farbe zu verleihen, aber auch, um den Verein zurückzubringen. Und dann ist da ja auch unser Traum von einem neuen Stadion auf heiligem Boden.
Ein Traum, der schon bald Wirklichkeit werden könnte.
Endlich! Vor drei Jahren wurde per Gesetzesbeschluss entschieden, dass der Verein das Grundstück von Carrefour zurückkaufen darf. Dafür mussten aber erst mal 100.000 Leute auf die Straße gehen. Die größte sportliche Demonstration Südamerikas! Aus allen Ecken kamen sie, an einem Donnerstagabend, es sah aus, als würden sie den Weltmeistertitel feiern. Mittlerweile haben fast alle Sanlorencistas ihren Quadratmeter gekauft, und ein Teil des Geldes ist sogar schon abbezahlt.
Stimmt es, dass das neue Stadion nach dem Papst benannt werden soll?
Ja, er ist wohl der berühmteste Anhänger der „cuervos“. Ob das nun für ein Fußballstadion so angebracht ist – daran scheiden sich die Geister.
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Wer Eduardo Otero und seine Mitstreiter unterstützen will bzw. sich weiter informieren will, wird auf der Facebook-Seite und dem Crowdfunding-Auftritt fündig!