Unser Autor, Milan-Fan, wollte immer mal zum Derby nach Mailand reisen. Nun war er da, staunte und weinte nicht. Dabei hätte er allen Grund dazu.
Kurz nach dem Halbzeitpfiff ist es merkwürdig still im Stadio San Siro. Zlatan Ibrahimovic hatte vor wenigen Sekunden das 2:0 geköpft. Für Milan. Gegen Inter. Im 225. „Derby della Madonnina“. Das hat nicht nur die 75.817 Fans, sondern auch – wie sich später herausstellen sollte – einige Spieler, ein wenig überrascht.
Wer in diesen Momenten in die Curva Nord, zu den Inter-Ultras sieht, schaut in verdatterte Gesichter. Sie gestikulieren viel, zucken mit den Schultern, rätseln über Inters wahrscheinlich schlechteste erste Halbzeit der Saison. Dabei hatte Tabellenführer Juventus Turin einen Tag zuvor gegen Aufsteiger Hellas Verona verloren. Inter Mailand will dieses Jahr unbedingt die italienische Meisterschaft, den Scudetto, gewinnen und hat heute Abend die Riesenchance, mit den Rivalen aus Turin gleichzuziehen.
Wer es in diesem Moment, wie ich, mit Milan hält und nicht völlig glücksbesoffen ist, hat ein dumpfes Gefühl im Magen. Einen schweren und schlimmen Verdacht, einen dunklen Gedanken, der sich ausbreitet und der sich wie ein Schatten auf ein helles Gefühl legt. Einen Gedanken, der das, was die Rossoneri in der ersten Halbzeit geboten hatten, hinterfragt: Ist das hier nicht vielleicht doch zu schön um wahr zu sein?
Noch 15 Minuten, dann wird das Spiel wieder beginnen. 2:0 Milan! 15 Minuten, um das hier zu genießen. Und um in Erinnerung zu schwelgen.
Vor etwa 15 Jahren war der AC Mailand noch eine große Mannschaft, eine der Besten der Welt. Auf Facebook oder Instagram posten Fußballaccounts in regelmäßigen Abständen ein Bild der Spieler: Kakà, Nesta, Shevchenko, Inzaghi, Pirlo, Gattuso, Seedorf, Maldini. In den Kommentaren zollen Menschen aus aller Welt und auf den unterschiedlichsten Sprachen Respekt: „Was für eine Mannschaft!“, schreiben sie. Das Schöne: Das war meine Mannschaft!
Der Haken: Zu diesem Zeitpunkt war ich 12, 13 Jahre alt. Mit 12, 13 Jahren reist man nicht mal eben zu einem Fußballspiel, weil man ahnt, wie vergänglich Erfolge sind. Mit 12, 13 Jahren denkt man, Superhelden in Fußballtrikots sind unbesiegbar und leben für immer. Man reist nicht einfach nach Mailand zu einem Derby, auch wenn man das gerne würde. Man sitzt in einer norddeutschen Stadt über 1000 Kilometer entfernt auf einem Sofa, lauscht den Gesängen der Milan-Fans und summt schüchtern mit: „Siam’ venuti fin qua per vedere segnare Kakà“. Wir kamen her, um Kakà treffen zu sehen. Ich träumte früh davon, eines Tages nach Mailand zu reisen. Ich nahm es mir vor, wie andere Menschen sich vornehmen einmal im Leben den Taj Mahal zu besichtigen. Und es sollte das schönste aller Spiele sein, das Derby.
San Siro, etwa 15 Jahre zu spät: Menschenmassen in blau und in rot schrauben sich die Türme hinauf. Kaum jemand nutzt die Treppen innerhalb der Türme, den deutlich schnelleren und auch weniger beschwerlichen Weg. Sie laufen lieber im Kreis, als gehöre es wie ein festes Ritual zum Stadionbesuch dazu. Oben angekommen stellt sich schwindelig die Frage: Ist das noch ein Stadion? Oder doch eher ein Tempel, ein Theater der Träume?
San Siro soll bald abgerissen werden. Und wer sich fragt warum, sollte die Toiletten ganz oben, im „terzo anello“ besuchen. Fünf Pissoirs, bröckelnder Putz. Mehrere Blöcke über den Kurven sind diese Saison für Zuschauer gesperrt, weil es dort bedrohlich vibriere. Das Stadio San Siro liegt auf dem Sterbebett. Auch deshalb bin ich hier: Um mich zu verabschieden, bevor es zu spät ist.
Das Mailänder Derby ist besonders. Vielleicht die vibrierendste Verbindung zwischen der Stadt und ihren Bewohnern. Wer am Derby-Tag durch die Innenstadt spaziert und den Gesprächen lauscht, hört am Häufigsten Satzfetzen wie: „Lukaku wird euch heute vernichten!“ und „Buongiorno, habt ihr schon Angst vor Ibrahimovic?“. Alle spüren, dass es um viel geht.
Wir gehen auf unsere Plätze, fast vor Vorfreude platzend, viel zu früh an diesem Abend. Aber San Siro spielt mit der Zeit, kann sie raffen, wenn man sich den Gefühlen hingibt, zwei Stunden kommen einem vor wie zwei Minuten und schwups ist es zu schnell 20:40 Uhr und die Vorstellung beginnt.
Mit etwas Lustigem, denn die Milan-Fans zücken während einer Lichtshow ihre Smartphones, nutzen die Taschenlampen-Funktion und bringen ein gigantisches „Inter Merda“ zum leuchten. Die Inter-Fans quittieren dies erbost mit Pfiffen. Wie erwartet werden sich die Kurvenpoeten 90 Minuten lang necken. Die Curva Sud, die Milan-Fans, kritisieren auf Bannern die Kommerzialisierung von Inter und den chinesischen Klubbesitzer. Woraufhin die Curva Nord ein Banner entrollt, auf dem steht: „Meglio un presidente cinese di uno che non arriva a fine mese“, besser ein chinesischer Präsident, als einer, der es nicht bis ans Monatsende schafft.
Alle beleidigt, das Derby kann beginnen. Und wider Erwarten macht Milan das Spiel. Rebic, Calhanoglu und Ibra kombinieren, dominieren, machen Übersteiger, ziehen an Gegnern vorbei und die Milan-Fans jagen verwundert der Illusion nach, dass dort unten eine starke Mannschaft spielt. Es funktioniert sogar. Bis zur Halbzeit.
In der zweiten Spielhälfte verpufft die Illusion wie der rote Rauch, den die Curva Sud herbeigezündelt hatte und der sich nun über dem Stadion verliert. Inter spielt auf, 2:4. Die Curva Nord springt, die Milanisti verlassen schnell San Siro und ich bleibe sitzen und weiß nicht so recht, ob ich jetzt weinen sollte.
Machen wir uns nichts vor: Der AC Mailand ist Mittelmaß. Statt Kakà spielt Paquetà, die Champions League ist ferner denn je und welchem Fonds gehört nochmal der Verein, welches Projekt steht dahinter? Gibt es eins? Das Derby liefert Grund genug, um in Tränen auszubrechen, um wahnsinnig zu werden angesichts der vertrackten Lage eines ehemals großen Vereins. Und es lässt den Zweifel aufkommen, ob Milan jemals wieder wirklich wichtig werden wird.
Oder aber, es wirft eine ganz andere Frage auf, die an diesem Abend in der Halbzeitpause in der Luft liegt: Was, wenn in Erinnerung schwelgen schöner ist, als auf bessere Zeiten hoffen?