Sir Alex Ferguson wird heute 80 Jahre alt. Sein Biograf Patrick Barclay porträtiert den grimmigen Schotten mit der unerbittlichen Persönlichkeit und zeichnet seinen Weg an die Spitze des europäischen Fußballs nach.
Dieser Text erschien erstmals in 11FREUNDE #123 anlässlich des 70. Geburtstag von Sir Alex Ferguson. Die Ausgabe ist hier im Shop erhältlich.
Die entscheidenden drei Minuten seiner Karriere erlebte Alex Ferguson an einem späten Abend im Mai in Barcelona, als die unbegreifliche Schlussphase des Champions-League-Finals zwischen Bayern München und Manchester United nicht nur die Anhänger beider Mannschaften, sondern auch Ferguson selbst beinahe sprachlos machte. Als ein Fernsehreporter ihn im Augenblick des Triumphs zu fassen bekam, sagte der Trainer jenen Satz, der zu seinem berühmtesten werden sollte: „Football“, sinnierte er, „bloody hell!“ Fußball, verdammte Hölle!
Die Anzeigetagel zeigte: noch drei Minuten
Aus Bayern-Sicht war das noch milde ausgedrückt. Der deutsche Meister war durch ein Freistoßtor von Mario Basler früh in Führung gegangen, und bis Mitte der zweiten Halbzeit sah es nie danach aus, als sollte sich das Blatt noch wenden. Mit dem Schachzug, Mehmet Scholl im Mittelfeld neben Stefan Effenberg aufzubieten, schien Ottmar Hitzfeld seinen englischen Widersacher ausgetrickst zu haben. Scholl scheiterte einmal am Pfosten, Carsten Jancker an der Latte und ihre Kollegen gleich mehrfach an Manchesters dänischem Keeper Peter Schmeichel, der fast im Alleingang dafür sorgte, dass seine Mannschaft nach 90 Minuten mit nur einem Tor zurücklag.
Auf der Anzeigetafel, die der vierte Offizielle hochhielt, leuchtete eine „3“ auf. In der ersten dieser drei Minuten sprintete Schmeichel bei einer Ecke über das gesamte Feld und sorgte für Verwirrung im gegnerischen Strafraum, was der eingewechselte Teddy Sheringham zum Ausgleich nutzte. Angesichts der Reaktion der 50 000 United-Fans hätte man meinen können, Fergusons Team hätte soeben das Spiel gewonnen. Aber auch die Bayern schienen das Unheil bereits zu ahnen. Kaum hatten sie sich aus ihrer Schockstarre gelöst, zappelte der Ball erneut hinter Oliver Kahn im Netz, diesmal hineingestochert von Fergusons zweitem Joker, Ole Gunnar Solskjær.
Noch nie hatte ein Finale eine so dramatische Wendung genommen. United-Verteidiger Gary Neville bezeichnete die Schlussphase anschließend als „übernatürlich“, und niemand mochte ihm widersprechen. Als Ferguson das Spiel später analysierte, hatte er indes eine weitaus nüchternere Erklärung parat: Hitzfeld hätte keineswegs die bessere Taktik gewählt und das Pech gehabt, dass sich Fergusons panische Auswechslungen bezahlt machten. Vielmehr hätten die Bayern nach der Herausnahme von Lothar Matthäus buchstäblich ihren Kopf und dadurch Organisation und Übersicht bei der folgenschweren Ecke in der Nachspielzeit verloren.
„Macht und Kontrolle“
Genie wird bisweilen als die unbegrenzte Bereitschaft definiert, alle Mühen auf sich zu nehmen, und Fergusons Detailversessenheit ist wirklich legendär. Seit seiner Zeit als Spieler beim schottischen Klub Dunfermline Athletic, der in den Sechzigern beachtliche Erfolge auf europäischer Bühne feierte, beschäftigt Ferguson sich mit sämtlichen Aspekten des Fußballs und bedient sich seines außerordentlichen, Freunden zufolge „fotografischen“ Gedächtnisses, um Informationen über Spieler, Systeme und dergleichen zu speichern. Doch hinter seinen Erfolgen steckt noch mehr. Seine grimmige Entschlossenheit geht mit einer Persönlichkeit einher, die als die unerbittlichste im britischen Fußball gilt – was er selbst keineswegs leugnet. Im Gegenteil nennt er „Macht und Kontrolle“ als seine wichtigsten Werkzeuge. Und auch mit 70 Jahren macht er keineswegs den Eindruck, altersmilde zu werden.
Es sind die immer neuen Herausforderungen seines Jobs, die Ferguson nach wie vor antreiben. Schon vor der Niederlage im letztjährigen Champions-League-Finale gegen den FC Barcelona – eine Vorführung, die so manchen altgedienten Trainer dazu gebracht hätte, sich zur Ruhe zu setzen – plante er, eine neue, junge Mannschaft aufzubauen. Ihr Scheitern in der diesjährigen Gruppenphase wird ihn nur noch mehr motivieren. Und auf einmal lohnt es sich sogar, für den Gewinn der Europa League zu kämpfen.
Ferguson hätte bereits 1999, nach dem bis dahin in England unerreichten Triple aus Champions League, Meisterschaft und Pokal, zurücktreten können. Mit dem fünften Premier-League-Titel und nun dem Europapokal hatte er es damals einem seiner Vorgänger im Old Trafford, dem legendären Matt Busby, gleichgetan und war in die Riege der erfolgreichsten Trainer auf der Insel aufgestiegen. Er hätte sich auf seinen Lorbeeren inklusive Ritterschlag ausruhen können, doch das alles kam für Sir Alex nicht in Frage. Nicht, solange es Herausforderer gab, die Anspruch auf seinen Thron erhoben.
Zunächst wehrte er die Angriffe von Arsene Wengers glänzendem Kurzpassensemble FC Arsenal ab, dann wies er José Mourinho und seine gut geölte Kampfmaschine FC Chelsea in die Schranken. Bis heute sind so weitere acht Meistertitel und ein Europapokal dazugekommen, und als im November 2011 sein 25. Jubiläum in Old Trafford begangen wurde, hatte Ferguson sich längst als einer der größten Trainer aller Zeiten etabliert.
Das Erstaunliche ist, dass Ferguson selbst dann auf eine mehr als beachtliche Karriere zurückblicken könnte, wenn er Schottland niemals verlassen hätte. Immerhin hatte er den kleinen FC Aberdeen zu drei schottischen Meisterschaften und im Pokalsiegerwettbewerb der Saison 1982/83 zu einem grandiosen Finalsieg gegen Real Madrid geführt. Auf dem Weg ins Endspiel hatten die Schotten übrigens auch Bayern München ausgeschaltet.
Simple Verhältnisse in Schottland
Ferguson hatte das Glück, in Schottland aufzuwachsen, für einen Jungen wie ihn hätte es keinen besseren Ort geben können. Als Sohn eines Werftarbeiters kam er am letzten Tag des Jahres 1941 in Govan bei Glasgow zur Welt. Der Zweite Weltkrieg tobte noch, doch die Deutschen hatten ihre Luftangriffe auf die nahe gelegenen Werftanlagen und Fabriken eingestellt. Govan war damals ein blühendes Industriezentrum, und der Lärm der Fabriken war Tag und Nacht zu hören. Nach dem Krieg erlebte die Stadt allerdings einen schleichenden Niedergang. Die Werften wurden nach und nach stillgelegt, dennoch erlebten Alex und sein ein Jahr jüngerer Bruder Martin eine glückliche Kindheit. Die Familie bewohnte ein Apartment in einem der damals für Schottland typischen Sandstein-Wohnblöcke. Die Brüder teilten sich eines der beiden Schlafzimmer, ihre Eltern das andere. Es gab eine Toilette, doch die Badewanne musste im Wohnzimmer benutzt werden. Einmal in der Woche wurden die Jungen saubergeschrubbt. Ihre Eltern gaben ihnen einfache Prinzipien mit auf den Weg, die Ferguson viele Jahre später als „die traditionellen Werte der Arbeiterklasse“ beschrieb: „Disziplin, gute Manieren, Ehrlichkeit, Anständigkeit“. Seinen Vater bezeichnete er als „redlichen Mann“, zu dessen Lieblingssprüchen die Weisheit zählte: „Wenn etwas wert ist, getan zu werden, dann ist es auch wert, gut getan zu werden.“
„Letztendlich bist du das, was deine Eltern waren.“
Wenn Alex und Martin von der Schule heimkehrten, waren ihre Eltern meistens bei der Arbeit, aber oftmals war die Tür unverschlossen und sie fanden die Nachricht eines Nachbarn, der sich Tee oder Zucker geborgt hatte. Eine weniger beschauliche Seite der Gesellschaft, in der die beiden aufwuchsen, waren die religiösen Spannungen zwischen Katholiken und der protestantischen Mehrheit. Die Fergusons standen darüber: Der Vater von Alex war Katholik, seine Mutter Protestantin. Alex selbst wurde protestantisch erzogen, sollte später aber eine Katholikin heiraten.
In seiner Autobiografie „Managing My Life“, die wenige Monate nach dem Sieg in Barcelona erschien, schrieb Ferguson: „Letztendlich bist du das, was deine Eltern waren.“ Sein Vater neigte zu Wutausbrüchen, seine Mutter war stark, „unser Fels“. Beide Charakterzüge treffen auch auf Alex zu, Fairness und gute Manieren blieben indes hin und wieder auf der Strecke.
Der Fußball spielte stets eine zentrale Rolle in seinem Leben. Samstags ging er mit Martin in den Ibrox Park, um die Rangers, traditionell der Klub der Protestanten, spielen zu sehen. Daheim malte er sich dann aus, für die Blauen zu stürmen und Tore zu erzielen. Er kickte auf der Straße, wie es Jungs damals eben taten. Er spielte für seine Schule und die Mannschaften gemeinnütziger Jugendorganisationen, denen er und Martin auf Betreiben ihrer Eltern hin beitraten. Gelegentlich gerieten die beiden dennoch in Prügeleien, was angesichts der vielen Gangs in der Gegend kaum zu vermeiden war.
Nach der Schulzeit fing Alex eine Maschinenbaulehre an, schloss sich Glasgows renommiertem Amateurklub Queen’s Park an und war nicht ganz 17 Jahre alt, als er beim Gastspiel in Stranraer für die erste Mannschaft debütierte und bei der 1:2‑Niederlage gleich ein Tor erzielte. Seine nächste Station war St. Johnstone, wo er vier weitere Jahre als Amateur aktiv war, bevor er 1964 bei Dunfermline seinen ersten Profivertrag erhielt. Dort lernte er international erfahrene Spieler kennen und begann, sich intensiv mit den taktischen Aspekten des Spiels zu beschäftigen. Die entsprechende Fachliteratur studierte er stapelweise. Priorität genoss für ihn aber das Toreschießen, und als ihn die Rangers 1967 für die damalige Rekordablösesumme von 65 000 Pfund verpflichteten, erfüllte sich sein Traum, für die Blauen im Ibrox Park aufzulaufen.
Die Freude darüber währte indes nur kurz. Der Trainer, der ihn verpflichtet hatte, wurde gefeuert und mit dessen nun zum Chefcoach beförderten Assistenten kam Ferguson überhaupt nicht klar. Nach zwei enttäuschenden Jahren wechselte er für vier Jahre nach Falkirk, bevor er seine Karriere nach der Saison 1973/74 bei Ayr United beendete. Für die schottische Nationalmannschaft durfte er nicht ein einziges Mal auflaufen. Doch seine große Zeit sollte erst noch kommen.
Erste Station: East Stirlingshire
Fergusons Laufbahn als Trainer begann 1974 wenig glamourös bei East Stirlingshire, wo er für umgerechnet 50 Euro die Woche anheuerte, bevor er nach nur wenigen Monaten ein Angebot von St. Mirren erhielt, das wesentlich größeres Potential besaß. Er führte den Klub in Schottlands höchste Spielklasse und sammelte erste Erfahrungen mit der Ausbildung junger Spieler, was eines der bestimmenden Themen seiner Karriere werden sollte. In Aberdeen etwa hatte Ferguson das Glück, auf viele junge Talente zurückgreifen zu können, darunter die beiden Verteidiger Willie Miller und Alex McLeish, die er 1986 als Nationaltrainer zur WM mitnehmen sollte.
Mit seiner Titelsammlung wuchs auch seine Reputation. Ferguson galt als Siegertyp mit ausgeprägter, bisweilen ziemlich rabiater Persönlichkeit. Die „Hairdryer“-Methode, wie Mark Hughes sie später bezeichnete, kam regelmäßig zum Einsatz. Mittelfeldspieler Billy Stark, den Ferguson zu St. Mirren holte und später nach Aberdeen mitnahm, erinnert sich: „Er baute sich direkt vor einem Spieler auf und stauchte ihn richtig zusammen. Niemand hat es jemals gewagt, ihm Widerworte zu geben.“
Stark, der heute die schottische U 21 betreut, ergänzt: „Das konnte einen schon ziemlich mitnehmen, aber mich machte es zu einem besseren Spieler. Am schlimmsten bekam ich es nach einer 1:3‑Niederlage mit St. Mirren gegen Celtic ab. Celtic bekam damals einen Freistoß im Mittelfeld, ich drehte mich um und trabte zurück. Sie führten schnell aus und spielten den Ball über mich rüber zu einem Gegner, der flankte und schon war der Ball im Netz. Ferguson ist nach dem Spiel ausgerastet. Ich saß in der Ecke und zog mich um, als er plötzlich einen Schuh nach mir warf. Deswegen muss ich immer lachen, wenn die Leute die Geschichte mit Beckham erzählen.“ Beckham musste mit mehreren Stichen über dem Auge genäht werden, Stark trug lediglich eine schmerzende Schulter davon. Die Erinnerung daran ist aber heute noch frisch.
Mehr als nur Wut
„Das war einer der entscheidenden Momente meiner Karriere“, sagt er. „Ich glaube nicht, dass Ferguson so etwas ohne Kalkül macht. Da steckte mehr dahinter als nur Wut. Das war seine Art, Spieler auf die Probe zu stellen und zu schauen, ob sie den Mumm hatten, die Herausforderung anzunehmen. Ich beschloss, es ihm zu zeigen. Ich habe nie wieder dem Ball den Rücken zugekehrt.“
Ein Wutausbruch, der mit Sicherheit nicht gespielt war, ereignete sich im rumänischen Pitesti. Aberdeen war mit einem 3:0 aus dem Hinspiel angereist, lag aber kurz vor der Pause 0:2 hinten. Ferguson hatte vom sonst von ihm bevorzugten 4−4−2 auf ein 4−3−3 umgestellt. Einer der drei Angreifer war Gordon Strachan, der später auch für Ferguson bei Manchester United stürmte und bei der WM 1986 ein Tor gegen Deutschland erzielte. „Das System ist super, wenn man die richtigen Spieler dafür hat“, erinnert er sich. „Aber wir wurden einfach ins kalte Wasser geworfen. Wir hatten das System, wenn überhaupt, einen Tag lang trainiert. Mein Pech war, dass ich auf der Seite spielte, die der Trainerbank am nächsten war.“
Dont’t talk to Ferguson
Ferguson schrie Strachan die ganze Zeit an. „Ich sollte mich mehr zu unserem Mittelstürmer Mark McGhee orientieren, aber ich hatte keine Ahnung, wie ich das anstellen sollte. Kein Witz. Ich wollte nicht aufmüpfig sein, aber hatte so einfach noch nie gespielt. Und dann habe ich etwas echt Dummes gemacht. Einer unserer Spieler sagte immer, man solle sich niemals kurz vor der Pause mit Ferguson anlegen. Als ich ihn anschrie, er solle die Schnauze halten, war mir also klar, dass ich in der Scheiße sitze.“
Die Mannschaft ging vor dem Trainer durch den Kabinengang zur Halbzeitpause. „Als er reinkam, saßen wir bereits mit hängenden Köpfen da. Er ging schweigend auf und ab, bis er schließlich vor mir stehenblieb. Ich spürte, wie die Jungs neben mir von mir abrückten. Dann baute er sich vor mir auf und stauchte mich nach Strich und Faden zusammen. Ich stand auf – nicht aus Trotz, ich musste einfach Luft holen – und er drehte sich weg, wobei er aus Versehen mehrere Becher Tee umkippte. Er sah mich schmunzeln und stieß gleich den ganzen Samowar um. Das Ding war groß und schwer und heiß, das muss also weh getan haben.“ Aberdeen erreichte schließlich noch ein 2:2, wobei Strachan einen Elfmeter verwandelte. „Als ich antrat, dachte ich nur: Wenn du den versiebst, bist du ein toter Mann.“
Ein wichtiger Teil von Fergusons Strategie war es, den Spielern das Gefühl zu geben, unter ständiger Beobachtung zu stehen. „Er war allgegenwärtig“, erinnert sich Billy Stark. „Man spürte förmlich, dass er einen nie aus den Augen ließ. In Aberdeen überließ er die Leitung der Trainingseinheiten seinem Assistenten Archie Knox. Dann tauchte irgendwann sein schwarzer Mercedes auf und bog auf den Parkplatz ein. Manchmal sah er einfach von dort aus zu. Das hatte Methode: Wir wussten, dass er da war, und genau das wollte er. Wir sollten das Gefühl haben, dass ihm nichts entgeht. Dieser Kontrollwahn war ihm schon immer zu eigen.“
Zudem versuchte er, die Schiedsrichter einzuschüchtern und den Spielern einzubläuen, die ganze Welt wäre gegen sie. In Schottland war es angesichts der Übermacht von Celtic und den Rangers noch relativ einfach, seinen Spielern den Status des ewigen Underdogs zu vermitteln. Um den gleichen Effekt bei United zu erzielen, war allerdings eine regelrechte Gehirnwäsche nötig – und trotzdem gelang es Ferguson Jahr für Jahr.
Was Ferguson in Schottland erreicht hat, ist gar nicht hoch genug einzuschätzen. Die Zahlen sprechen für sich: Nur vier der letzten 46 schottischen Meisterschaften gingen nicht an einen der beiden großen Klubs aus Glasgow, an die Rangers oder Celtic. Dreimal gelang dem FC Aberdeen unter Ferguson dieses Kunststück, und auch im Europapokal strahlte die Mannschaft bemerkenswertes Selbstvertrauen aus. Bevor United ihm 1986 ein Angebot machte, das er nicht ablehnen konnte, hatte Ferguson bereits Arsenal und Tottenham einen Korb gegeben.
Die erste Zeit war nicht leicht, doch Ferguson sah keinen Anlass, seine Methoden zu ändern. Auch der Kontrollwahn blieb: Ferguson ließ öffentlich verlautbaren, dass er dankbar für jedwede Information darüber wäre, wo seine Spieler ihr Bier tranken und wie viele. Einige der talentiertesten Spieler von United waren ebenso talentierte Trinker, darunter Bryan Robson, Paul McGrath und Norman Whiteside. Robson lernte, sich zurückzuhalten, McGrath und Whiteside mussten gehen.
Freiheiten für „King Eric“
Es sollte ein paar Monate dauern, bis sich Fergusons Wut erstmals mit aller Macht entlud. United musste bei Tottenham antreten, und weil die Londoner eine starke Saison spielten, machte Ferguson sich die Mühe, ihr Spiel eingehend zu analysieren. Außenverteidiger Arthur Albiston erinnert sich: „Vor der Partie erläuterte er uns ausführlich die Spielweise von Tottenham. Wir sollten vor allem auf die Flanken von Chris Waddle und die Vorstöße von Linksverteidiger Mitchell Thomas achten. Wir verloren 0:4, und Thomas machte zwei Toren nach Flanken von Waddle. Nach dem Spiel hat er sich jeden von uns einzeln vorgenommen, inklusive Bryan Robson.“
Ferguson hatte gelernt, nicht alle Spieler über einen Kamm zu scheren. In Aberdeen hatte er sich auf seinen notorisch trainingsschwachen Innenverteidiger Willie Miller stets verlassen können und ging dementsprechend mit ihm um. Bei United gestand er seinem begnadeten Kapitän Robson etwas mehr Freiheiten zu, ebenso Eric Cantona, dessen Verpflichtung im Herbst 1992 sich als spektakulärer Glücksgriff erwies.
Bis dahin hatte Ferguson nach sechs Jahren mit United zwar den FA Cup und den Europapokal der Pokalsieger gewonnen, aber noch keine Meisterschaft. Der Mannschaft schien ein ganz bestimmtes Element zu fehlen und das erhielt sie in Person von Cantona. Auf Anraten seines Freundes Gerard Houllier, damals Trainer der französischen Nationalmannschaft, holte Ferguson das Enfant terrible für 1,2 Millionen Pfund von Leeds United nach Old Trafford. Leeds hatte ein Jahr zuvor mit Cantona zwar die Meisterschaft gewonnen, doch das Verhältnis des launischen Genies zu Trainer Howard Wilkinson war angespannt geblieben.
Ein Geschenk des Himmels
Für United erwies sich Cantona als ein Geschenk des Himmels. Mit ihm änderte sich alles. In den 17 Spielen vor seiner Ankunft hatte die Mannschaft im Schnitt ein Tor pro Spiel erzielt. Mit Cantona wurden stieg die Quote auf durchschnittlich zwei Treffer, und am Ende feierte United die erste Meisterschaft seit 26 Jahren. Ferguson war nun endgültig unantastbar, er hatte die volle Kontrolle.
Im Falle von Cantona ließ er sie auf subtile Weise walten. Für den Franzosen galten besondere oder eigentlich gar keine Regeln. Als United einmal zu einer Ehrung ins Rathaus der Stadt geladen wurde, ordnete Ferguson Anzug und Krawatte an. Alle Spieler hielten sich daran, außer Cantona, der im Trainingsanzug erschien. Ferguson sagte nichts. Der Franzose war einfach zu wichtig, um sich mit ihm anzulegen.
Auch Roy Keane nahm bei Ferguson eine Sonderstellung ein. „Ich freue mich jedes Mal, wenn ich mich selbst auf dem Platz sehe“, sagte der Trainer einmal über seinen kampfstarken Kapitän. Erst als Keane in die Jahre gekommen war und nicht mehr unersetzlich, schob Ferguson ihn nach einem Interview, in dem Keane einige seiner Mitspieler heftig kritisiert hatte, zu Celtic Glasgow ab.
David Beckham war anders. Er war eines der vielen Talente aus der eigenen Jugend, die bei United die Ära nach Cantona prägten. Beckham kam mit den Neville-Brüdern, Paul Scholes und Nicky Butt in die erste Mannschaft. Alle fünf spielten auch für England und standen stellvertretend für Fergusons Glauben an die Jugend. Beckham war anfangs noch recht pflegeleicht. Das sollte sich aber ändern, als er das Spice Girl und seine spätere Frau Victoria Adams kennenlernte.
Ferguson gegen Victoria Beckham
Ferguson und Victoria konnten sich nicht leiden. Es war, als würden sie David in entgegengesetzte Richtungen zerren, auf der einen Seite seriöses Profitum, auf der anderen Showbusiness und Familie. Als David einmal trainingsfrei bekam, um sich um ein angeblich krankes Kind zu kümmern, wurden die Beckhams auf einer Modenschau in London fotografiert. David flog aus der Mannschaft und wurde schließlich an Real Madrid verkauft.
Sein Fehler war es gewesen, sich Fergusons Kontrolle entziehen zu wollen. Auch Wayne Rooney wagte es auf spektakuläre Weise, die Autorität seines Trainers in Frage zu stellen. Ferguson hatte den Stürmer für 30 Millionen Euro vom FC Everton geholt, und Rooney war zu einem unersetzlichen Bestandteil der Mannschaft geworden. Als er im Oktober 2010 Wechselabsichten hegte, nutzte der scheinbar fassungslose Ferguson die Macht der Medien, um die Öffentlichkeit gegen seinen Spieler aufzubringen, der drei Tage später seine Meinung änderte und einen neuen Fünfjahresvertrag unterschrieb. Ferguson hatte wieder einmal bekommen, was er wollte. Seine Macht war ungebrochen.
Anfang 2010 hatte er bei einem Vortrag vor Philosophiestudenten im Dubliner Trinity College gesagt: „Die beiden entscheidenden Faktoren in meiner Karriere waren Macht und Kontrolle. Kontrolle ist das Wichtigste. Sobald ich über die Multimillionäre bei Manchester United die Kontrolle verliere, kann ich einpacken. Sobald jemand versucht, sich meiner Kontrolle zu entziehen, kann er einpacken.“
„Kontrolle, Beobachtung und der Umgang mit Veränderungen.“
Auf die Frage, welches die drei wichtigsten Elemente seines Führungsstils sind, sagte Ferguson: „Kontrolle, Beobachtung und der Umgang mit Veränderungen.“ Beim Umgang mit Veränderungen hat Ferguson stets ein untrügliches Gespür bewiesen, sei es hinsichtlich der Weiterentwicklung des Spiels auf allen Ebenen, der Notwendigkeit, immer neue Impulse zu setzen, oder der Fähigkeit, Spieler, die schon alles erreicht haben, zu immer neuen Höchstleistungen zu treiben. Ferguson hat gelernt, sich nicht mit Dingen aufzuhalten, die er ohnehin nicht kontrollieren kann, wie Ohrringe, Tattoos oder extravaganten Torjubel. Als ein Student nachhakte, was er mit Beobachtung meine, sagte er: „Auf alles zu achten, was um einen herum passiert und zu analysieren, was wichtig ist. Gefahren und Chancen erkennen, die andere nicht sehen. Das alles kommt mit der Erfahrung.“
Er hätte auch sagen können: mit der unbegrenzten Bereitschaft, alle Mühen auf sich zu nehmen. United beschäftigt heute einen Stab von Spezialisten, die sich um sämtliche Belange der Spieler kümmern, von der richtigen Ernährung bis hin zur Fußpflege. Befragt, warum kein Psychologe dabei sei, hat Ferguson einmal geantwortet: „Das mache ich selbst.“