Eigentlich wollte Alex Raack für ein seriöses Thema recherchieren. Dann fand er einen Artikel am Tag des EM-Endspiels 2004. Und fragt nun: Wer hat noch Lust auf eine Runde Fremdschämen?
Es hat selbstverständlich viele Vorteile, wenn man als Journalist für 11FREUNDE arbeitet. Die Kollegen sehen wahnsinnig gut aus, begrüßen einen morgens mit frisch gebackenen Brötchen, unten, vorm luxuriös eingerichteten Büro, stehen attraktive Frauen und winken den lieben langen Tag in die Redaktionsräume, während minütlich Dankschreiben von wichtigen Menschen aus der ganzen Welt eintrudeln, weil mal wieder ein Text die Herzen der Öffentlichkeit gerührt hat.
„Maradona – einer für die Bundesliga?“
Außerdem besitzen wir Zugang zu einer Presse-Datenbank, die mehr Überraschungen zu bieten hat als ein Weihnachtsmann mit Sack ohne Boden.
Was kann man hier nicht alles für Perlen heben! Uralt-Interviews mit dem blutjungen Boris Becker, der noch nicht weiß, was die Prominenz und Wimbledon aus ihm machen wird. Kurz-Portraits verheißungsvoller Jungstars („Maradona – einer für die Bundesliga?“). Oder Artikel aus den Untiefen der Wortspielhölle namens „Bild-Zeitung“.
Keine Ahnung, wonach wir diesmal eigentlich suchten. Aber plötzlich poppte dieser Artikel vom 3. Juli 2004 auf. Erschienen in der guten alten „Bild“ am Tag des EM-Endspiels 2004. Überschrift: „Wie werde ich Blitz-Grieche?“ Das hatten wir uns auch schon immer mal gefragt (und beim mies gelaunten Kellner im „Akropolis“ ums Eck keine Antwort erhalten). Also Artikel geöffnet. Und sogleich vom Stuhl gefallen.
Keine Sorge: sie werden sich schämen
Denn dieser Artikel, bzw. „Der Bild-Eines-Tages-Crash-Kurs: Wecke den Rehakles in Dir!“, ist der verschriftlichte Beweis dafür, dass früher doch nicht alles besser war. Jedenfalls in der „Bild“-Zeitung. Liebe Leser, bitte schnallen sie sich an, oder noch besser, ziehen sie sich eine Lederhose an, betrinken sie sich mit Bier, seien dabei aber diszipliniert, strebsam und haben einen komischen Humor, denn wir wollen sie auf eine Reise in den Abgrund der ausgetretenen Klischees mitnehmen. Ein Trip ins Ungewisse mit der Gewissheit, sich spätestens nach Satz drei zu Tode zu schämen.
Sind sie bereit? Na dann.
TANZEN, TRINKEN, TSATSIKI! Wir sind im EM-Finale – dank Otto Rehakles. Am Sonntag ist jeder Deutsche Grieche! Aber wie, beim Zeus? Wie wird man zum Adonis? Zur Helena? Zum Costa Leandros? Der BILD-Blitz-Kurs für den Sonntag, damit Sie um 20.45 Uhr reif für Rehakles sind.
7 UHR: Bleiben Sie liegen! Der Blitz-Grieche schläft gern in den Tag. Aber: Schlafanzug runter. Der Blitz-Grieche schläft gern nackt – auch die Griechin.
8 UHR: Lust auf Blitz-Sex? Schnell noch einen Sohn zeugen, damit man ihn „Otto“ taufen kann! Säuseln Sie ein gebrochenes „Matia mou“ (gr. = mein Augenstern): „Mach mir den Griechen…“ Costa Cordalis‘ Liebes-Geheimnis: Er reibt seinen ganzen (!) Körper mit kretischem Olivenöl ein: „Ein Potenz-Wunder!“
9 UHR: Der Blitz-Grieche tänzelt Sirtaki tanzend wie Alexis Sorbas ins Bad. Er rasiert sich nicht – Bartstoppeln sind portugeil! Er schluckt eine Knoblauch-Pille und gurgelt beim Zähneputzen mit Ouzo. Nicht das Brusthaar-Toupet und das Goldkettchen vergessen! Seiner Blitz-Griechin einen Schnurrbart ankleben – und ihr ein Bad mit Pinienduft und Olivenöl einlassen. Nicht vergessen: Die Tsatsiki-Gesichtsmaske. Fingernägel tomatenrot lackieren, große falsche Wimpern. Busen in einen zu kleinen BH zwängen, dass nicht mal mehr eine Peperoni dazwischen passt.
Leben sie noch, liebe Leser? Oder sind sie wie die 11FREUNDE-Redaktion spontan ins „Akropolis“ gespurtet, um sich mit Tränen (Weißbiergeschmack?) in den Augen zu entschuldigen? Zeilen, die selbst für das Dschungelcamp zu grausam gewesen wären. Aber machen wir weiter:
9.30 UHR: Die Blitz-Griechin serviert Frühstück. Schwarzer Kaffee mit Zigarette, Schafskäse, Joghurt mit Honig, Fladenbrot (Pita) oder Weißbrot. Wichtig: Jeder beißt in eine Knoblauch-Zehe – das Parfüm der Hellenen. Sie tragen die griechische Fahne im Rachen.
11.30 UHR: Mit dem Esel ausreiten (oder Marathon laufen). Beim Bahnhofs-Friseur: Haare schwarz färben, Locken drehen lassen, Olivenöl statt Gel. Statt „Grüß Gott!“ jetzt „Grüß Zeus!“ sagen. Gleichzeitig: Jedes neue Gesicht in beide Hände nehmen – und schmatzend auf beide Wangen küssen.
12 UHR: Hunger? Den Esel nicht bei „Döner-Kebap“ anbinden. Das ist türkisch, bei Allah.
Ok, bei „Grüß Zeus“ haben wir kurz geschmunzelt. Ein bisschen jedenfalls. Aber dann der Esel-Döner-Gag… Warum gab es 2004 eigentlich noch keinen Shitstorm oder zumindest eine Handvoll wortmächtiger Gutmenschen? Weiter? Weiter.
13 UHR: Für Blitz-Griechen zu früh zum Mittag essen, aber der deutsche Bauch knurrt schon. Man isst nie allein. Danach einen Metaxa (Cognac). Schmeißen Sie die Lebensmittelreste nicht in die Mülltonne, sondern daneben, damit sich streunende Katzen und Hunde satt essen können.
14.30 UHR: Ihr Esel bringt Sie zurück zur griechischen Siesta.
16.15 UHR: Im Gartengrill die olympische Flamme entzünden – vielleicht mit einem Schuss Ouzo (nicht nachmachen, Kinder!). Den Homer aus dem Buchregal holen – aber nicht lesen.
17 UHR: Ein paar Beulen in Ihr Auto hauen, die Scheibenwischer abmontieren – für den Sieges-Korso ab 23 Uhr – mit der Blitz-Griechin auf der Motorhaube. Gönnen Sie sich ein griechisches Bier, z. B. „Mythos“.
18 UHR: Rufen Sie alle griechischen Namen im Telefonbuch an und laden sie ein. Sprechen Sie doppelt so laut wie normal. Wedeln Sie mit den Händen und achten Sie auf Kurzbegriffe wie Ja! Klar! Natürlich! Wer mutig ist, lädt alle Verwandten ein – aber wirklich alle! Dresscode: Blau-Weiß – wie die Ägäis und die Wolken über Piräus.
Zwischenfrage: Was passiert eigentlich, wenn man als Franzose die Redaktionsräume der „Bild“ betritt? Bekommt man sogleich frische Froschschenkel und Schnecken angeboten? Wird mit einem Baguette Richtung Toilette geleitet (die natürlich extra für den Besuch aus dem Boden gebrochen wurde)? Während nebenan bedauernswerte brasilianische Korrespondenten in knappen Höschen im Büro frieren müssen, dass extra für sie mit feinem Sand aufgeschüttet wurde? Natürlich von der Copacabana?
19 UHR: Alle Fernseher anschalten. Das Sound-Gefühl Lissabon-Stadion. Schmeißen Sie schon mal die ersten Teller auf die Straße – bringt Glück. Alle deutschen Namen ins Griechische übersetzen, z. B. Schultiades, Meyerkles, Müllopoulos.
20 UHR: Es wird spannend – aber „Sigá, Sigá“ (immer mit der Ruhe) – Atem testen, ggf. Knoblauchzehe nachwerfen. Flechten Sie sich einen Lorbeerkranz. Taufen Sie alle Kinder um in Helena, Athene, Leonidas, Perikles etc.
20.15 UHR: Doch lieber „Tatort“ in der ARD gucken? Machen Sie noch einen Hemdenknopf mehr auf.
20.45 UHR: Ruhe! Wir sind 80 Millionen Rehaklesse.
23.15 UHR: Jetzt ist alles Wurscht! Ab ins Auto. Aber, bitte Mama fahren lassen! Hupen für den Frieden. Auch wenn Portugal gewonnen hat, haben eigentlich wir Blitz-Griechen gewonnen.
24 UHR: Auto stehen lassen. Ein letzter Absacker beim Portugiesen/Griechen.
00.01 UHR: Wir sind wieder Deutsche – und trinken nie wieder Ouzo!
MONTAGMORGEN: Nicht den Chef anhauchen – außer, er ist Grieche…
Liebe 11FREUNDE-Leser. Danke, Danke, Danke fürs Durchhalten. Wer mag, kann sich gerne morgen mit uns zum Krisengespräch im „Akropolis“ treffen. Ihr erkennt uns Fußball-Journalisten an den lauthals vorgetragenen Gesängen, den ausgewaschenen Jeans-Jacken, Dosenbier, Schnauzbart und der prolligen Grundeinstellung. Vielleicht auch am Parfüm der Germanen: Bratwurst-Mundgeruch.