Ein Urlaubsvideo von Manuel Neuer wird zum Anstoß für Spekulationen über die Gesinnung und das Verantwortungsbewusstsein des Nationalkeepers. Der Fall zeigt, wie nachlässig wir bei Profis mit der Unschuldsvermutung verfahren.
Vor einigen Jahren tauchte ein Foto auf, das einen Spieler aus dem deutschen WM-Team von 2014 in Badehose zeigt. Der Profi vergnügte sich auf einer Yacht mit seiner Lebensgefährtin und die Freude über die Anwesenheit der Dame war auf dem Bild auch unterhalb seiner Gürtellinie deutlich erkennbar. Der Nationalspieler war von einem Paparazzo aus der Distanz abgeschossen worden. Einige Tage mäanderte das Foto durchs Netz. Medien, die es auf ihren Plattformen teilten oder anderweitig ihren Usern zugänglich machten, wurden vom Anwalt des Spielers zur Unterlassung vergattert. Schließlich haben auch Profis ein Recht darauf, dass ihr Intimleben unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfindet.
Doch wie privat darf das Leben eines Nationalspielers sein? Unter Polit-Journalisten gilt das eherne Gesetz, dass das Privatleben der Regierenden – so absonderlich es manchem auch erscheinen mag – nie Gegenstand der Berichterstattung sein darf. Politiker sollen das Land und das Leben positiv gestalten und zu unser aller Wohl das Beste geben. Wenn sie diese Verantwortung nicht wahrnehmen oder gar mit Füßen treten, ist es die Aufgabe der Medien, dieses Verhalten anzuprangern. Doch ob die Damen und Herren sich im Schlafzimmer Tiernamen geben, ihre(n) Vorzimmerdame/herrn versohlen oder gar mit dem Staubsauger malträtieren, darf in diese Bewertung nicht miteinfließen. Und tut es auch nicht.
Im Umgang mit prominenten Fußballprotagonisten läuft es anders. Beispiel FC Bayern: Da versorgten uns in den vergangenen Jahrzehnten diverse Boulevardmedien mit Informationen zu außerehelichen Beziehungen von unter anderem: Karl-Heinz Rummenigge, Ottmar Hitzfeld, Oliver Kahn und Franz Beckenbauer. Erst vor ein paar Wochen wurden auch die Eheprobleme von Manuel Neuer breitgetreten – mit entsprechenden Details zur neuen Partnerin plus einer moralinsauren Bewertung zum Fortgang der Ereignisse und einer Ferndiagnose zum Gefühlsleben der Verlassenen. Informationen für Leute also, denen ihr Alltagsleben nicht mehr den Puls erhöht, und die dringend Alternativen zu Small-Talk-Themen wie „Wetter“ und „Krankheit“ benötigen.
Manuel Neuer ist für Medien, die eine sehr breite Öffentlichkeit bedienen wollen, ein harter Fall. Er versieht seinen Job als Torwart mit der Präzision eines Raketenphysikers und bietet auch abseits des Rasens wenig Angriffsfläche. Auch weil er rhetorische Fettnäpfchen ähnlich gut antizipiert wie beim Rauslaufen auf dem Platz freistehende Gegner. Wenn so einer durch sein Privatleben eine Nachricht produziert, sind die ausgehungerten Spürnasen also schnell zur Stelle.
Vorgestern tauchte nun ein privates Urlaubsvideo von Neuer auf. Der Kapitän der Nationalelf verbringt die freien Tage nach Ende der Saison und bis zur Rückkehr ins Training vor den Champions-League-Finalrunden mit Bayern-Torwarttrainer Toni Tapalovic in Kroatien. Der kurze Clip zeigt Deutschlands Nummer Eins in einer Strandbar, wie er im Kreise schmerbäuchiger Biertrinker gut gelaunt in ein Lied einstimmt. Zum Politikum wird die Szene, weil es sich dabei um den Song „Lijepa li si” („Du bist schön“) von Marko Perkovic handelt, dem Sänger der Band Thompson, die dem rechtsradikalen Spektrum zuzuordnen ist und in mehreren europäischen Ländern Einreiseverbot hat.
Das Lied selbst – im Video nicht in der Originalversion zu hören, sondern von zwei Hobbymusikern auf Akkordeon und Gitarre dargeboten – ist einerseits eine kitschige Liebeserklärung an die Schönheit Kroatiens. Andererseits geht es in einem Vers um das von nationalistischen Kroaten beanspruchte Herceg-Bosna. Herceg-Bosna war der Name eines parastaatlichen Gebildes, das während des Bosnien-Kriegs Anfang der Neunzigerjahre von Kroaten in Bosnien errichtet worden war, heute aber nicht mehr existiert. Während des Krieges kam es in Herceg-Bosna zu ethnischen Säuberungen und Massakern an Zivilisten. Die militärischen und politischen Anführer von Herceg-Bosna wurden später vom Kriegsverbrechertribunal verurteilt. Perkovic, der Thompson-Sänger, bestreitet seine rechte Gesinnung mittlerweile öffentlich, eröffnet Konzerte aber nach wie vor mit „Za dom – spremni!“ („Für die Heimat – bereit“), also dem Schlachtruf der faschistischen Ustascha. Darüber hinaus zeigte er in der Vergangenheit auf der Bühne wiederholt den „Hitlergruß“ und verhöhnte KZ-Opfer. Der Bandname Thompson bezieht sich auf den Hersteller der Maschinenpistole, die Perkovic im Krieg benutzte.
Trotzdem ist Perkovic in Kroatien ein gefeierter Rockstar. Was auch daran liegt, dass er sich in den vergangenen Jahren als harmloser Patriot inszeniert und seine Gesinnung stärker in Codes versteckt. Nicht zuletzt deshalb ist es ihm gelungen, im Mainstream anzukommen. Nach der Vizeweltmeisterschaft 2018 fuhr er im offenen Bus mit der Nationalmannschaft durch Zagreb. Seine Lieder sind so bekannt, dass „Lijepa li si” sogar gespielt wurde, als Angela Merkel das Land vor der Europawahl im vergangenen Jahr besuchte. Es gibt einen YouTube-Mitschnitt, der die Kanzlerin bei einer öffentlichen Veranstaltung zeigt, wie sie beim Abspielen des Songs so arglos mitklatscht, wie sie es nach der gewonnenen Wahl 2013 im Konrad-Adenauer-Haus zu den Klängen von „An Tagen wie diesen“ tat. (Wofür sie sich übrigens Tage später persönlich in einem Telefonat mit Toten-Hosen-Frontmann Campino entschuldigte.)