Barça raus, Real raus, dafür ein Zweitligist und ein Aufsteiger im Halbfinale: Der spanische Fußball erlebt aktuell die vielleicht verrückteste Pokal-Saison aller Zeiten. Unser Autor ist hautnah dabei – schließlich ist er nicht nur Fan von Sensationshalbfinalist CD Mirandés, sondern sogar Kleinstaktionär.
Ich persönlich bin momentan näher dran als 2012, als ich leider nur das Sechzehntelfinale gegen Racing live verfolgen konnte. Dieses Jahr habe ich im Sechzehntelfinale mit Staunen von der Tribuna Sur aus erleben dürfen, wie Rafinha Alcántara, der Bruder von Bayern-Star Thiago im Dienste von Celta Vigo, den Ball in der 110. Minute im eigenen Sechzehner verdaddelte und sich zu einer Notbremse gegen Antonio Sánchez genötigt sah. Ungläubig habe ich das gemächliche Traben und die gewisse Hüftsteifheit eines Luuk de Jong im Achtelfinale betrachtet, dem einstigen Stürmer meiner Gladbacher Borussia, jetzt in Diensten des FC Sevilla, der sich dazu verleiten ließ, den Balljungen genau unter mir anzufauchen, weil der die Kirsche aus seiner Sicht nicht schnell genug rausrückte. Und ich habe gezittert, als am Mittwochabend Paco Alcácer im Viertelfinale eingewechselt wurde, der ehemalige BVB-Stürmer, der ja bekanntlich alles kurz und klein schießt, solange er denn von der Bank kommt. Aber er biss sich die Zähne aus am sensationell agierenden Innenverteidiger-Duo Odei/Sergio.
Auf die „hazaña“ im Pokal der Saison 2011/2012 folgte der erstmalige Aufstieg in die Zweitklassigkeit. Gehörigen Anteil daran hatten die Tore des unglaublichen Pablo Infante, der nebenbei noch einer Vollzeittätigkeit in einer Bank nachging. Doch nach dem Delirium folgten alsbald die ersten Kopfschmerzen, die der moderne Fußball einem Kleinstadtklub bereitet. Die reine Stehplatztribüne, die „General“, verantwortlich für die einzigartige Stimmung im kleinen Anduva-Stadion, sollte weichen, da die Liga reine Sitzplatzstadien vorschreibt. Und, mindestens genauso einschneidend: Weil die Liga es so für Profiklubs vorschreibt, musste sich der Verein in eine SAD umwandeln, eine Aktiengesellschaft des Sports. Dafür mussten über zwei Millionen Euro Stammkapital aufgebracht werden. In einer von der Krise arg gebeutelten Stadt im Prinzip ein Ding der Unmöglichkeit.
Viele Anhänger plädierten für einen freiwilligen Rückzug und einen Neuanfang in der vierten Liga: „Odio eterno al fútbol moderno“, ewiger Hass dem modernen Fußball, skandiert man hier gern in den Stadien. In einer ersten Finanzierungsrunde wurden dann aber doch immerhin 900.000 Euro aufgebracht, vor allem durch Kleinstaktionäre. Eine beachtliche Summe für eine Stadt mit nur knapp über 35.000 Einwohnern. Auch ich leistete einen minimalen Beitrag, auf den ich sehr stolz bin.
Die noch fehlenden rund eine Million Euro wollte ein Investor aus der Stadt im Zuge einer ausländischen Investition für einen nahegelegenen Industriepark aufbringen. Als die Kohle zwölf Stunden vor Deadline jedoch immer noch nicht da war, weil sich herausstellte, dass das Angebot aus dem Ausland ein mieser Fake war, sprang der örtliche Bestattungsunternehmer Alfredo de Miguel ein. Er legte die übrigen Scheinchen auf den Tisch und verhinderte somit den Zwangsabstieg und damit möglicherweise sogar ein völliges Verschwinden des Vereins. Seitdem steht er als Präsident an der Spitze des Klubs.
Es folgten fünf Jahre seliger Zweitklassigkeit bis zum Abstieg 2017. Doch im Sommer 2019 gelang, etwas überraschend, der Wiederaufstieg, der uns die Teilnahme an der diesjährigen Copa Loca erst möglich gemacht hat.
Womit wir wieder beim Halbfinale wären, das gerade ausgelost wird, während ich diese Zeilen schreibe. Ein Halbfinale, bei dem hier in Miranda de Ebro Hunderte von Identitäskrisen vorprogrammiert sind. Denn durch die räumliche Nähe zu Bilbao und San Sebastián, die beide im Umkreis von nur 120 Kilometern liegen, sind hier diejenigen, die nicht zu Barça oder Real halten, eingefleischte Anhänger von Athletic Club oder Real Sociedad. So wackelte gestern die Decke unserer Wohnung gewaltig, als der Nachbar über uns wie ein Wahnsinniger auf- und abhüpfte, als Williams in der 94. zum Sieg einköpfte. Derselbe Nachbar übrigens, den ich bei jedem Heimspiel des CD Mirandés in voller Montur auf der Tribuna Sur sehe. Zu wem hältst du, wenn dein Dorfverein plötzlich gegen deine Kindheitsliebe im Pokalhalbfinale oder gar im Finale steht? Ich bin jedenfalls froh, dass ich den SC Preußen Borghorst wohl nie gegen meine Gladbacher im DFB-Pokal sehen werde.
Mein Nachbar von oben kann sich aber erstmal entspannen. Gerade in diesem Moment wurde uns in der RFEF-Zentrale in Madrid Real Sociedad als Gegner zugelost. Dafür werde ich dann meinen Kumpel Sergio in der REALE-Arena und in Anduva neben mir leiden sehen – er hält es eigentlich mit den Txuri-Urdin aus der nordspanischen Küstenstadt.
Das Los gezogen hat kurioserweise unser Präsident Alfredo de Miguel höchstpersönlich. Dieser sorgte übrigens auch quasi eigenhändig dafür, dass man mich nach dem 2:1‑Siegtreffer in der 114. Minute des Sechzehntelfinals gegen Celta Vigo auf den DAZN-Zusammenfassungen praktisch allein jubelnd über die nahezu leeren Ränge der Tribuna Sur laufen sieht. Für dieses Spiel mussten Dauerkarten-Inhaber nämlich zusätzliche 20 Euro berappen. De Miguel hatte die Anhänger daraufhin mit der Aussage aufgebracht, dass die neue Flutlichtanalage sich ja nicht von selbst finanziere und dass man halt zuhause bleiben solle, wenn es einem nicht passe. Als Quittung nahmen ihn einige Hundert der Treuesten beim Wort.
Im Halbfinale kann er jedoch sicher sein, dass die 5.700 Plätze im „Fußballkicker“, wie die Fans von Real Zaragoza das kleine Anduva-Stadion kürzlich titulierten, restlos besetzt sein werden. Und mittendrin ein deutscher Kleinstaktionär und Dauerkartenbesitzer. Livin‘ La Copa Loca! Gewinnt Mirandés, spielen wir nächste Saison im Supercup – dank einer weiteren Änderung übrigens in Saudi-Arabien. Qué grande es el fútbol!