Schon beim ersten Stadionbesuch wird der gemeine Fußballfan auf zwei Dinge geeicht. Erstens: Liebe deinen Verein. Zweitens: Hasse den FC Bayern – sollte dieser nicht der eigene Verein sein. Dabei sind die Bayern doch gar nicht so übel. Ein Geständnis.
Es gibt einiges, was man in seiner ersten Saison als Fan lernt. Zum Beispiel, dass man dem Kurven-Chef besser nicht das Bier über die Hose kippt, dass Sitzen für’n Arsch ist oder dass der gesamte Fanblock weiß, wo das Auto des Schiedsrichters steht. Natürlich, man lernt auch, was es heißt, seinen eigenen Klub abgöttisch zu lieben. Und man lernt, wie sich Ehrfurcht anfühlt, spätestens dann, wenn ein greisenhafter Allesfahrer von Orten wie Meppen, Olmütz oder Zabrze berichtet.
Eine Sache indes lernt man schon beim allerersten Stadionbesuch – und zwar in 17 von 18 Bundesligastadien. Man lernt, dass man die Bayern abgrundtief hassen muss. Damals, in den achtziger Jahren, reichte ein Blick auf die Kutten aus, um das zu verstehen. Manche Aufnäher posaunten: „Wenn Ärsche fliegen könnte, wäre München ein Flughafen“. Andere illustrierten eine Mannschaftsbesprechung des FC Bayern mit Schweinen an der Tränke. Eine ausgiebige Lektüre solcher Text-Bild-Miniaturen konnte einen über so manch graues Spiel retten. Heute gibt es zwar kaum noch Kutten, doch immer noch merkt der Nachwuchsfan früh, woher der Wind weht – schon durch die Lautstärke des Jubels, der ertönt, sobald die Anzeigetafel über einen Gegentreffer der Bayern informiert.
Ich jubelte viele Jahre mit, in der guten Gewissheit, dass ich das auch kann: abgrundtief hassen. Und doch musste ich vor einigen Jahren feststellen, dass der Jubel im Laufe der Zeit immer leiser wurde. Bisweilen erwischte ich mich sogar immer häufiger dabei, wie ich mich über Bayern-Siege freute. Vielleicht ist das ein Altersphänomen, dachte ich. Vielleicht ähnelt diese leise Sympathie dieser Sehnsucht, die mich in anderen Lebensbereichen ereilt. Der Wunsch nach Komfort, nach Sicherheit. Schließe ich bald einen Bausparvertrag ab? Wähle ich irgendwann die CSU? Nun, momentan überlege immerhin, mich von einem von Kleintier zerfressenen WG-Sofa – das natürlich Charakter und Geschichte hat – zu trennen, und mir stattdessen eine optisch ansprechende Sitzgelegenheit zu kaufen. Alterserscheinungen, ja das muss es sein!
Mit der Meppen-Zabrze-Fraktion verscherzt
Am vergangenen Dienstagabend saß ich jedenfalls alleine vor einem – leider immer noch – sehr alten Fernseher. Versunken in dem – leider immer noch – sehr alten Sofa. Und als Mario Gomez in der 90. Minute den Ball über die Linie kniete, schoss ich auf, ballte die Faust und schrie: „Ja!“ Die Meppen-Zabrze-Fraktion hätte mir sofort eine Nackenpeitsche verpasst. Doch glücklicherweise war da niemand in meinem Wohnzimmer, nur ein Bier, dieser alte Fernseher, dieses alte Sofa und ich. Also noch einmal: „Ja!“ Ein komfortables Tor.
Dabei hatten sie mir nicht nur mit ihren Aufnähern auf der Kutte, sondern auch in etlichen Fußballkneipen jahrelang eingeimpft, gegen den FC Bayern zu sein. Selbst bei internationalen Spielen hieß es: Kein Fußbreit für die Bayern! Hardliner, die das sagen, behaupten ja auch, dass es eigentlich gar keine Bayern-Fans gebe. Schließlich gehöre zum Fandasein zuallererst das Leiden, und ein Bayern-Anhänger, so ihre These, habe noch nie gelitten. Auch diesen Hardlinern schüttet man besser kein Bier über die Jacke. Sie haben alles gesehen, alles gehört, alles mitgemacht. Und sie haben eine über viele Jahre aufgebaute Argumentationskette. Und wenn ihnen jemand ein schüchternes „Fünfjahreswertung“ entgegenbringt, schnauben sie: „Die interessiert mich einen Scheiß!“ Ich bin mir ziemlich sicher: Sie waren häufiger in Meppen und Zabrze als ich beim Supermarkt um die Ecke.
Natürlich, auch mir hat der FC Bayern viele schlechte Momente beschert. Darüber hinaus kann ich nicht mal sagen, dass mit der Bayern-Fan grundsymphatisch ist. Ich konnte nie etwas mit vercliqueten„Mia-san-mia“-Haltung oder dieser burschenschaftigen „Euer-Hass-ist-unser-Stolz“-Rhetorik anfangen. Ich mag keine Oktoberfeste, kein Weißbier, keine Lederhosen, keine Zwirbelbärte, keine Trachten. Und das P1 ist mir auch fremd.
Einmal, irgendwann Anfang der neunziger Jahre, verlor der HSV zu Hause 2:3 gegen den FC Bayern, nachdem er bis zur 87. Minute 2:1 geführt hatte. Später saß ich auf dem damals noch neuen Sofa und schaute Sportschau. Stefan Effenberg stellte sich da genüsslich vor ein Mikrofon, strich seine Haare zurück und grüßte seine alte Heimat Hamburg. Dabei grinste er diabolisch. Ich hätte am liebsten den Fernseher aus dem Fenster geworfen.
Dieses rote Rollen, diese dunkle Seite der Macht
Und dann gab es noch dieses Erlebnis im Mai 2001. Bayerns Patrik Andersson schoss im Volksparkstadion per Freistoß das 1:1, Schalke verlor in diesem Moment die Meisterschaft und Oliver Kahn jubelte mit der Eckfahne. Stille im ganzen Stadion, dabei ging es für den HSV um nichts mehr. Dann sagte jemand: „Das war kein Rückpass!“ Schreckliche Worte, schlimme Bilder. Doch irgendwie hatte die Bestie in diesem Moment auch eine faszinierende Wirkung auf mich. Dieses abgrundtief Gemeine, dieses rote Rollen, diese dunkle Seite der Macht – ich wollte nicht hingucken und tat es trotzdem. Es war wie mit Poltergeist Teil 1 bis 3. Leider geil.
Heute liegt die Sache ganz einfach und fern von dunklen Sehnsüchten. Ich sehe Spielern wie Arjen Robben und Franck Ribery in Topform gerne zu. Oder dem so herrlich schnörkellos spielenden Thomas Müller, selbst wenn er momentan ein wenig seiner Form hinterherläuft. Dazu Bastian Schweinsteiger und Toni Kroos als Mittelfeldmotoren. Ja, ich gestehe, ich finde die aktuelle Mannschaft durchaus supe, pardon, interessant. Manchmal beruhige ich mich selbst ein wenig, indem ich sage, dass es immer noch nichts Schöneres gibt als einen Sieg gegen Bayern. Oder dass ich mir einrede, ich hötte zuletzt nur die richtigen Spiele gesehen. Das 5:0 gegen den HSV, das 2:0 gegen Manchester City, das 3:2 gegen Neapel, das 7:0 gegen Basel, das 6:0 gegen Hertha. Doch, oh nein, ich habe auch das 0:1 gegen Dortmund gesehen – und irgendwie hatte das Fehlbare was Sympathisches.
Schließlich dann das 2:1 gegen Real Madrid, mit Philipp Lahm und seinem unbedingten Willen, an Fabio Coentrao vorbeizugehen. Dieses Dribbling kam gerade deshalb so überraschend, weil eben dieser Lahm – im Gegensatz zu David Alaba, Holger Badstuber oder Mario Gomez – zuletzt gar nicht mehr so im Fokus stand. Lahm spielte solide, doch nie so auffällig wie ich ihn in Erinnerung hatte. Und dann das, Körpertäuschung, Sprint, Hereingabe, Tor. Ein unwahrscheinlicher Kraftakt in einem Champions-League-Halbfinale gegen eine der besten Mannschaften der Welt. Mit einem Mal war mir klar, dass es noch etwas gibt, das ich bei meinem ersten Stadionbesuch gelernt hatte: So etwas werde ich bei meinem Verein nie zu sehen bekommen.