Dynamisch, spielstark, unberechenbar: Die Franzosen haben sich im Laufe des Turniers gesteigert. Dennoch bleiben vor dem Spiel gegen Deutschland viele Fragezeichen.
Frankreich ist im Turnier angekommen. Bis zum Viertelfinale spielten die Franzosen nie besonders schlecht, aber auch nie besonders gut. Gegen Island lieferten sie plötzlich in der ersten Halbzeit eine Gala ab und schenkten den wackeren Isländern vier Tore ein. Am Ende feierten sie mit einem 5:2 ihren höchsten Sieg dieser EM. Mission Heimsieg kann in die entscheidende Phase gehen.
Frankreich hat sich enorm gesteigert
Joachim Löw ist also gewarnt. Bereits gegen die starken Italiener war sich Löw bewusst, dass er seine Taktik an die Stärken des Gegners anpassen muss, um erfolgreich sein zu können. Gegen Frankreich dürfte er dasselbe versuchen. Doch wo liegen die Stärken und Schwächen des Gastgebers?
Dynamisches, unberechenbares Angriffsspiel
Die schlechte Nachricht zuerst: Frankreich hat sich im Angriffsspiel zuletzt klar gesteigert. Seit Trainer Didier Deschamps Superstar Antoine Griezmann ins Zentrum schob und damit auf ein 4−2−3−1 umstellte, rollt die Offensive.
Frankreich kann in der neuen Formation eine hohe Präsenz im Mittelfeld herstellen: Die Außenstürmer rücken häufig ins Zentrum, allen voran Linksaußen und EM-Shooting-Star Dimitri Payet. Paul Pogba treibt das Spiel von der Doppelsechs an und rückt dynamisch nach, sobald er den Pass nach vorne spielt. Frankreich visiert also die Räume im offensiven Mittelfeld an und spielt die Angriffe von dort mit schnellem Ein-Kontakt-Fußball schnörkellos vor das Tor.
Mittelfeld stärken
Frankreich setzt dabei weniger auf feste Strukturen, sondern improvisiert viel. Griezmann, Payet und Pogba nehmen sich ihre Freiheiten innerhalb des Systems, lassen sich häufig fallen oder gehen nach vorne. Das macht die Franzosen weniger ausrechenbar als die Italiener, die ziemlich klare Angriffsstrukturen verfolgten.
Joachim Löws erste Aufgabe wird es also sein, das Zentrum zu stärken. Löw könnte dazu entweder eine Dreierkette nutzen oder einen zusätzlichen Mittelfeldspieler in einem 4−3−3 aufstellen. In beiden Varianten wäre eine Kompaktheit im Zentrum gewährleistet. Wichtig wäre auch, die einleitenden Pässe von Pogba ins offensive Mittelfeld zu verhindern.
Französisches Flügelspiel
Die gute Nachricht für Joachim Löw: Das Flügelspiel der Franzosen ist weniger stark. Die Außenstürmer bewegen sich häufig in die Mitte. Nur die Außenverteidiger sorgen für Breite, rücken aber erst spät im Angriffsverlauf nach. Bacary Sagna und Patrice Evra haben auf ihre alten Tage zwar ein gutes Gespür die richtige Balance zu halten. Allerdings haben sie ihre dynamischen Tage längst hinter sich. Defensiv dürften sie Deutschland nur Probleme bereiten, wenn die deutsche Mannschaft gegen die einrückenden Außenstürmer zu eng agiert und in der Folge den öffnenden Pass auf die Flügel zulässt.
Offensiv wiederum könnte Deutschland die Schwächen der beiden ausnutzen. Joshua Kimmich und Jonas Hector bewiesen zuletzt, dass sie mit einer hohen Rolle die gegnerischen Außenverteidiger beschäftigen können. Joachim Löw könnte auch Julian Draxler oder Leroy Sane auf den Flügeln einsetzen, um Eins-gegen-Eins-Duelle gegen die Außenverteidiger zu erzwingen. Sie sind gegen den Ball die Schwachstelle der Franzosen – nicht unbedingt individuell, aber auf alle Fälle taktisch. Frankreich rückt nämlich nicht kompakt genug zum Flügel, oft müssen die Außenverteidiger Situationen alleine lösen.
Pressing? Konter?
Hinter einigen Aspekten des französischen Spiels stehen indes auch noch vor dem Halbfinale Fragezeichen. Bislang mussten die Franzosen nur gegen Außenseiter antreten, die ihnen stets den Ballbesitz überließen. Gegen Deutschland ist es aber gut möglich, dass sich die Franzosen zunächst einmal zurückziehen und auf Konter lauern.
Hier wird sich zeigen, wie gut die Franzosen verteidigen können. In diesem Turnier fehlte ihnen im Pressing oft die Intensität. Die Mannschaft rückte nicht konsequent vor. Sobald das Mittelfeld überspielt wurde, brauchten die Angreifer wiederum zu lange, um sich zurückzuziehen. Gegen Deutschland müssen sie diese Schwächen abstellen. Die fehlende Intensität im Pressing muss jedoch nicht unbedingt eine taktische Schwäche sein, sie kann auch der Ausgangslage geschuldet gewesen sein. Gegen die Slowakei, Russland oder Irland vernachlässigt man die Defensive eher als gegen die Deutschen.
Mit hoher Wahrscheinlichkeit werden die Franzosen auf Konter lauern und die Deutschen das Spiel kontrollieren. Mit schnellen Flügelwechseln könnte Deutschland die Probleme der fehlenden Intensität im französischen Verschieben aufdecken.
Heimvorteil
Einen Joker haben die Franzosen in der Hand: Das Publikum. Das Stadion dürfte das Heimteam nach vorne peitschen. Ganz Frankreich hofft auf eine Wiederholung des Weltmeister-Märchens 1998. Gerne vergessen wird beim nostalgischen Blick auf die Elf um Zinedine Zidane, dass sich Frankreich damals mit viel Glück und wenig guten Leistungen durchs Turnier schlich. Richtig gut spielten die Franzosen nur in einer Partie: beim 3:0‑Finalsieg über Brasilien. Joachim Löw wird etwas dagegen einzuwenden haben, dass Frankreich 2016 eine Wiederholung gelingt.