Seit gestern ist Robert Lewandowski ganz offiziell der zweitbeste Bundesligastürmer aller Zeiten. Werden wir ihn eines Tages sogar als den Besten betrachten?
Vor sechzig Jahren war die Sportwelt Amerikas in heller Aufruhr. Gleich zwei Baseballspieler der New York Yankees – Mickey Mantle und Roger Maris – schickten sich an, den Rekord für Home Runs in einer Saison zu brechen. Jene Bestmarke stand seit 1927 bei 60, doch schon am 25. Juli 1961 schlug Maris seinen 40. Home Run. Mantle gelang derweil Nummer 37 – und die Saison würde noch fast drei Monate dauern. Die Aufregung kam aber nun nicht daher, dass die Fans mit den beiden Sportlern fieberten und ihnen die Daumen drückten. Ganz im Gegenteil.
Vielen Amerikanern war unwohl bei dem Gedanken, dass der Rekord fallen könnte. Aufgestellt hatte ihn nämlich die Ikone Babe Ruth, der bis zum heutigen Tag als größter Baseballer aller Zeiten gilt. Als Roger Maris am 1. Oktober doch noch seinen 61. Home Run schlug, setzten die Traditionalisten durch, dass diese neue Bestmarke in den offiziellen Rekordbüchern mit einem einschränkenden Sternchen versehen wurde, da die Saison zu Ruths Zeiten etwas weniger Spiele umfasste. Diese Argumentation war zwar widersinnig, weil ein Saisonrekord nun mal in einer Saison aufgestellt wird, nicht in einer bestimmten Anzahl von Spielen, doch die Volksseele hatte ihre Ruhe.
Ein solches Szenario droht dem deutschen Fußball im Mai nicht, denn eine Bundesligasaison hat heute genauso viele Spiele wie 1972, als Gerd Müller seinen sagenumwobenen Rekord von 40 Toren aufstellte. Vielleicht erreichte deswegen die Redaktion vor sieben Tagen die E‑Mail eines Lesers aus Meckenheim im Rheinland. Gerichtet war sie eigentlich an Robert Lewandowski. „Machen Sie bitte bei 40 Toren Schluss“, schrieb der Mann fast flehentlich, „und respektieren Sie Gerd Müller!“ Und weiter: „Ich appelliere an Uli Hoeneß: Fahren sie mit Robert Lewandowski zu Gerd Müller.“ Und wieder: „Bitte bei 40 Toren Schluss machen und Gerd Müller respektieren.“
Nun darf man davon ausgehen, dass Lewandowski den größten Respekt vor Gerd Müller hat, auch ohne dass ihn Uli Hoeneß in das Pflegeheim kutschiert, in dem die Bayern-Legende seit nun schon sechs Jahren lebt. Und manchmal hat es in diesen Tagen den Anschein, als plane Lewandowski insgeheim tatsächlich, den Müller-Rekord nicht zu brechen. Gestern traf er gegen Werder dreimal Latte oder Pfosten und vergab zwei weitere große Chancen, bis es wirklich nicht mehr anders ging: Bei seinem 32. Saisontor stand er einfach exakt dort, wo der Ball nach mehreren Querschlägern und Abprallern landete, und musste das Spielgerät nur noch über die Linie drücken. Genau wie einst Gerd Müller, möchte man sagen.
Das Interessante an der Zuschrift des Lesers ist nun, dass er Lewandowski nicht etwa bittet, sich mit 39 Treffern zufriedenzugeben, damit die große Bayern-Ikone Gerd Müller weiter unangefochten über allen Torjägern thronen kann. Stattdessen gesteht er dem Polen zu, zumindest rechnerisch mit dem unglücklich betitelten „Bomber der Nation“ gleichzuziehen. Und das ist auch nur angemessen, denn inzwischen drängt sich die ketzerische Frage auf, ob Lewandowski nicht jetzt schon fast auf einer Stufe mit Gerd Müller steht.
Der gestrige Abstauber gegen Werder bedeutete den 268. Bundesligatreffer für Lewandowski. Damit hat er Klaus Fischer in der Ewigen Liste der Torjäger eingeholt und liegt – natürlich nur für ein paar Tage – auf dem geteilten zweiten Platz. Jupp Heynckes, Manni Burgsmüller, Claudio Pizarro – sie alle rangieren schon weit hinter dem Polen, der dazu noch einen weit besseren Schnitt von Toren pro Spiel hat als jeder andere, der jemals in der Bundesliga angemessen lange vor den Ball trat. Außer Gerd Müller.
Besagter Schnitt steht gegenwärtig bei 0,78 Toren pro Partie. Behält Lewandowski dieses Tempo bei, dann braucht er noch 125 Spiele, um Müller in der Allzeit-Tabelle einzuholen. Lewandowskis Vertrag in München läuft noch bis 2023, und er hat angekündigt, dass „es nicht der letzte sein wird“. Also hat der 32-Jährige (der erst am Tag nach seinem 22. Geburtstag zum ersten Mal in der Bundesliga auf dem Rasen stand) gute Chancen, zukünftigen Generationen als größter Stürmer der Bundesligageschichte zu gelten.
Denn was einst für Ruth, Maris und Mantle galt, gilt auch für Müller und Lewandowski: Es geht nur um die nackten Zahlen. Für Stürmer gibt es eben nur eine einzige Währung, das wusste niemand besser als Gerd Müller selbst. Er war ein genialer Wandspieler für die Vorstöße von Franz Beckenbauer, weil sein Timing bei Doppelpässen perfekt war. Er war ein so guter Torwart, dass er bei der WM 1974 zwischen die Pfosten gegangen wäre, hätten sich beide Keeper verletzt. Und er war so defensivstark, dass er gleich im ersten Bundesligaspiel der Bayern den verletzten Adolf Kunstwadl im Abwehrzentrum vertrat. Doch all das interessierte kaum jemanden – gemessen wurde Müller in erster Linie an seinen Toren.
Und doch wird Lewandowski am Ende nur fast so eine große Ikone sein können wie Müller. Das aber liegt nicht an ihm, sondern an seiner Nationalität. Er wird eben nicht zwei Tore in einem EM-Finale erzielen und zwei Jahre später den Siegtreffer in einem WM-Endspiel schießen. Es wäre zu hoch gegriffen, das tragisch zu nennen, aber ein wenig ungerecht ist es schon, dass die Fußballwelt den großen Länderturnieren noch immer so viel Wert beimisst. Und darum möchte man Lewandowski zurufen: Machen Sie erst bei 41 Toren Schluss. Gerd Müller würde das respektieren.