In der süditalienischen Provinz Taranto haben viele Menschen keine Arbeit, sterben die Kinder früher, verwaisen die Altstädte. Freude macht nur der Fußball. Bilder einer ganz besonderen Fanszene.
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Außerdem präsentieren wir euch an dieser Stelle in den kommenden Wochen weitere spektakuläre Reportagen, Interviews und Bilderserien. Heute: zu Besuch bei den Ultras des Taranto FC.
Es fing an im September 2015 als stinknormaler Urlaubstrip. Damals reiste der Saarbrücker Fotograf Lukas Ratius mit ein paar Freunden in einem viel zu kleinen Auto in Richtung Süditalien. Ihr Ziel: Sizilien. Unterwegs hielten sie in Florenz, Neapel, Lecce und schließlich in Taranto, einer Stadt am Ionischen Meer, ganz unten am Stiefel. Eine Zwischenstation für die Nacht, so dachten die Freunde. Also suchten sie eine Unterkunft und streiften noch ein wenig durch die Straßen. Aber es war kaum etwas los in Taranto, vor allem die Altstadt war gespenstisch leer. Nur am Ende einer dunklen Gasse brannte noch Licht in einer kleinen Kaschemme. Schüchtern schoben die Touristen einen Plastikvorhang zur Seite und traten in einen winzigen Raum, der sich als Treffpunkt der Ultra- und Fanszene des lokalen Viertligisten Taranto FC entpuppte. Die Männer, die dort über ihren Bieren saßen, waren freundlich und luden sie ein. Vor allem ein Mann namens Giova beeindruckte die Deutschen. Ein bulliger Kerl um die 50, der Capo der berühmten Fangruppe „Ultrapaz“. Als sich die Deutschen im Morgengrauen verabschiedeten, sagte der Mann: „Kommt in vier Tagen zum Heimspiel gegen Fondi wieder!“ Eine Telefonnummer? „Seid um 12 Uhr hier!“ Und so begann diese Fotoreportage. Eine Langzeitdokumentation über die Stadt Taranto, den Verein Taranto FC und die Fans von Ultrapaz.
Über drei Jahre ist Lukas Ratius, der nur Urlaub auf Sizilien machen wollte, immer wieder in die Stadt in Apulien gereist. Er hat die Ultras gegen den Rivalen Lecce in die Curva Nord begleitet oder mit ihnen in ihren Wohnungen zu Abend gegessen. Er war dabei, als Taranto in die Serie C aufstieg und sich die Stadt in ein rot-blaues Fahnenmeer verwandelte. Gemeinsam mit Giova erkundete er die dunklen Gassen der citta vecchia oder das „Ghetto“ des Quartiers Paolo VI, und wenn wieder einmal Kinder auf den Deutschen mit der Kamera zukamen und fragten, woher er komme, antwortete der Capo für ihn: „Er kommt aus dem Land von Heidi!“
Eigentlich haben die Einwohner aber wenig Grund zur Freude. Ein Mann fragte den Fotografen: „Du willst also eine Dokumentation über Menschen machen, die in der Scheiße stecken?“ Ein anderer sagte: „Wenn du mit deinem Stiefel in Scheiße getreten bist und alles mühsam wieder sauber geschrubbt hast, gibt es immer noch eine Stelle, an der was hängengeblieben ist. Die du einfach nicht sauber bekommst. Da liegt Taranto.“ Früher lebten die Menschen in der Region vom Fischfang. Als 1965 das größte Stahlwerk Europas gebaut wurde, erlebte Taranto einen wirtschaftlichen Aufschwung, weit über 10 000 Menschen waren zeitweise für den neuen Arbeitgeber tätig. Aber die neue Industrie brachte nicht nur Jobs, sondern auch den Tod. Durch Schadstoffe erkranken die Bewohner Tarantos überdurchschnittlich oft an Krebs, die Beschäftigten des Stahlwerks sogar um die zehn Mal häufiger als im nationalen Durchschnitt. Mittlerweile registrieren Ärzte vererbte, krebsartige Genmutationen bei Neugeborenen. Sie sprechen von einer 30 bis 50 Prozent höheren Kindersterblichkeit als im Rest Apuliens. Nach einem jahrelangen Ermittlungsverfahren reagierte die Taranter Justiz mit temporären Stilllegungen der Anlage. „Trotz dieser verheerenden Lebensumstände lernte ich ein lebensfrohes und kämpferisches Städtchen kennen“, sagt Ratius. „Kehre ich heute zurück, ist es ein Besuch bei Freunden.“