Aus dem verschlafenen München zog es Franz Beckenbauer im Sommer 1977 ins Epizentrum des Disco-Infernos. Als Teil der New York Cosmos wurde aus dem deutschen Kaiser ein Mann von Welt.
Als Mick Jagger am 26. Juli 2013 siebzig Jahre alt wurde, schickte Franz Beckenbauer einen Gruß über Twitter: „Happy Birthday, Mick. Thinking back when we met each other in 1976, after we won the European Cup.“ Seinem Glückwunsch fügte der Kaiser ein Foto bei, dass ihn Arm in Arm mit dem Rolling-Stones-Sänger zeigt: Jagger mit weit aufgerissenem Mund, Piloten-Sonnenbrille und einem mondänen Seidenschal um die Schultern, Beckenbauer schüchtern daneben, mit akkurat gescheitelter Krause, im weißen Hemd und einer Trachtenstrickjacke.
Auf den ersten Blick das Zusammentreffen zweier Superstars aus unterschiedlichen Metiers nach einem Europapokalspiel. Auf den zweiten das Symbol zweier Lebensstile, wie sie in der Mitte der Siebziger, dieser bonbonfarbenen Ära der Befreiung, gegensätzlicher kaum sein konnten. Jagger, knapp 33, ist ein Hedonist mit Indianerhaut, die von Backstage-Schampus, Sexorgien, Meskalin und Sonnenuntergängen am Südseestrand kündet. Ein Weltmann hinter der Fassade des einstigen Revoluzzers. Beckenbauer hingegen, zwei Jahre jünger als der Rocker, noch ganz mit dem makellosen Antlitz des Sportsmanns aus Giesing. Er kennt die Welt bis jetzt nur durch die Stadien, in denen er gespielt hat. Seine Auster ist die Tangente zwischen Säbener Straße und Münchner Freiheit. Seine Laster: ein gelegentliches Weißbier, ein Schweinsbraten und eine scheue Schwäche für die Schwabinger Damenwelt, die er dem Vernehmen nach auch noch kurz vor Anpfiff auslebt. Von Pop-Art hat er keine Ahnung. Daheim hört er die Platten von Freddy Quinn. Der Lifestyle, auf den Jagger und sein Kumpel Keith Richards längst das Urheberrecht angemeldet haben – das gelobte Land von „Sex, Drugs & Rock ’n’ Roll“ – erscheint für den Bayern 1976 wie eine weit entfernte Galaxie.
Nur ein Jahr später hat sich die Welt des Fußballkaisers komplett gedreht. Er wohnt nun am Central Park in einem Wolkenkratzer. Mit seinem Nachbarn, dem Ballett-Tänzer Rudolf Nurejew, geht er regelmäßig essen und in die Oper. Dort hört er ergriffen die Stimmen von Placido Domingo und Luciano Pavarotti. Aus dem verschlafenen München ist er im Mai 1977 nach New York gekommen. Daheim mutmaßen die Medien über Steuerschulden in Millionenhöhe. Der Boulevard ergötzt sich an seiner außerehelichen Beziehung zur Journalistin Diane Sandmann. Er hat alles gewonnen, was ein deutscher Fußballer gewinnen kann, ist der meistfotografierte europäische Sportler, „die Mona Lisa des Fußballs“, wie André Heller verkündet. Ein Ästhet, ein Künstler, ein Coverboy. Es wird Zeit, dass er auch ein Mann von Welt wird.
Gelegenheit dazu gibt ihm einer, der es längst ist: Steve Ross ist der Chef von Warner Communications, einem der größten Medienkonzerne der Welt. Er steuert ein Imperium aus Plattenfirmen, Filmproduktionen, Computerspielunternehmen und TV-Kanälen. Kaum jemand auf der Welt weiß besser, wie das Showbusiness funktioniert. Sein Konzern hat Jahre zuvor die legendäre Plattenfirma Atlantic Records aufgekauft, deren Gründer Ahmet und Nesuhi Ertegün stilbildende Musiker wie John Coltrane, Led Zeppelin oder Crosby, Stills, Nash & Young entdeckt haben. Ross will die beiden Impresarios unbedingt im Unternehmen halten. Er ködert sie mit einem Wunsch, den sie bei ihm frei hätten. Die beiden Türken träumen davon, mit einem eigenen Fußballklub die Kicker-Diaspora der USA zu missionieren. 1971 kauft sich die erfolgsverwöhnte Trias aus Musikmanagern also ihr eigenes Soccer-Team. Ein Name für das Spielzeug ist schnell gefunden. Als Symbol des kulturellen New York fällt den Dreien das Opernhaus, die „Met“, ein. Doch was könnte größer als die New Yorker Metropolitan Opera sein? Klar, die New York Cosmopolitans!
Die »Cosmos«-Idee ist geboren. Kein Verein im herkömmlichen Sinne, der durch Nachwuchsarbeit oder sensibles Scouting die Identifikation bei der natürlich gewachsenen Fanschar steigert, sondern die kalkulierte Geschäftsidee von Leuten, die genau wissen, wie man aus begabten Musikern oder Schauspielern Popstars macht. New York Cosmos soll größer werden als alles, was das Showgeschäft bis dato hervorgebracht hat. Die ultimative Boygroup. Größer als das Leben selbst. Verwegener als die „Glorreichen Sieben“, cooler als das „Rat Pack“, charmanter als die „Fab Four“, unterhaltsamer als „Tick, Trick & Track“.
Doch das Konzept ist anfangs nur schwer an den Mann zu bringen. Cosmos ist bis 1975 nicht viel mehr als ein Team aus Studenten und Feierabendfußballern mit Turnschuhen auf einem knochentrockenen Rasenplatz auf einer ehemaligen Gefängnisinsel im East River. Randy Horton, der erste Goalgetter, arbeitet hauptamtlich im Warner Safari Park in New Jersey. Keeper Shep Messing bessert sein Gehalt auf, indem er sich im Erotikheftchen „Viva“ durchaus angeregt einem ansonsten weichzeichnenden Kameraobjektiv präsentiert. Obwohl Warner für seine Experiment jegliche Publicity gebrauchen kann, gefällt dem Konzern, der auch mit „Bugs Bunny“ Geld verdient, Messings schillernder Auftritt nicht.
1975 entscheidet Steve Ross, die Sache richtig anzupacken. Wenn sich die Euphorie um die neue Sportart nicht von allein einstellt, hilft man ihr eben mit der amerikanischen Methode auf die Sprünge. Wenn Cosmos keinen eigenen Helden hervorbringt, kauft man eben welche. Bei Warner stehen die größten Stars der Generation unter Vertrag: Robert Redford, Dustin Hofmann, Barbra Streisand, Aretha Franklin und auch die Rolling Stones. Da versteht es sich fast von selbst, dass sich der Konzern auf dem Transfermarkt auch nur nach weltumspannenden Marken umschaut.
Der Brasilianer Pelé unterhält schon damals eigene Produktlinien unter seinem Namen, mit dem sich Trikots, Parfüms und Schuhe verkaufen lassen. Pelé ist ein Nationalheiligtum in seiner Heimat, um ihn zu einem Wechsel ins Niemandsland des Fußballs zu bewegen, sendet US-Außenminister Henry Kissinger, ein emigrierter Fußballfan aus dem Frankenland, einen Bittbrief an die brasilianische Regierung, man solle Pelé als Fußballbotschafter ins Entwicklungsland im Norden ziehen lassen. Dort soll es ihm an nichts mangeln. Während die Topstars der Bundesliga etwa 300 000 Mark im Jahr verdienen, erhält der dreimalige Weltmeister aus Santos ein Gehalt von rund 12 Millionen Dollar für einen Drei-Jahres-Vertrag. Aus steuerlichen Gründen wird sein Arbeitsbereich im Warner-Medienunternehmen nicht nur unter dem Stichwort „Soccer“ geführt, sondern auf das Tätigkeitsfeld „Musikkünstler“ ausgedehnt. Wegen Pelés Popularität halten es die Medienmanager durchaus für denkbar, ihren teuren Einkauf auch mal als Bossa-Nova-Sänger oder für eine Nebenrolle in einem Warner-Film abzukommandieren.
Seine Ankunft im „Big Apple“ wird im edlen „21 Club“ wie der Showcase zu einer Plattenveröffentlichung zelebriert. Fahrstuhlmusik, Fingerfood, teures Eichenholz und Ledersessel. Pelé macht mit zwei Stunden Verspätung mehr als 300 Reportern seine Aufwartung. Während der Pressekonferenz kommt es zu Tumulten, weil ein Reporter den Warner-Bossen vorwirft, durch ihr millionenschweres Engagement im Fußball die Popularität des amerikanischsten aller Spiele, des Baseballs zu unterminieren. Etwas hysterisch, wenn man bedenkt, dass Pelé zum Tabellenletzten der North American Soccer League (NASL) wechselt. Immerhin, durch sein Kommen verdoppelt sich in der ersten Saison der Zuschauerschnitt bei Heimspielen von Cosmos auf knapp 10 000.
Ein Anfang. Doch für ein Team aus Superhelden reicht Brasiliens vom Altenteil zurückgekehrter Fußballkönig allein nicht aus. Der geschmeidige Sympath braucht einen knorrigen Gegenpart. Er bekommt ihn in Gestalt von Giorgio Chinaglia. Der Italiener ist mit 28 Jahren in der Blüte seiner Schaffenskraft. In Italien hat er Lazio im Sommer 1974 zur lang ersehnten Meisterschaft geschossen. Die Roma-Anhänger hassen den zwielichtigen Angreifer mit der Knollennase derart, dass Chinaglia sich zeitweise nur noch mit Waffe auf die Straßen der italienischen Hauptstadt traut. Mit seiner US-amerikanischen Ehefrau packt er die Koffer und sucht in der neuen Welt sein Glück. Er ist die ideale Besetzung für den Bösewicht in der Cosmos-Seifenoper. Wenn er in das Kunstrasenstadion einläuft, wirkt er wie Robert de Niro in Scorseses „Raging Bull“. Chinaglia fightet um jeden Ball, fordert und dirigiert. Selbst Pelé, dessen begnadete Aura den Heißblüter per se schon eifersüchtig macht, maßregelt er vor versammelter Mannschaft, er solle mehr abspielen. Als sich der Halbgott wehrt – „Giorgio, du schießt zu oft aus spitzem Winkel“ – blickt ihn der Italiener nur kalt lächelnd an und sagt: „Wenn Chinaglia aus spitzem Winkel schießt, kann Chinaglia auch treffen.“
Obwohl Steve Ross einen Narren am exzentrischen Leitwolf gefressen hat, ignoriert er Chinaglias Beschwerde, Cosmos bräuchte keinen Franz Beckenbauer, um die Meisterschaft zu gewinnen. Im Frühling 1977 reist der Münchner Libero erstmals zu Gesprächen an die Ostküste. Warner spielt inzwischen auf der ganz großen PR-Klaviatur. New York Cosmos ist ins monumentale Giants-Stadion umgezogen. Beckenbauer wird in der Stretchlimousine vom JFK-Flughafen abgeholt. Die Bosse präsentieren ihm eine ganze Etage im 21. Stock des „Navarro“-Apartmenttowers am südlichen Ende des Central Parks als zukünftige Bleibe. Dann verfrachten sie den Kaiser in einen Helikopter, der vom Dach des PanAm Buildings in Manhattan abhebt. Rockefeller Center, Twin Towers, Empire State Building. Der Rundflug über die Stadt erstickt alle Zweifel, in die von DFB-Präsident Hermann Neuberger als „Operettenliga“ gebrandmarkte NASL zu wechseln. Als der Hubschrauber über dem Football-Stadion in New Jersey kreist, gibt sich der Bayer den Warner-Leuten geschlagen: „Also gut, hört’s auf, ich komme!“
Der Tag seiner Vertragsunterzeichnung fällt in die Wochen der Eröffnung des legendären Tanzpalastes „Studio 54“ am 26. April 1977. Die Disko liegt nur wenige Gehminuten von Beckenbauers neuem Zuhause entfernt. Steve Ross sorgt mit seinen Kontakten dafür, dass sich ständig Popstars auf der Tribüne und in den neuartigen VIP-Logen des Giants Stadiums bei den Cosmos-Spielen tummeln. Vor allem dann, wenn sie neue Filme oder Platten zu promoten haben. Nach Abpfiff schlürfen Barbra Streisand, Phil Collins, Muhammad Ali, Quincy Jones oder Steven Spielberg in der Spielerkabine Dom Perignon mit den Aktiven. Eines Tages, als Beckenbauer aus der Dusche kommt, trifft er dort auch einen alten Bekannten wieder: Mick Jagger.
Der Flirt der Künstler mit den Kickern geht jeden Montagabend im »Studio 54« weiter. Dort haben die Cosmos-Spieler ihren Tisch. Den Soundtrack zu diesen Nächten schreibt ein Exil-Münchner: Giorgio Moroder ist Produzent der Discogöttin Donna Summer, die mit ihren gestöhnten Hymnen „Love to Love You Baby“ und „I Feel Love“ das Lebensgefühl für den Klub an der 54th Street West eingefangen hat. „Studio 54“-Besitzer Steve Rubell kultiviert das Prinzip der härtesten Tür der Welt – ein Stilmittel, das bald überall Nachahmer finden soll, auch im verschlafenen München, wo sich das „P1“ bis heute als leicht spießiger Abklatsch des New Yorker Sündenpfuhls positioniert. Rubell steht auf einem Hydranten vor dem Eingang, blickt in die Menschenmenge hinter den Pollern mit dem Seidenband und wählt in einer fast spirituellen Prozession aus, wer hinein darf und wer nicht. „I am with the Cosmos“ sind in diesem flirrenden Sommer 1977, in dem das Starensemble im letzten Spiel von Pelé den Meistertitel gewinnt, fünf magische Worte, um den exklusiven Zutritt zu erlangen.
Am Spielerstammtisch auf der Galerie fließt der Champagner in Strömen, während das Stroboskop die Tanzfläche in ein fiebriges Licht taucht. Während auf dem blinkenden Dancefloor das Discoinferno losbricht, wird von der Decke ein Halbmond mit einem großen Löffel heruntergelassen. In den dunklen Ecken der früheren Theaterloge kommt sich die illustre Gesellschaft, bestehend aus Transvestiten, Künstlern, Popstars und Fußballern, näher. Die Szenerie erinnert an die Gemälde von Hieronymus Bosch. „Pornos waren Kinderkram gegen das“, wird Chinaglia später sagen, „was im ‚Studio 54’ lief, wenn wir dort waren.“ Nackte Kellner mixen Cocktails. Grace Jones reitet auf einem Schimmel. Dazwischen Chinaglia und Pelé mit zwei Blondinen an jedem Arm, beide tragen Tunika wie römische Imperatoren, sie lassen sich Trauben in den Mund fallen. Dann springt Pelé auf die Tanzfläche und schwingt umringt von Models und Dragqueens die sambaerprobten Hüften. Und Franz Beckenbauer sitzt mit einem Drink in der Hand in einer Ecke. „Von einer ganz beschaulichen in eine verrückte Welt,“ sagt er. „Für mich war New York die schönste Zeit in meinem Leben.“
Bei den nächtlichen Ausflügen lernen die Spieler auch Pop-Art-Künstler Andy Warhol kennen, der mit seiner Entourage Stammgast im „Studio 54“ ist. Warhol ist fasziniert von der Transformation der Fußballer, die nichts vorgeben müssen, um vom Sternenstaub erfasst zu werden. Allein ihre Fähigkeiten auf dem Rasen machen aus den Kickern historische Gestalten. Warhol ist berauscht. »Pelé ist einer der wenigen, die meine Theorie widerlegen«, gibt er zu, »statt 15 Minuten Ruhm sind ihm 15 Jahrhunderte vorbehalten.« Im Siebdruckverfahren verfremdet er im Sommer 1977 Fotografien von Pelé und Beckenbauer und verarbeitet die Profis zu Kunst. Auch sein Nachbar Nurejew hat einen Narren am Kaiser gefressen. Regelmäßig lädt er ihn ins „Riverside Café“ nach Brooklyn zum Essen ein. Eines Tages berührt er beim Dessert beiläufig des Kaisers Knie. Doch Beckenbauer wehrt den Annäherungsversuch mit seinem unnachahmlichen Charme ab: „Rudi, ich bin von der anderen Fakultät.“
In den Folgejahren werden immer mehr Spieler aus den internationalen Top-Ligen Teil von Cosmos: Carlos Alberto, Johan Neeskens, Wim Rijsbergen, sogar Johan Cruyff läuft mal kurz im Trikot der Auserwählten auf. 1980 übernimmt Hennes Weisweiler für ein Jahr das Traineramt. Cosmos wird zu einer Art Raumschiff Enterprise des Weltfußballs, zwischenzeitlich verfügt der Kader über Spieler aus 16 unterschiedlichen Nationen. Der Klub geht im Warner-Jet wie eine Rockgruppe auf Europatournee. Weil einige Spieler hoch über den Wolken Sex mit Stewardessen haben, gibt es in der US-amerikanischen Presse einen Aufschrei. Aber wen schert’s? Cosmos ist kein puritanisches Sportteam, sondern in den ausgehenden Siebzigern eine Supergroup der Popwelt. Der Zuschauerschnitt im Giants Stadium liegt 1978 und ’79 bei fast 50 000.
Steve Ross und seinen Mitstreitern gelingt es 1980 sogar, dem landesweiten Sender ABC die Übertragungsrechte für die NASL unterzujubeln. Pelé und Beckenbauer sind zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr im Team. Doch als Massenphänomen scheitert das Unternehmen „Soccer“ kläglich. Mit einem Marktanteil von nur 2,7 Prozent wird Fußball nach nur einer Spielzeit wieder aus dem Programm bugsiert. Die größte Show der Welt, die die Initiatoren versprochen haben, fällt ansatzlos beim Konsumenten durch. Wie eine Boygroup, die nach wenigen Jahren an den Marotten der Mitglieder, dem Wahnsinn des Tourlebens und der Eintönigkeit der Popularität zugrunde geht, entpuppen sich auch die Stars von New York Cosmos als Künstler mit einem überschaubaren Repertoire. Nach fünf Meistertiteln stellt der Klub, als wäre er ein gefallenes One-Hit-Wonder, fast unbeachtet von der Öffentlichkeit 1985 den Spielbetrieb ein. Nicht einen Cent hat Warner mit seiner Marketingidee verdient. „Für einige Momente wollte uns jeder“, bilanziert Cosmos-Keeper Shep Messing, „dann kam schon das nächste große Dinge um die Ecke.“
Nur wenige Monate später schließt auch das »Studio 54« für immer seine Pforten.