Dieser Mann hat schon alles gesehen: Rudi Gutendorf. Für uns schreibt er über seine verrücktesten Erlebnisse. Heute: Wie er beinahe Chinas Nationalteam zu Olympia 1992 geführt hätte – und wie ihn eine Szene zum Helden machte.
Offiziell werde ich von dem Chinesischen Fußballverband als „Technical Advisor“ bezeichnet, als Berater. Trotzdem weiß jeder, dass es meine Aufgabe ist, die Nationalmannschaft auf die entscheidenden Spiele der Asiengruppe vorzubereiten. Auf Wunsch der Chinesen ist im Auswärtigen Amt in Bonn vereinbart worden, den amtierenden chinesischen Trainer im Vordergrund arbeiten zu lassen. Außerdem soll ich mich in der Öffentlichkeit zurückhalten, was mir ehrlich gesagt nicht leicht fällt. Es ist eben in China wie überall anders: Verständlicherweise ist man besonders stolz, wenn im Erfolgsfall der eigene Trainer das Lob abbekommt. Da aber der chinesische Nationaltrainer, wie ich sehe, ein Schinder ist und die Spieler konditionell kaputt trainiert, muss ich die Sache selbst in die Hand nehmen, was dem Kollegen letztlich ganz recht ist. Damit hat er die Verantwortung, das heißt die Sorge sein Gesicht zu verlieren, erst mal abgegeben.
„Rudi, mach’s halblang!“
Ein knappes halbes Jahr trainiere ich die Nationalspieler aus dem Reich der Mitte. Besser gesagt: Ich trainiere sie à la deutsche Bundesliga und habe Erfolg. Die Mannschaft führt in der Ostasiengruppe mit 15:1 Punkten und einem Weltrekordtorverhältnis von sage und schreibe 52:1 Toren aus acht Spielen. Punkte- und Torlieferanten sind auch die beiden von deutschen Trainern gecoachten Nationalteams von Nepal (Holger Obermann) und Nordkorea mit Pal Cernai, dem ehemaligen Trainer von Bayern München. Als meine Chinesen die Malediven mit 14:0 wegputzen, kommt Holger Obermann am Vorabend des Spiels gegen Nepal zu mir ins Hotel: „Rudi, mach’s halblang!“ Ich verspreche es ihm. Wir schlagen seine junge Truppe lediglich mit 12:0. Obermann ist nicht nur Trainer, er hilft, wo es nötig ist. Was mir imponiert, ist, dass er bei jeder Verletzung eines seiner Spieler mit einem schweren Sanitätskoffer in der einen Hand und mit einem Eisbeutel in der anderen auf den Platz rennt, um zu helfen. In jedem Spiel mindestens zehn- bis fünfzehnmal. Als ich ihn frage, wieso er als Nationaltrainer zum Dauerläufer geworden sei, antwortet er etwas traurig: „Ich habe weder Masseur noch Arzt, ich muss alles allein machen.“
Da bin ich in China besser dran. Beim Rückspiel in Peking gibt die Deutsche Botschaft, die uns bemerkenswert gut betreut, für uns zwei deutsche Trainer eine Geburtstagsparty. So unglaublich es klingen mag: Obermann und ich haben tatsächlich am gleichen Tag Geburtstag. Ein unvergesslicher Ehrentag: Wir schlagen im ausverkauften Volksstadion Cernais nordkoreanische Mannschaft 1:0 und qualifizieren uns für die letzten sechs Nationalmannschaften von 36 asiatischen Nationen. Es ist das erste Mal, dass China gegen den sozialistischen Bruderstaat gewinnt. Mein Riegel hat mal wieder dichtgehalten. Pal Cernai hat Tränen in den Augen und verkriecht sich nach dem Schlusspfiff. Ich werde von meinen jubelnden Spielern zu Boden gerissen und liege minutenlang unter einer Menschentraube. Das Stadion steht Kopf, ich werde von einer Menschenmasse gefeiert wie zuvor in keinem anderen Stadion der Welt. Da sage noch einer, die Chinesen seien zurückhaltend und könnten ihre Emotionen besser kontrollieren als die Europäer! Die Deutsche Botschaft und die deutsche Kolonie in Peking haben noch lange gerätselt, weshalb ich in diesem Riesenreich zu solch großer Popularität gekommen bin.