Dank Hansi Flick spielt der FC Bayern so unwiderstehlich wie lange nicht mehr und feiert seine achte Meisterschaft in Folge. Der Coach galt lange als Übergangslösung. Doch nach dem Titegewinn könnte er der Mann sein, der das Team des Rekordmeisters in ein neues Zeitalter führt. Und womöglich auch zu einem erneuten Triple?
Flick ist der fleischgewordene Gegenentwurf zur „großen Lösung“, die auf der Bayern-Bank immer wieder angestrebt wird. Er ist kein Trainerfürst wie Van Gaal oder Guardiola, mit denen sich der Klub nicht nur Fachkenntnis erkaufte, sondern auch den Sternenstaub von bergeweise gewonnenen Titeln. Typen also, mit denen Uli Hoeneß und Kalle Rummenigge das latente Gefühl von Minderwertigkeit kompensierten, weil ihnen ein vermeintlicher Welttrainer das Gefühl gab, der FCB befände sich auf Augenhöhe mit deren vorhergehenden Arbeitgebern.
Hansi Flick fehlt auf den ersten Blick dieses Renommee. Die Aura, die einen Coach umgibt, der große Finals gespielt und Trophäen in den Nachhimmel gestemmt hat. Flick ist der Mann aus dem Halbschatten. Einer, der dabei war, als sich die DFB-Elf 2010 in Südafrika weltweit in die Herzen der Fans spielte und 2014 in Rio souverän den Titel gewann, aber nie mittendrin. Der seine Impulse im Verborgenen setzte, nie ein schlechtes Wort über den Verband verlor, dem er diente, oder seinen Chef, Jogi Löw. Er wusste, welchen Anteil er an den Erfolgen hat, behielt es für sich und konnte gut damit leben.
Im Fußballbusiness ist so eine uneigennützige Denke selten. Deshalb hat sich herumgesprochen: Auf Leute wie Flick kann man sich verlassen. Wie sehr, das muss in den vergangenen Monaten auch der Führungscrew des FC Bayern aufgegangen sein. Lange zierten sich die Bosse, den Vertrag des Übergangscoachs in ein vollwertiges Arbeitsverhältnis umzuwidmen. Doch zuletzt gingen selbst unverbesserlichen Kritikern die Argumente aus, so zielstrebig, gewissenhaft, tja, ultracool eilten die Bayern unter Flicks Leitung von Erfolg zu Erfolg.
Le Flick C’est Chic. Die Dominanz ist so erdrückend, dass nach dem Crunchtime-Sieg gegen Borussia Mönchengladbach einige Sportreporter bereits das untote Klischee vom „Bayern-Dusel“ vom Phrasenfriedhof holten. Dabei sollten auch arge Kritiker erkannt haben, dass die Siegesserie des FCB in der Rückrunde nicht auf Glück fußt, sondern auf nachhaltiger Arbeit. Hansi Flick hat es geschafft, der leistungsgetriebenen Zweckgemeinschaft des Bayern-Kaders eine große Prise Harmonie beizumischen. Boateng knüpft an alte Spielstärke an. Müller zeigt, dass er auch jenseits der dreißig nicht zu alt ist, um die Liga mit seinem unnachahmlichen Frechdachs-Stil zu begeistern. Joshua Zirkzee ist mit 19 bereits eine echte Alternative im Angriff. Leon Goretzka und Joshua Kimmich mausern sich zu veritablen Weltstars. Und Lewandowski trifft, trifft und trifft.
Viele der Eigenschaften, die hier Flick zugeschrieben werden, ließen sich auch auf Jupp Heynckes übertragen. Auch er war bei den Bayern in seinen späten Jahren nur eine Notlösung. Nach dem Triple 2013 entschied der Klub sogar von sich aus, Heynckes Vertrag nicht zu verlängern und stattdessen mit Guardiolas Verpflichtung einen Neuanfang zu starten. Als der Katalane weg war und Ancelotti gescheitert, holten sie den Alten dann reuig zurück, weil sie wussten: Er weiß, wie man ein Starensemble führt.
Auch jetzt war man sich in der Führung offenbar lange uneins, ob der nette Herr Flick mit seinem Image irgendwo zwischen fleißigem Bienchen und Flipchart-Stratege die Ideallösung für den FC Bayern der Zukunft sei. Doch es hat ein Umdenken eingesetzt: Die Bosse haben wohl endlich verstanden, dass sich die Wahrnehmung als Weltklub auch auf der Bank über Charaktere definiert, die dem Verein ein unverwechselbares Gesicht geben. So wie es in der Chefetage des FCB seit Jahrzehnte Usus ist.
Ende April wurde Flicks Vertrag bis zum Sommer 2023 verlängert. Die Entscheidung ist ein Befreiungsschlag. Zeigt dieses langfristige Bekenntnis doch, dass der Klub als Lokomotive der Bundesliga, als deutscher Weltmarkführer, diesem Selbstverständnis nun auch bei der Wahl seines sportlichen Leiters entsprechen will: Die Bayern vertrauen einem Trainer, der dem Verein nicht durch die Orden Glanz verleiht, die ihm am Revers heften, sondern durch die Arbeit, die er leistet, das bescheidene Auftreten und – last but not least – die sportlichen Erfolge.
Nach dem Abgang von Hoeneß und dem bevorstehenden Ausscheiden von Kalle Rummenigge steht der Klub vor dem größten Strukturwandel seiner Geschichte. Mit Oliver Kahn wurde die Position des Sportvorstands bereits adäquat besetzt. Mit einem Mann, der das „Mia-San-Mia“-Gefühl allein Kraft seines überbordenden Selbstbewusstseins mit jeder Pore seines Körpers personifiziert. Einer der gleichermaßen für Erfolgswillen und unbedingte Solidarität mit dem Klub steht. Eigenschaften, die sich eins zu eins auch auf Hansi Flick übertragen lassen. Allerdings sorgt der Coach in dem veränderten Führungscocktail des FCB für eine etwas andere, nicht ganz so scharfe Note wie Kahn. Er könnte der Mosaikstein sein, der in der neuen Hierarchie noch fehlte, um den Klub zukünftig im Weltfußball zu einer noch gewichtigeren Größen zu machen.
Flick wird nach dem Gewinn des Titels sicher Besseres zu tun haben, als über seine längst verjährte Entlassung in Hoffenheim nachzudenken. Der FC Bayern jedoch kann sich glücklich schätzen, dass die Verantwortlichen der TSG im Jahr 2005 irgendwann am Ende ihrer Geduld angelangt waren.